Weg von den Kliniken, hin zu den Patienten: Reform der Psychiatrie in Tschechien
Elektroschocks, Zwangsjacken und Unmengen an Medikamenten: schon lange verlässt sich die moderne Psychiatrie nicht mehr auf solche Mittel. Auch in Tschechien befindet sich die Behandlung von Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen im Umbruch. Es läuft gerade eine grundlegende Reform der Psychiatrien an, die bis zum Jahr 2022 abgeschlossen sein soll. Die Devise heißt dabei: Weg von den Kliniken und näher zu den Patienten. Im Zentrum steht dabei eine in Tschechien vollkommen neue Institution.
Pavel Novák ist zudem einer der Architekten der laufenden Psychiatrie-Reform in Tschechien, die seit Januar anläuft. Ein Kernpunkt dabei ist der Schritt weg von den psychiatrischen Bettenburgen, wie beispielsweise der Klinik Prag-Bohnice. Sofern es die Umstände erlauben, sollen Patienten anstatt dessen in kleineren Einheiten dezentral behandelt werden, in sogenannten Zentren für die geistige Gesundheit. Pavel Novák ist mit gutem Beispiel vorangegangen und hat gerade im Prager Stadtteil Bohnice mit einigen Mitarbeitern und der Unterstützung der dortigen Klinik ein solches Zentrum aufgebaut.
Zentrum für geistige Gesundheit als Modellversuch
Was ist jedoch so besonders an dem Zentrum für geistige Gesundheit? Und was ist so innovativ an der Behandlung in eben diesen Einrichtungen? Es ist vor allem das Umfeld des Zentrums, das eine neue Herangehensweise an die Patienten erlaubt. Dabei geht es um weit mehr als um die bloße geistige Gesundheit. Pavel Novák:„Die Ausrichtung des Zentrums ist vielschichtig. Es bringt nichts, bei den Patienten nur die gesundheitliche Ebene zu lösen. Zusätzlich zur Krankheit kommen auch soziale Fragen auf, bei denen sich die meisten an niemanden wenden können. Oft ist sogar genau das Gegenteil der Fall. Deshalb besteht unser Team zu einem Teil aus ärztlichem Personal der psychiatrischen Klinik Prag-Bohnice, aber auch aus Mitarbeitern der Organisation Fokus Praha.“
Gerade die Helfer von Fokus Praha machen das Projekt zu einem multidisziplinären Experiment. Die Organisation bietet psychisch kranken Menschen seit nun schon über 20 Jahren Hilfe außerhalb der Krankenhäuser. Und das nicht nur professionell durch therapeutisches Personal, sondern auch durch Sozialarbeiter. Für Pavel Novák ist das einer der wichtigsten Pfeiler des Zentrums:„Dadurch, dass bei uns Sozialarbeiter mitarbeiten, öffnet sich ein neuer Blick auf die Patienten. Diese Mitarbeiter achten mehr auf die breitere Einbindung des Kranken in das Alltagsleben. Sie haben die Qualifikation, mit jedem Einzelnen alles rund um das Wohnen und die Finanzen zu lösen. Das ist ihr Beitrag dazu, dass der Patient letztlich gesund werden kann. Unser Team arbeitet dabei nach dem Modell ‚Recovery‘, das bereits seit rund 20 Jahren in der Psychiatrie anerkannt ist, aber hierzulande noch nicht wirklich angewandt wird. Es geht dabei darum, dass ein Mensch, der sich in einer Krise befindet, den möglichst besten Zugang zu sich selbst findet. Aus dem Patienten soll so ein vollwertiger Teil der Gesellschaft werden.“
Zehn bis 15 Patienten nehmen das Zentrum für geistige Gesundheit täglich in Anspruch. Und der offene Umgang mit ihnen prägt das Bild in der Einrichtung. Man wolle feste Strukturen und Behandlungspläne möglichst vermeiden, so Novák. Den Patienten steht es mehr oder weniger frei, wie sie sich ihre Behandlung zusammenstellen. Leila Podaná ist eine von denjenigen, die sich in der Einrichtung behandeln lässt:Wenn sich die Halluzinationen zurückmelden, komme sie meist gleich ins Zentrum. Manchmal rufe sie aber auch erst an, beschreibt sie das Vorgehen im Krisenfall. Jeden Fall kläre sie dabei individuell mit den Schwestern.
