Jiří Gruša - Meister des Wortes in zwei Sprachen
Der Schriftsteller Jiří Gruša hat sowohl auf Tschechisch als auch auf Deutsch geschrieben. Seine Werke stehen aber sogar in einem mehrfachen Kontext: einem tschechischen, einem deutschen, einem österreichischen und einem europäischen.
Soweit der Literaturwissenschaftler Hans Dieter Zimmermann. Er hat die Redaktion der Gesamtwerkausgabe von Gruša übernommen. Diese ist von Grušas Frau nach dem Tod ihres Mannes 2011 initiiert worden. Seit 2014 erscheinen die Bände in Tschechien und in Österreich, und zwar parallel in den beiden Sprachen. Manche Texte hat Jiří Gruša im Original auf Tschechisch verfasst, andere wiederum auf Deutsch. Dies betrifft vor allem seine Gedichte und seine Essays.
Hans Dieter Zimmermann (H.D.Z.): „Der erste Band waren Essays bis zum Jahr 1990, bis zur Samtenen Revolution. Das waren tschechische Essays, und wir mussten sie übersetzen. Die Essays von 1990 bis zum seinem Tode im Jahr 2011 sind hingegen in deutscher Sprache von ihm geschrieben worden. Wir mussten nichts übersetzen.“
Jiří Gruša war ein tschechischer Schriftsteller und Politiker. Seit den 1960er Jahren war er in der Tschechoslowakei als Autor bekannt und engagierte sich auch öffentlich. Er beteiligte sich an der Reformbewegung des Prager Frühlings, in den 1970ern lebte er als Dissident und 1981 emigrierte er nach Deutschland. Nach der Wende von 1989 übernahm er unter anderem den Posten des tschechoslowakischen beziehungsweise tschechischen Botschafters in der Bundesrepublik und in Österreich. Gruša gehört sowohl der tschechischen als auch der deutschen Literatur an. Dabei ist er nicht zweisprachig aufgewachsen. Hans Dieter Zimmermann:
Verlust von Kontext und Publikum
H.D.Z.: „Er wurde ausgebürgert, er ist nicht freiwillig in die Emigration gegangen. Er hat in seiner Dresdner Poetik-Vorlesung, die auch in diesem Band enthalten ist, über seinen Lebensgang gesprochen und über das Sprachproblem. Dem Emigranten wird gewissermaßen seine Sprache weggenommen. Man hat ja das Publikum und seinen tschechischen Kontext verloren. Man ist auf einmal in einem neuen Kontext. Gruša hatte eine Krankheit, und nach der Krankheit fing er an, deutsche Gedichte zu schreiben. Wir haben noch drei Bände vor uns, einer der drei Bände sind die deutschen Gedichte.“
Jiří Gruša hat selbst zwei Poesie-Bändchen auf Deutsch veröffentlicht: die Sammlungen „Babylonwald“ und „Wandersteine“:H.D.Z.: „Gedichte sind etwas anderes, als Prosa zu schreiben. Ich glaube, Gedichte zu schreiben, war ihm eher möglich. Es sind ganz schöne Gedichte geworden. Wir haben ein Vorwort von Sarah Kirsch, die eine bedeutende deutsche Lyrikerin war, und ein Nachwort vom deutschen Lyriker Harald Hartung. Die haben ihn als deutschen Lyriker willkommen geheißen.“
Die Worte des Literaturhistorikers bestätigt auch Grušas Frau Sabine:
S.G. (Sabine Gruša): „Er konnte auf keinen Fall ein großes Romanwerk auf Deutsch schaffen. Ich glaube, das hätte er auch im Alter nicht mehr geschafft. Die Ausbürgerung hat ihn ziemlich schwer getroffen. Diese Not, sich in einer fremden Sprache so zu artikulieren, dass er mit dem Publikum auch kommunizieren konnte, war wirklich groß. Das Erste, was er in Deutsch geschrieben hat, waren Gedichte. Das heißt eine komprimierte, kurze Form, das ging. Oder auch kleine, kurze Essays. Es wurde natürlich immer besser und immer kräftiger mit seinem Deutsch. Dann kam die Wende, und es war wieder zu Ende.“
Als Muttersprachlerin hat Sabine Gruša in den ersten Jahren in Deutschland die Texte ihres Mannes korrigiert:
S.G.: „Er hat mich schon dazu auch gebraucht, am Anfang. Zum Beispiel das Buch ‚Franz Kafka aus Prag‘, das im Fischer-Verlag erschien: Da habe ich geschaut, dass seine Eigenheiten im Deutschen respektiert wurden. Aber man musste auch schon kämpfen, damit er einsah, dass einiges so nicht ging. Es ist ohnehin schwierig, wenn man sozusagen ein Paar ist, zusammenlebt und man den anderen korrigieren muss. Und vor allem einen Jiří Gruša, der natürlich ein Meister seines Fachs war. Es war schwierig, ihm zu sagen: ‚Das geht nicht.‘ Aber wir haben es geschafft.“
