Pflicht oder nicht? Tschechien plant, zweite Fremdsprache zum Wahlfach zu machen
Das tschechische Bildungsministerium arbeitet an einer umfassenden Reform des sogenannten Rahmenprogramms zum Unterricht in den Grundschulen. Diese sieht unter anderem vor, dass die zweite Fremdsprache in den Klassenstufen acht und neun nicht mehr Pflicht sein soll, sondern ein Wahlfach. Auch wenn die Reform noch in der Planungsphase ist, stößt sie schon jetzt auf Kritik. So haben Fremdsprachenpädagogen eine Unterschriftensammlung durchgeführt, die für die Beibehaltung des Pflichtunterrichts wirbt. Diese wurde auch von den wichtigsten Institutionen der tschechisch-deutschen Zusammenarbeit unterstützt.
Seit 2013 ist eine zweite Fremdsprache für die älteren Schüler der tschechischen Grundschulen Pflicht. Diese Schulform umfasst im hiesigen System insgesamt neun Jahrgänge. Die aktuelle Regelung besagt, dass die zweite Fremdsprache spätestens ab der achten Klasse verpflichtend gelehrt werden muss.
Dies soll sich ab 2024 wieder ändern. Obligatorisch soll dann nur noch die erste Fremdsprache sein, jede weitere soll als Wahlfach gelten. Die 18-köpfige Expertengruppe, die diesen Vorschlag für das Bildungsministerium erarbeitet hat, begründet ihn mit einer Überlastung der Schüler. Ressortchef Petr Gazdík (Bürgermeisterpartei Stan) erläuterte dies in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks:
„Die internationalen Pisa-Tests belegen klar, dass ein bedeutsamer Teil der Schüler von Grundschulen, nämlich 20 Prozent, nicht einmal die eigene Muttersprache auf einem ausreichenden Niveau beherrscht. Jenen, die eine zweite Fremdsprache lernen, bietet die derzeitige Unterrichtsform keine Möglichkeit, ihre Kenntnisse umfassend zu entwickeln.“
Der zukünftige Unterricht soll sich dem Entwurf nach an den Talenten und Bedürfnissen der Schüler ausrichten und für mehr Lernerfolge sorgen. Dies gilt nicht nur für den Sprachunterricht. Zur Revision steht der gesamte Lehrplan. Am Freitag vergangener Woche endete die einmonatige Frist für Anmerkungen aus der Öffentlichkeit. Etwa 500 Eingaben sind beim Ministerium eingegangen. Wie der Leiter der Expertengruppe, Jan Jiterský, mitteilte, beziehen sich die häufigsten Änderungsvorschläge aber eben auf die angedachte Wahlfreiheit der zweiten Fremdsprache.
Zusätzlich hat die Petition der Fremdsprachenpädagogen von der Karlsuniversität bis vergangenen Mittwoch 2400 Unterschriften zusammengetragen. Tomáš Klinka, Leiter des Lehrstuhls für Französisch und Literatur, sagte dazu auf der Pressekonferenz:
„Das Bildungsministerium argumentiert, dass die Wahlfreiheit es begabteren Schülern ermöglicht, weiter Sprachen zu lernen. Weniger begabte Schüler suchen sich stattdessen ein anderes Fach aus. Wir haben es hier mit der falschen Annahme zu tun, dass bei zehn- bis zwölfjährigen Kindern schon das Sprachtalent bestimmt werden kann. Die Fächerwahl wird dann vielmehr von den Wünschen der Schulleitung oder der sozioökonomischen Lage der Eltern gelenkt. Dies befördert noch zusätzlich das sowieso schon deutliche Auseinandergehen der sozialen Schere zwischen den Bevölkerungsgruppen Tschechiens. Und Ungleichheit ist eben eines der Hauptprobleme des tschechischen Bildungssystems.“
"Wahlfreiheit wird sich zuungunsten des Deutschunterrichts auswirken"
Unterstützt hat die Petition unter anderem der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds. Leiter Tomáš Jelínek begründete gegenüber Radio Prag International, dass sich die mögliche Abschaffung des Pflichtunterrichts nicht nur innergesellschaftlich, sondern auch grenzüberschreitend auswirke:
„Wir halten dies grundsätzlich für einen Schritt in die falsche Richtung. Ich würde sagen, es ist ein Schritt in die Vergangenheit. Denn wir sind davon überzeugt, dass für eine Gesellschaft von der Größe der tschechischen zwei Fremdsprachen einfach zur Grundausbildung gehören.“
Als erste Fremdsprache wird in Tschechien zumeist Englisch unterrichtet. Hinsichtlich der zweiten Fremdsprache nimmt Jelínek die tschechisch-deutsche Nachbarschaft in den Blick:
„Wenn wir konkret über Deutsch reden, muss man bedenken, dass sich dieser Plan auch zuungunsten der Nachbarsprachen auswirkt. Dabei ist Deutsch zahlenmäßig die wichtigste. Wir haben im vergangenen Jahr eine Umfrage im Grenzgebiet durchgeführt. Danach ist die Sprachbarriere selbstverständlich eines der größten Hindernisse, die überwunden werden müssen, um ein besseres Zusammenwachsen der Regionen zu ermöglichen. Es geht aber auch darum, dass die Kenntnis der Nachbarsprache das eigene Leben interessanter macht. Dadurch kann man von Angeboten auf der anderen Seite der Grenze Gebrauch machen.“