Das Zentrum ist rund um die Uhr für die Patienten zugänglich und bietet ihnen durchgehende Unterstützung. Auch wenn sie sich über scheinbar Belangloses unterhalten und nur ihre Freizeit mit den Betreuern verbringen wollen. Das alles gehört mit zum Prozess des Wiederankommens in der Gesellschaft und damit auch zur Heilung. Ebenso gilt es die Grenzen zwischen der Welt des Kranken und der Welt „da draußen“ zu verwässern. Pavel Novák:„Mit der Zeit merken die Betroffenen in ihrer Community, dass es so etwas wie unsere Einrichtung überhaupt gibt, und dass sie ohne weiteres hierher kommen können. Die Barriere, so etwas für sich in Anspruch zu nehmen ist da, denn die Angst vor einer gesellschaftlichen Stigmatisierung ist groß. Diese liegt einerseits bei den Patienten an sich, bei denen unter anderem Schizophrenie diagnostiziert wurde. Andererseits aber natürlich auch auf dem Fachbereich Psychiatrie als solchem. Von sich aus zum Psychiater zu gehen, ist in Tschechien nach wie vor ein schwerer Schritt.“
Prag-Bohnice: Ein Synonym für psychische Erkrankungen
Der Prager Stadtteil Bohnice gilt in Tschechien als Synonym für alles, was mit Psychiatrie zu tun hat. Hier befindet sich nämlich das größte Klinikum für psychiatrische Fälle in Tschechien. Auch wenn das Zentrum für geistige Gesundheit in unmittelbarer Nähe zur Klinik liegt, und auch das Klinikpersonal dort mitarbeitet, so ist es doch vollkommen selbstständig. Das Zentrum liegt auch bewusst nicht auf dem Klinikgelände, erläutert Pavel Novák:„Wenn unser Zentrum auf dem Gelände des Klinikums Bohnice sein würde, käme es zu folgenden Problemen: Erstens ist es für ehemalige Patienten sehr unangenehm, sich auf das Gelände des Krankenhauses zu begeben. Sie haben schon eine stationäre Behandlung hinter sich und möglicherweise schlechte Erfahrungen. Zweitens haben Neupatienten die Hürde des Stigmas zu überwinden, das psychiatrischen Kliniken anlastet. Zudem haben die Kliniken eine sehr konservative Arbeitsauffassung. Auch deshalb ist es für innovativere und etwas andere Konzepte oft besser, sich an einem anderen Ort zu befinden.“
Ist die Reform finanzierbar?
Das Zentrum für geistige Gesundheit ist jedoch nicht das einzige Projekt in Tschechien, das einen offeneren Zugang zu den Patienten sucht. So wurde vor einigen Jahren das Programm Itareps (Information Technology Aided Relaps Prevention in Schizophrenia) von dem Psychiater Daniel Španiel ins Leben gerufen. Schizophrenie-Patienten wird dabei in regelmäßigen Abständen eine SMS gesendet, durch die sie einen Fragebogen ausfüllen können. Ein Algorithmus bestimmt dann, ob eine erneute Psychose drohen könnte und ob sich der Patient in Behandlung begeben sollte. Itareps musste 2013 aus finanziellen Gründen fast eingestellt werden. Bei dem Zentrum von Pavel Novák sieht es etwas besser aus, denn hinter ihm steht ein größeres Netz an Unterstützern. Zudem gilt es als Modellprojekt für die laufende Psychiatrie-Reform, auch wenn Novák selbst diesen Status ablehnt. Rund 30 Einrichtungen nach demselben Prinzip sollen in den nächsten Jahren ihren Dienst aufnehmen.Pavel Novák wünscht sich aber eine große Ausdauer für die Reform, die nicht einfach durchzuführen sei. Seiner Meinung nach kostet sie einfach Geld, das der tschechische Staat auch selbst in die Hände nehmen muss. Und auf die Europäische Union sollte man in diesem Fall nicht uneingeschränkt setzen:
„Auf die Europäische Union können wir uns nur am Anfang der Reform verlassen. Die gemeinsamen Fonds sind nämlich so konzipiert, dass sie eine Starthilfe geben durch Überbrückungsgelder oder Stipendien. Langfristig muss die Finanzierung des reformierten Systems aus den einheimischen Kassen erfolgen. Das bedeutet ein allgemeines Umdenken bei der Finanzierung des tschechischen Gesundheitswesens. Auch die Krankenkassen müssen dauerhaft eingebunden werden. Es ist zudem nötig, andere Quellen auszuschöpfen, da es sich nicht nur um einen Eingriff in den Gesundheitsbereich handelt. Das System, wie wir es hier bieten, ist ohne weiteres auch eine soziale Frage.“