Kreativer Wort-Erfinder
Gruša ist nicht der einzige tschechische Schriftsteller, der nach seiner Emigration Deutsch zu seiner Literatursprache gemacht hat. Literaturwissenschaftler Zimmermann:
H.D.Z.:„Es ist selten, aber es gibt dies immer wieder. Ich kann Libuše Moníková erwähnen, eine Pragerin, die erst in Deutschland auf Deutsch geschrieben hat, oder Jan Faktor. Und Jiří Gruša gehört auch dazu. Es sind seltene Fälle, dass jemand so sehr in die neue Sprache hineinkommt und darin schreiben kann. Gruša hat gerade in seinen Essays kleine Abweichungen vom üblichen Deutsch, sie sind aber für den Deutschen reizvoll. Es handelt sich da nicht um Fehler. Und Gruša ist auch ein Wort-Erfinder. Das bereitet uns gerade bei den tschechischen Gedichten Probleme. Aus dieser frühen Lyrik kann Eduard Schreiber, der sie übersetzt, manche Wörter nicht ins Deutsche übertragen. Wir haben etliche tschechische Kollegen gefragt, sie können es aber auch nicht übersetzen. Jiří Gruša hat Worte erfunden, die in keinem tschechischen Lexikon stehen. Insofern war er sehr kreativ.“Grušas Gedichte sollen in den nächsten beiden Bänden der Gesamtausgabe erscheinen:
H.D.Z.: „Der letzte Band wird Reden und Interviews enthalten. Gruša war ja lange Diplomat, Botschafter in Deutschland und in Österreich, und hat bei vielfältigen Gelegenheiten Reden aus aktuellem Anlass gehalten. Wie wir das bei den Essays auch sehen, hatte er Gespür für die Dinge, wie sie sich wandeln. Er sah natürlich die Vergangenheit, die ihm präsent war, aber auch das, was in der Gegenwart virulent war und was sich bis heute fortsetzt. Ich denke, die Reden und Interviews sind immer noch aktuell.“
Immer noch aktuell
Doch auch Grušas Romane haben dem Literaturhistoriker zufolge nichts an Aktualität verloren:
H.D.Z.: „In seinen Romanen, die ja alle noch zu kommunistischen Zeiten entstanden sind, merkt man noch – entweder unterschwellig oder ganz offen wie im ‚16. Fragebogen‘ –, dass es sich um Dissidentenliteratur handelt. Er stellt die Unterdrückung des Menschen unter dem Kommunismus dar. Gruša verschlüsselt das natürlich, sonst hätte er noch viel mehr Schwierigkeiten gehabt, er saß ja im Gefängnis. Aber durch die Verschlüsselung bekommt die Texte eine metaphorische Ebene, so dass sie noch heute lesbar sind. Es ist keine rein politische Literatur, die mit der Samtenen Revolution zu Ende gegangen ist. Das ist das Ungewöhnliche bei ihm.“
Für Frau Gruša bedeutet die Arbeit an der Gesamtausgabe auch, die Werke ihres Mannes nach vielen Jahren erneut zu lesen. Eben unter den Romanen befindet sich auch ihr Lieblingsbuch von ihrem Mann:S.G.: „Und zwar ist ‚Dr. Kokeš‘. Das Buch ist im vergangenen Herbst erschienen und ist eines der ganz großen Werke, fast nicht bekannt und in Deutschland bis dahin noch nicht in der richtigen Übersetzung erschienen. Jetzt hat mit Joachim Bruss ein anständiger Übersetzer das Buch wunderbar vom Tschechischen ins Deutsche gebracht. Hoffentlich verstehen jetzt alle Menschen, wieso das Buch so schön ist.“
In den großen Werken entdecke sie ansonsten beim neuerlichen Lesen nichts Neues, sagt Sabine Gruša.
S.G.: „Aber bei den kleineren Sachen, wie etwa den Essays, da entdecke ich vieles neu, weil es ein bisschen an mir vorbeigerauscht war. Ich war ja während seiner Tätigkeit als Botschafter in Wien weiterhin in Bonn voll berufstätig, ich war Direktorin der Bonner Stadtbibliotheken. Von daher ist mir nicht alles immer präsent gewesen, was er gemacht hat. Als ich das jetzt wieder las, habe ich gedacht: Mein Gott, er war wirklich gut und vorausschauend. Da kommt Neues auf mich zu. Das ist wunderbar.“