Urlaub, Einkauf, Freundschaften – alles wird leichter, wenn man zumindest grundlegende Sprachkenntnisse im Nachbarland hat. Aber es gibt noch einen weiteren wichtigen Aspekt. Diesen benennt Bernard Bauer, Chef der Deutsch-Tschechischen Industrie- und Handelskammer (DTIHK):
„Wenn wir uns die deutsch-tschechischen Wirtschaftsbeziehungen anschauen, dann sehen wir, wie wichtig diese eigentlich sind – wie viele Unternehmen aus Deutschland hierzulande investieren und wie viele Menschen am Standort Tschechien beschäftigt werden. Dies sind immerhin 4000 deutsche Firmen mit rund 450.000 Mitarbeitern. Und heute sind nicht nur technische Skills notwendig, sondern auch Softskills wie Kommunikation und Sprache. Fremdsprachen sind in den Unternehmen sehr wichtig.“
Auch die Deutsch-Tschechische Industrie- und Handelskammer hat die Petition zum Erhalt der verpflichtenden zweiten Fremdsprache unterstützt. Gemeinsam mit der deutschen Botschaft sowie dem Goethe-Institut in Prag wurde zudem eine entsprechende Stellungnahme herausgegeben. Warum gerade diese Initiativen auf das Streitthema „Pflicht oder nicht“ reagieren, erklärt Tomáš Jelínek:
„Deutsch würde unter diesem Schritt am meisten leiden. Damit meine ich die Zahl der Schüler, weil Deutsch im Moment die Nummer eins ist unter den zweiten Fremdsprachen in Tschechien.“
"Begründung: Schüler sind überlastet"
Auch Bernard Bauer erwartet, dass bei der Umwandlung zum Wahlfach viele junge Tschechen sich eher für eine attraktivere Sprache wie etwa Spanisch oder Italienisch entscheiden werden. Schließlich sei Deutsch ziemlich schwierig – was wiederum eine Grundbildung in der Schule erforderlich mache, so der DTIHK-Chef.
Aber auch diese anderen Sprachen könnten unter einer Abschaffung des Pflichtunterrichtes leiden. Denn nach den Vorschlägen der Expertengruppe kann ein Schüler, dem Sprachen schlicht nicht liegen, die Unterrichtszeit mit einem anderen Fach füllen. Belegt wird die Annahme, dass die Jugendlichen durch die zweite obligatorische Sprache überlastet seien, freilich nicht. Seit die Pflicht 2013 eingeführt wurde, haben keine Erhebungen zur Effektivität stattgefunden. Erschwert werden sollten die Bedingungen für eine zweite Fremdsprache durch die Wahlfreiheit jedoch nicht, ließ Projektleiter Jiterský gegenüber der Presseagentur ČTK verlauten.
Daten gibt es aber anderswo, und sie sprechen nicht für die hiesige Bildungspolitik. Tschechien gehört aktuell zu jenen drei Ländern weltweit, in denen sich im Jahresvergleich die Englischkenntnisse der Bevölkerung am drastischsten verschlechtert haben. Dies besagt eine Umfrage des Unternehmens Education First, über deren Ergebnisse in dieser Woche die tschechische Tageszeitung Lidové noviny berichtet hat. Getestet wurden etwa zwei Millionen Menschen in 120 Ländern. 2021 hatte Tschechien noch den 19. Platz inne, nun ist es auf den 27. Platz abgerutscht.
Bernard Bauer beobachtet seit mehreren Jahren eine ähnliche Entwicklung in puncto Deutsch:
„Auch wir in der Deutsch-Tschechischen Kammer verlangen Deutschkenntnisse, wenn wir Personal einstellen. Bisher ist es uns immer gelungen, gute Leute zu finden. Auch unter den Jüngeren sind noch genügend Anwärter da. Insgesamt ist das Interesse jedoch deutlich zurückgegangen.“
Denn das Problem des Unterrichts läge hierzulande an anderer Stelle, meint Tomáš Jelínek:
„Wir sollten nicht über die Abschaffung der zweiten Fremdsprache als Pflichtfach reden, sondern darüber, wie man die Sprache lernt und welche Ziele im Unterricht verfolgt werden. Es ist nicht notwendig, zwei Fremdsprachen auf professionellem Niveau zu beherrschen. Das Wichtigste ist, sich verständigen zu können.“
Darum unterstütze der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds auch andere Wege, die deutsche Sprache zu erlernen, betont Jelínek. Und gibt ein aktuelles Beispiel:
„Gemeinsam mit der bayerischen Regierung, mit dem dortigen Kultusministerium und mit dem tschechischen Bildungsministerium haben wir jetzt ein bilaterales Fremdsprachenassistenzprogramm auf den Weg gebracht. Es heißt ‚Nachbarsprache im O-Ton‘. Dabei werden Muttersprachler die hiesigen Deutschlehrer und die Tschechischlehrer in Bayern unterstützen. Ich glaube, dass dies die Motivation erhöht.“
Dieses Programm startet mit dem neuen Schuljahr am 1. September. Die Reform des Grundschulunterrichts in Tschechien nimmt allerdings noch etwas mehr Zeit in Anspruch. Die eingereichten Anmerkungen werden nun eingearbeitet, und das finale Konzept soll im Juni veröffentlicht werden. Danach bereitet eine Arbeitsgruppe des Nationalen Pädagogikinstituts die neuen Lehrpläne der einzelnen Fächer vor. Diese sollen schrittweise ab September 2024 umgesetzt werden.