Mit dem Rucksack über die Berge: Religionsbücher für Tschechoslowaken
Das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei verwehrte seinen Bürgern den freien Zugang zu Informationen. Es wird geschätzt, dass allein in den 1950er Jahren rund 28 Millionen Bücher vernichtet worden sind. Viele Autoren wurden verboten, und die Zensur wurde eingeführt. Trotzdem gelang es mutigen Menschen auch während der Zeit der sogenannten „Normalisierung“ die im Ausland gedruckte tschechische und slowakische Literatur in das Land zu bringen.
Slavomír Zrebný arbeitet im Institut des Nationalen Gedenkens in Bratislava und ist Regisseur des Films „Spuren im Schnee“. Den Fall der drei Slowaken, die regelmäßig Bücher über die polnisch-slowakische Grenze brachten, habe als erster der ehemalige Dissident und spätere Politiker Ján Čarnogurský in seinem Buch über verfolgte Gläubige beschrieben, erzählt Zrebný:
„Als ich begann, mich mit dem Schicksal der drei Männer zu beschäftigen, entdeckte ich, dass es damals ein viel größeres Netz von Menschen gab, die Literatur im Ausland druckten und sie dann weiterleiteten. Es gab eine ganze Reihe von Gruppen, die voneinander unabhängig aktiv waren. Polen war eher ein Transitland. Bücher, die von dort aus weiter geheim in die Tschechoslowakei gebracht wurden, stammten vor allem aus Rom, Paris, München und auch aus den Niederlanden.“Viele der Bücher wurden in Deutschland gedruckt. Der Salesianer Anton Hlinka, der bei Radio Free Europa in München arbeitete, sorgte dafür, dass die über Polen wie auch Österreich oder Ungarn gebrachte Literatur an die Gläubigen in der Tschechoslowakei verteilt wurde. In Deutschland gab es mehrere Stiftungen, Pfarrgemeinden und Familien, die mit ihren Spenden die Herausgabe der Religionsbücher finanzierten. Viele unbekannte Menschen haben einen großen Verdienst daran, dass die verbotene Literatur tatsächlich zu den Interessenten in der Tschechoslowakei kam, unterstreicht Slavomír Zrebný.
Literatur wurde im Ausland gedruckt
Das Schmuggeln von Büchern in die Tschechoslowakei begann nach dem Prager Frühling eigentlich gleich mit der sogenannten „Normalisierung“ in den 1970er Jahren, sagt Zrebný:„Damals wurde die sogenannte ´Behörde für die Presseaufsicht´ – also faktisch ein Zensuramt – wieder errichtet. Sobald das Regime anfing, Bücher zu verbieten und zu vernichten, suchten viele Menschen nach Möglichkeiten, den Interessenten aus der Tschechoslowakei Literatur aus dem Ausland irgendwie zuzustellen. Während dieser Zeit sind Tausende von Büchern auf geheimen Wegen geschmuggelt worden. Das Kyrill- und Methodius-Institut in Rom hatte rund drei Millionen Bücher herausgegeben. Allein dank des Salesianers Anton Hlinka sind rund 100.000 Bücher in die Slowakei gebracht worden, die unter den Pfarreien verteilt wurden. Es ist notwendig, zu betonen, dass das Regime rund 97 Prozent dieser Bücher nie gefunden hat. Darum kann man sagen, dass es ein erfolgreiches Projekt war.“
Mit Büchern im Rucksack verhaftet
Es gelang mehrfach, dass jemand aus Westeuropa zwei oder drei Bücher mit in die Tschechoslowakei genommen hatte. Es war jedoch notwendig, eine bedeutend größere Menge an Literatur, die im Ausland speziell für die Tschechoslowakei gedruckt wurde, ins Land zu schmuggeln. So wurden die Bücher zuerst nach Polen transportiert. Dort gab es mehrere bereitwillige Priester und Gläubige, die halfen, sie weiter zur polnisch-tschechoslowakischen Staatsgrenze zu bringen. Slavomír Zrebný schildert, wie der Literaturschmuggel einige Jahre lang funktionierte:„In Polen wurde damals das Standrecht verhängt, zudem wurde ein Lebensmittelkartensystem eingeführt. Daher gab es viele Familien, denen es