EU-Kommissar Vladimír Spidla: Chancengleichheit ist ein Wert, aber auch ein Werkzeug
Fünfundzwanzig Mitglieder hat die Europäische Kommission, eines für jedes Mitgliedsland. Und doch ist es bekanntlich nicht die Aufgabe eines Kommissars, die Interessen seines Herkunftsstaates zu vertreten. Im Rahmen seines Ressorts soll er oder sie das Gedeihen der Union als Ganzes mittragen. Dabei von einzelnen Schlüsselressorts zu sprechen, das würde wohl am integrativen Charakter der Kommission vorbeizielen. Vor dem Hintergrund von Problemen der Arbeitsmarktpolitik oder der Überalterung der Gesellschaft lässt sich aber sagen: Der tschechische Kommissar, der Sozialdemokrat Vladimír Spidla, hat mit dem Ressort Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit einen sehr sensiblen Aufgabenbereich übernommen. Gerald Schubert hat Spidla in Brüssel getroffen, hören Sie das Interview mit ihm in der nun folgenden Ausgabe der Sendereihe "Heute am Mikrophon":
"Vielleicht sind die Leute ja ein bisschen entfernt von den europäischen Institutionen, aber im Prinzip, da bin ich sicher, sind die meisten mit dem Europagedanken eng verbunden. Das spanische Referendum über die EU-Verfassung hat das meiner Meinung nach ganz klar gezeigt. Aber natürlich: Man muss Politik machen! Europa, das sind nicht die Beamten, sondern das sind die europäischen Werte. Man muss Politik formulieren, sie manchmal vielleicht auch durchboxen, Dialoge auf verschiedenen Ebenen führen und immer wieder an die Menschen denken."
Kommen wir zu den konkreten Punkten Beschäftigung und Chancengleichheit. Im öffentlichen Diskurs werden diese oft so interpretiert, als ob sie einander ausschließen. Chancengleichheit kostet Geld, nicht zuletzt für die soziale Infrastruktur, die zur Verfügung gestellt werden muss. Und beim Stichwort Beschäftigung meinen viele, dass es in erster Linie niedrige Steuern geben muss, damit sich die Unternehmen nicht verabschieden. Ist das also ein Widerspruch?"Das ist prinzipiell kein Widerspruch. Chancengleichheit ist ein europäischer Wert, aber auch ein Werkzeug. Denn für Europa ist es wichtig, das Potential der Menschen zu nutzen, ihre Kräfte, ihre Imagination, ihre Kulturfähigkeit. Ohne Chancengleichheit ist das unmöglich. Und was die Steuern betrifft: In Schweden zum Beispiel sind die Steuern relativ hoch, und der Anteil der Bevölkerung, der im Arbeitsprozess steht, beträgt ungefähr 80 Prozent. In Großbritannien wiederum sind die Steuern im europäischen Vergleich relativ niedrig, aber die Partizipation der Menschen auf dem Arbeitsmarkt ist auch dort sehr hoch. Nicht ganz so hoch wie in Schweden zwar, aber ebenfalls über 70 Prozent, was in Europa wirklich viel ist. Zwei verschiedene Konzepte haben also dasselbe Ergebnis gebracht: Nämlich einen hohen Anteil der auf dem Arbeitsmarkt aktiven Bevölkerung. Diese Frage ist also viel vielschichtiger und komplizierter. Man kann sie nicht einfach mit dem Ruf nach höheren oder niedrigeren Steuern beantworten."
