Sprachenvielfalt in Europa: Herausforderung oder Hemmschuh?

Der Turm zu Babel ist in der Europäischen Union Realität geworden. Mit dem Beitritt von zehn Ländern am 1. Mai dieses Jahres wurde er abermals um ein paar Stockwerke höher. Dass aber statt der biblischen Sprachverwirrung Verständigung statt findet, dafür sorgen rund 4000 professionelle Übersetzer und Dolmetscher, die alltäglich Vorträge, Gesetze und Dokumente in die 20 Amtssprachen der EU übertragen. Wie gut sich aber die einzelnen EU-Bürger in einer oder mehreren Fremdsprachen unterhalten können, ist von Land zu Land sehr verschieden. Über den Stand der Sprachausbildung und -beherrschung in der EU und insbesondere in Tschechien informiert Sie Sandra Dudek:

Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag
"Pivo" ist bei Tschechien-Touristen nicht nur das bekannteste, sondern wohl auch das am häufigsten verwendete tschechische Wort. "Bitte" und "Danke" dagegen hört man, wenn auch immer seltener, so doch noch auf Deutsch und vermehrt auf Englisch. Grund dafür ist nicht nur der Zustrom der Touristen aus aller Welt, sondern auch der Stellenwert, den die englische Sprache mittlerweile selbstverständlich als Kommunikationsmittel eingenommen hat. Dazu Cornelia Horn, Projektleiterin der Sprachenmesse Expolingua, die letzten Freitag und Samstag in Prag statt gefunden hat:

"Ich denke, dass das Englische immer wichtiger wird, weil es inzwischen unsere Lingua franca ist, die Sprache, in der wir kommunizieren, wenn wir nicht unsere eigene benutzen und uns in einer multilingualen, multikulturellen Gesellschaft bewegen."

Multikulturell und vor allem multilingual ist sie, die europäische Gesellschaft: 20 Amtssprachen gibt es in der Europäischen Union. Und nach den momentanen Bestimmungen für Sprachengleichheit müssen alle offiziellen Dokumente in diesen Sprachen veröffentlicht werden. Nicht zuletzt die mittlerweile 380 Kombinationsmöglichkeiten dieser Sprachen haben zu einem Rückstand von rund 60.000 zu übersetzenden Seiten geführt. Tendenz stark steigend.

Eine Lösung wäre die Einführung einer europaweit geltenden Verkehrssprache. Oder, im Sinne der Erhaltung der Sprachenvielfalt, eine bessere Sprachausbildung. Jedoch gibt es bisher kein europaweites Gesamtkonzept sprachlicher Bildung, allein im Juli 2003 wurde von der Europäischen Kommission ein Aktionsplan zur Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt ausgearbeitet, der unter anderem die - sehr allgemein formulierte - Qualitätssteigerung des Fremdsprachenunterrichts auf allen Stufen zum Ziel hat. Dies ist auch dringend notwendig, denn nur rund die Hälfte der europäischen Bürger können sich in einer anderen als der eigenen Muttersprache unterhalten. Während in Luxemburg, Schweden, Dänemark und den Niederlanden fast alle Bürger zumindest eine Fremdsprache sprechen, verfügen jene Großbritanniens, Irlands und Portugals über die geringsten Sprachkenntnisse: Hier kann sich lediglich ein Drittel der Bevölkerung in einer Fremdsprache verständigen. In der Tschechischen Republik hat sich das Bewusstsein für die Bedeutung von Fremdsprachenkenntnissen in den letzten 15 Jahren stark geändert, so Petr Svoboda, Konzeptleiter der Sprachschule ars Linguarum:

"Zu Beginn der 90er Jahre war das Interesse an Sprache minimal, mit fortschreitender Zeit und vor allem nach dem Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union, aber auch schon vorher, haben die Leute begonnen, sich dessen bewusst zu werden, vor allem die jungen, dass man ohne Sprachkenntnisse in der Welt einfach verloren geht. Wenn jemand keine zweite oder dritte Sprache beherrscht, dann ist das so, als ob er nicht leben würde."

Im Tschechischen gibt es für die Notwendigkeit des Fremdsprachenerwerbs sogar ein eigenes Sprichwort: "Wie viele Sprachen du beherrschst, so viel bist du Mensch!". Trotzdem liegt die hiesige Sprachausbildung in Prozent bemessen derzeit noch unter dem EU-Schnitt: Während europaweit der Fremdsprachenunterricht zehn Prozent des gesamten Bildungsgangs, also Primar- und Sekundarstufe zusammen gerechnet, ausmacht, sind es in Tschechien rund acht Prozent. Betrachtet man nur den Grundschulbereich, so gehört Tschechien zu den Schlusslichtern: Lediglich fünf Prozent des Unterrichts fallen auf den Erwerb von Fremdsprachen. Grund dafür ist, dass die tschechischen Kinder erst mit zehn Jahren beginnen, eine Fremdsprache zu lernen. Näheres zur Sprachausbildung an tschechischen Schulen von Pavel Zdarsky, stellvertretender Pressesprecher des Instituts für Bildungsinformation:

Sprachstudenten
"Ab dem vierten Jahr der Grundschule wird mindestens drei Stunden pro Woche eine Fremdsprache unterrichtet und das kann Englisch sein oder Deutsch. Und dann gibt es ab dem siebten Jahr als Wahlfach eine weitere Fremdsprache und da ist Englisch dann nur in dem Fall wählbar, wenn es noch nicht ab der vierten Klasse unterrichtet worden ist. Dann gibt es noch die Möglichkeit, nicht verpflichtende Kurse zu besuchen, wo die einzige Bedingung ist, dass die Lehrer dieser nicht verpflichtenden Fächer die Voraussetzungen für die fachliche und pädagogische Eignung erfüllen."