an Lebensmitteln mangelte. Von einer Seite der Tatra machte sich eine Gruppe von Slowaken und von der anderen Seite wiederum eine Gruppe von Polen auf den Weg. Sie trugen dieselben Rucksäcke. Die Polen hatten in den Rucksäcken Bücher, und die Slowaken Lebensmittel, an denen es in Polen mangelte. Sie trafen an der Staatsgrenze zusammen, haben ein bisschen geplaudert und tauschten die Rucksäcke gegenseitig aus. Auch wenn es dort Grenzsoldaten patrouilliert wären, hätten sie nichts bemerkt, weil die Rucksäcke alle gleich ausgesehen haben. Die Polen kehrten mit den Lebensmitteln und die Slowaken mit den Büchern nach Hause zurück.“
Gerichtsprozess weckt Aufmerksamkeit im Ausland
Zu den Slowaken, die regelmäßig Bücher in Rucksäcken aus Polen heimbrachten, gehörten auch die drei Freunde Tomáš Konc, Branislav Borovský und Alojz Gabaj. Zwei von ihnen waren Hochschulstudenten, der dritte ging damals bereits arbeiten. An einem Tag, an dem sie wieder mit den Polen am vereinbarten Ort zusammentreffen sollten, begann es zu schneien. Es gelang ihnen die Rucksäcke auszutauschen. Da sie Spuren im Schnee hinterließen, wurden sie aber bald darauf von den polnischen Grenzsoldaten verhaftet, erzählt Slavomír Zrebný:„Auf polnischem Gebiet wurden sie festgenommen und in die Untersuchungshaft gebracht. Dort wurden sie lange verhört und beim Verhör zusammengeschlagen, als sie die Namen ihrer polnischen Freunde nicht verrieten. Später wurden alle drei in die Slowakei zurückgebracht. Dort wurden die Verhöre fortgesetzt. In Bratislava fand ein Gerichtsprozess statt. Die jungen Männer wurden 1983 zu 14 Monaten Gefängnis verurteilt.“Der Gerichtsprozess weckte damals auch im Ausland viel Aufmerksamkeit. Die Botschafter einiger westeuropäischer Länder versuchten Zrebný zufolge ihre Solidarität mit den drei Männern zum Ausdruck zu bringen. US-Präsident Ronald Reagan setzte sich auf einer Konferenz über Menschenrechte und Religionsfreiheit für die Verurteilten ein. Das Urteil aber habe nicht das Gericht, sondern das Zentralkomitee der kommunistischen Partei gefällt, sagt Slavomír Zrebný:
„Wegen ihrer Schmuggler-Tätigkeit wurden die beiden Studenten sofort vom Studium ausgeschlossen. Auch wenn sie nach 14 Monaten wieder freigelassen wurden, sie waren gebrandmarkt und sozusagen zu ´Bürgern zweiter Klasse´ gestempelt worden. Sie wurden weiterhin verdächtigt und ständig verfolgt.“
Nach der Wende ist einer der Verurteilten, Tomáš Konc, Priester geworden. Branislav Borovský und Alojz Gabaj haben Familien. Sie engagieren sich auch heute dort, wo es notwendig ist, erzählt Slavomír Zrebný.Dokumentarfilm an Schulen gezeigt
Der Regisseur verglich die Arbeit an dem Dokumentarfilm mit der Arbeit an einem Kriminalroman.
„Da es keine Studie zu diesem Thema gibt, mussten wir einiges erforschen. Immer, wenn wir einen Menschen trafen, der sich an der Verbreitung der Literatur beteiligt hatte, empfahl er uns wieder eine weitere Person, sodass wir Schritt für Schritt ein ganzes Netzwerk von mutigen Menschen entdeckten. Wenn wir nun den Film an verschiedenen Orten der Slowakei zeigen, melden sich immer wieder neue Leute bei uns, die auch mitgemacht haben. Wir wären imstande, drei weitere Dokumentarfilme über das Thema zu drehen.“Die Reaktionen auf den Film seien unterschiedlich, erzählt der Regisseur. Die Menschen haben sich damals bedeckt gehalten und sind auch nach der Wende unauffällig geblieben.
„Aber viele Leute sagen uns nach der Filmvorstellung, sie seien froh, dass es diese Persönlichkeiten gibt und dass sie über ihre Existenz erfahren haben. Wir zeigen den Film auch an Schulen und versuchen dabei, ihn als eine Ergänzung zum Geschichtsunterricht anzubieten.“