Eine der Voraussetzungen für das Endziel Vollbeschäftigung ist Mobilität und Flexibilität am Arbeitsmarkt. Doch da gibt es gewisse Barrieren. Eine davon besteht in den Übergangsfristen, die sehr viele alte EU-Staaten gegenüber den neuen eingeführt haben. Sehen Sie da mittlerweile eine Bewegung?"Wir müssen jetzt eine Arbeitsgruppe auf hohem Niveau vorbereiten, die sich mit dieser Frage beschäftigen wird. In dem Abkommen gibt es innerhalb der Übergangsfristen ja noch Kontrollfristen, also zwei, dann drei, und dann nochmals zwei Jahre. Die Auswirkungen der Übergangsfristen müssen geprüft werden. Ich spreche mit vielen Politikern in verschiedenen europäischen Ländern, und ich glaube, manche sind zu dem Schluss gekommen, dass diese Übergangsfristen unnötig sind. Aber wir müssen natürlich die entsprechenden Prüfungen und Untersuchungen abwarten. Und auch dann wird das immer noch eine Frage sein, für die nur die Mitgliedstaaten zuständig sind, nicht die Kommission."
Ein großes Problem in der europäischen Bevölkerungsstruktur ist die Überalterung der Gesellschaft. Welche Rezepte gibt es dagegen? Und gehört zum Beispiel der EU-Beitritt der relativ jungen Türkei dazu?"Vielleicht gibt es kein europäisches Land, das diesbezüglich im Gleichgewicht ist. Für ein natürliches Gleichgewicht braucht man 2,1 lebend geborene Kinder pro Frau. Ich kenne kein Land, wo es das gibt. In Frankreich beträgt diese Zahl ungefähr 1,9. Das ist ziemlich gut. Aber alle anderen Länder sind in einer schwierigeren Lage. Es ist also klar: Europa wird allmählich älter. Wir rechnen zum Beispiel damit, dass im Jahr 2030 die Zahl der Menschen, die älter als achtzig Jahre sind, dreimal so groß sein wird wie jetzt. Und es werden ungefähr 20 Millionen Arbeitskräfte fehlen. Dieses Thema ist also sehr wichtig. Aber ich bin der Meinung, dass es die Migration in Europa ohnehin gibt, egal ob die Türkei Mitglied der Europäischen Union wird, oder nicht. Die Ukrainer zum Beispiel migrieren auch, und da rechnet man nicht mit einem Beitritt."
Ein weiterer Punkt, der Ihr Ressort betrifft, sind Minderheiten. In Ihrem Heimatland Tschechien ist es zum Beispiel die Bevölkerungsgruppe der Roma, die oft problematisch betrachtet wird, in anderen Ländern sind es andere Bevölkerungsgruppen. Glauben Sie, dass Europa die dauerhafte Existenz von marginalisierten Minderheiten droht, oder gibt es dagegen Lösungskonzepte?
"Europa, also das moderne Europa der Nachkriegszeit, hat ein Konzept, das man sehr leicht als Konzept einer inklusiven Gesellschaft beschreiben kann. Also einer Gesellschaft, die keine marginalisierten Minderheiten will - ob es nun ethnische Minderheiten sind, oder Menschen, die in Armut leben. Europäische Konzepte für die Integration gibt es also, aber kein Patentrezept. Wir brauchen noch sehr viel Zeit."
Kurz noch zur tschechischen Politik: Dort gab es in letzter Zeit Wahlsiege der europaskeptischen Parteien, vor allem der Demokratischen Bürgerpartei ODS und der Kommunisten - auch bei der Wahl zum Europaparlament. Macht Ihnen das Sorgen, oder empfinden Sie das aus der Sicht des EU-Kommissars als vorübergehende Phase?
"Ich war immer der Meinung, dass die übrig gebliebenen Kommunisten im Allgemeinen, nicht nur in der Tschechischen Republik, relativ nationalistisch sind. Und Parteien wie die ODS gibt es in anderen Ländern auch. Mich stimmt aber optimistisch, dass die Meinungsumfragen immer wieder sagen: Die Menschen in der Tschechischen Republik wollen mehr europäische Integration, sie wollen etwa auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Also, ich glaube, die Ansichten der Menschen unterscheiden sich von denen der Repräsentanten einiger Parteien."