Englisch und Deutsch sind also die am häufigsten unterrichteten Fremdsprachen an tschechischen Schulen, mit großem Abstand gefolgt von Französisch und Russisch. Die Gewichtung hat sich in den letzten zehn Jahren allerdings stark verändert: 1995 lernten noch in etwa gleich viele Grundschüler Englisch und Deutsch. Im laufenden Schuljahr ist die Zahl der Schüler, die Englisch lernen, fast doppelt so hoch wie 1995, während die Zahl der Schüler, die Deutsch lernen, um ein Drittel gesunken ist. Pavel Zdarsky vom Institut für Bildungsinformation zum Stellenwert der englischen Sprache in Tschechien:

"Dieser Trend geht aus den Statistiken klar hervor. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass die junge Generation in größerem Ausmaß mit der Entwicklung der Informationstechnologie verbunden ist und in diesem Bereich dominiert eben die englische Sprache und wahrscheinlich hängt das dann auch mit diesem Phänomen zusammen. Die Entwicklung sollte in weiterer Zukunft nicht mehr so dramatisch sein, wenn auch Englisch wahrscheinlich die dominante Stellung über der deutschen Sprache halten wird, aber sowohl die englische als auch die deutsche Sprache gehören bereits ab der Grundschule, ab dem vierten Jahr der Grundschule zu den Pflichtfächern."

Dass in Tschechien weniger Interesse an einer Sprachenvielfalt als an einem großen Angebot zum Erwerb der englischen Sprache besteht, ist auch an den Ausstellern der Expolingua zu sehen: Während in Berlin über 20 Länder ausstellen, waren es in Prag nur 13. Cornelia Horn, Projektleiterin der Sprachenmesse Expolingua, sieht die starke Nachfrage nach Englisch in Tschechien im globalen Kontext:

"Die Tschechen folgen damit, denk ich, einem Trend, der auch weltweit wahrscheinlich noch stärker ist als in Europa, weil in Europa doch eher noch die Nachbarsprache gelernt wird. Die Franzosen zum Beispiel im Süden lernen ja auch gerne Spanisch oder einige sogar zum Glück auch noch Deutsch. Für die meisten ist es allerdings so, dass Englisch die erste Fremdsprache ist."

EU-weit nimmt Englisch mit Abstand den ersten Platz im Fremdsprachenunterricht ein: Fast 90 Prozent aller Schüler in der Europäischen Union lernen Englisch. Tschechien liegt mit rund 80 Prozent knapp unter dem EU-Schnitt. Größere Unterschiede gibt es bei der zweiten Fremdsprache: In den alten EU-Ländern wird Französisch bevorzugt, in den Staaten Mittel- und Osteuropas nach wie vor Deutsch. In Tschechien lernen 60 Prozent aller Schüler in der Sekundarstufe Deutsch. Auf universitärer Ebene ist aber gerade bei den Deutsch-Studierenden ein Rückgang zu verzeichnen. Jedoch ist zu erwarten, dass sich die Nachfrage einpendeln wird, zumal die Deutsch-Studierenden ja auch - nicht nur geographische - Vorteile haben. Dazu Cornelia Horn von der Expolingua:

"Ich denke, dass das Interesse, auch wenn es kleiner geworden ist, trotzdem noch relativ groß ist in Tschechien, auch wieder die Nachbarsprache zu lernen, da die deutschen Universitäten mit der Öffnung zur EU natürlich auch attraktiver geworden sind für die Tschechen. Es ist einfacher inzwischen, an einer Universität in Deutschland zu studieren und dazu braucht man natürlich die deutsche Sprache, da viele Kurse noch auf Deutsch abgehalten werden und englischsprachige Kurse an deutschen Universitäten eher die Seltenheit sind."

Englischsprachige Kurse an Universitäten, Englisch als Verständigungsmittel für Menschen nicht englischer Muttersprache: Früher oder später wird sich Englisch wohl auch als offizielle Verkehrssprache in der EU durchsetzen. Und damit Papierberge von zu übersetzenden Seiten sparen. Eine fundierte Sprachausbildung schadet dennoch niemandem, denn: "Wie viele Sprachen du beherrschst, so viel bist du Mensch!".





Folgende Hinweise bringen Ihnen noch mehr Informationen über den Integrationsprozess Tschechiens in die Europäische Union:



www.integrace.cz - Integrace - Zeitschrift für europäische Studien und den Osterweiterungsprozess der Europäischen Union

www.euroskop.cz

www.evropska-unie.cz/eng/

www.euractiv.com - EU News, Policy Positions and EU Actors online

www.auswaertiges-amt.de - Auswärtiges Amt