Gemeinsam für eine offene Gesellschaft – Zukunftsfonds lanciert Jahresthema 2016
Das auslaufende Jahr hat Europa vor viele politische und gesellschaftliche Proben gestellt: der drohende Grexit, der Krieg in der Ostukraine und nicht zuletzt die Flüchtlingskrise. Verunsicherung hat sich breit gemacht, auch Ängste. Deswegen nennt der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds sein Jahresthema 2016: „Aktives Bürgersein vor neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“. Am Dienstag veranstaltete der Zukunftsfonds eine Podiumsdiskussion, bei dieser diskutierten Experten von beiderseits der Grenze über das Thema.
Auf der anderen Seite die Wutbürger bei den Pegida-Demonstrationen in Dresden oder den Kundgebungen des Blocks gegen den Islam in Prag. Sie schwenken Schwarz-Rot-Gold beziehungsweise Weiß-Rot-Blau. Aber Fakt ist auch: Fast nirgendwo in Europa lehnen den Umfragen nach so viele Menschen die Aufnahme von Flüchtlingen ab wie in Tschechien. Daran anknüpfend hat das Meinungsforschungsinstitut Stem für den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds eine repräsentative Umfrage gemacht. Es ging um das Verständnis in Tschechien für die deutsche Flüchtlingspolitik. Jan Hartl leitet Stem:
„Die Lage rund um die Flüchtlingskrise wird in der Tschechischen Republik sehr emotional aufgenommen. Rund 80 Prozent haben Angst, man könnte auch sagen: Fast alle Tschechen haben Angst.“
Tschechen wollen deutsche Flüchtlingspolitik kennenlernen
Dabei verstehen 70 Prozent der Menschen hierzulande die Flüchtlingspolitik der eigenen Regierung nicht. Kein Wunder, sagt Jan Hartl, dass die Politik in Berlin für die Tschechen vollends ein Rätsel ist. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille.„Zugleich zeigt sich, dass ein Großteil der Menschen, ungefähr 60 Prozent, gerne erfahren würde, was die Deutschen machen und im Sinn haben mit ihrer Willkommenskultur, welche Lösungen dem Nachbarstaat vorschweben. Denn das könnte auch für uns hier inspirierend sein. Doch vorerst haben sie Angst und befürchten zu Dreiviertel, dass Deutschland scheitert und das Problem dann über die Europäische Union hier herschwappt“, sagt Hartl.
So wird aus einem europäischen Problem auch ein bilaterales. Bereits Anfang Oktober hatte die Zeitung „Hospodářské noviny“ einen ungenannten Diplomaten mit den Worten zitiert, dass das tschechisch-deutsche Verhältnis so schlecht sei wie seit 20 Jahren nicht mehr. Sofort hatte sich Premier Bohuslav Sobotka eingeschaltet. Seitdem heißt es offiziell in Prag, die Differenzen in der Flüchtlingspolitik seien keine wirkliche Belastung auf der Achse Prag-Berlin. Doch in der Bevölkerung wird das wohl anders wahrgenommen. Meinungsforscher Jan Hartl:„Die tschechische Gesellschaft ist genau zur Hälfte in ihrer Meinung gespalten, ob sich infolge der Flüchtlingskrise die tschechisch-deutschen Beziehungen verschlechtern. Dabei hatte sich das Meinungsbild in den vergangenen zwanzig Jahren eigentlich immer nur verbessert, und die Beziehungen entwickelten sich vielversprechend.“
Aber auch auf der anderen Seite der Grenze herrscht Unverständnis. Warum Staaten im östlichen Mitteleuropa fast keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, leuchtet vielen Deutschen nicht ein. Oder wie der Oberbürgermeister von Weiden, Kurt Seggewiß, vergleicht: Seine Stadt beherberge derzeit 700 Flüchtlinge, die Slowakei wolle aber insgesamt maximal 800 Migranten Asyl gewähren.Vernachlässigte Gemeinschaftskunde
Beim Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds schaut man mit Unbehagen auf die Entwicklung. Nicht nur die Flüchtlingskrise, aber auch schon die Finanzkrise sowie die Lage in Griechenland und in der Ukraine haben die Verunsicherung und Ängste in der Gesellschaft wachsen lassen. Tomáš Jelínek ist Geschäftsführer des Fonds:„Dahin stoßen wir mit unserem Thema. Denn aus der Verunsicherung können Tendenzen entstehen, die die Gesellschaften an sich negativ beeinflussen können – in dem Sinn, dass vielleicht Türen geöffnet werden für stereotype, populistische bis rechtsextreme Parolen. Auf der anderen Seite hat konkret die Flüchtlingskrise das Potenzial, das deutsch-tschechische Verhältnis zu beeinträchtigen. Das wollen wir angehen und Tschechen wie Deutsche motivieren, sich über diese Themen auszutauschen, damit keine Missverständnisse entstehen. Wir wollen aber auch, dass Tschechen und Deutsche gemeinsam überlegen, wie man die demokratischen Grundwerte in der Gesellschaft gemeinsam stärken kann.“
Die demokratischen Grundwerte zu stärken, das ist auch das Ziel von Gemeinschaftskundelehrer Michal Řezáč. Er unterrichtet an einem Gymnasium im Prager Stadtteil Vinohrady. Doch er ist unzufrieden damit, wie und was in Gemeinschaftskunde an tschechischen Schulen bisher vermittelt wird.„Die Gemeinschaftskunde an sich ist in den 40 Jahren des Kommunismus ideologisch verseucht worden. Nach der politischen Wende haben die Lehrer es abgelehnt, sich etwas sagen zu lassen. Sie hatten große Freiheiten darin, wie sie das Fach auffassen wollten. Spätestens aber seit dem 11. September und allgemein in den vergangenen Jahren hat sich die Welt so stark gewandelt, dass es notwendig geworden ist, sich über das Fach auszutauschen.“
Vor anderthalb Jahren hat Řezáč einen tschechischen Verband der Gemeinschaftskundelehrer gegründet. Unter Kollegen berät man sich über Unterrichtsmethoden –wie man eben zum Beispiel das Thema Flüchtlinge in die Klassen bringen kann. Für Michal Řezáč selbst ist dies relativ einfach, denn an seinem Gymnasium sind zwei syrische Schüler.„Einer der beiden Schüler macht demnächst sein Abitur. Er ist so gut, dass er zwischen drei Universitäten oder Hochschulen wird aussuchen können. Und sein Einfluss auf die Klasse ist sehr positiv. Das gilt auch für den anderen syrischen Jungen eine Klasse tiefer. Er spricht schlechter Tschechisch, aber verständigt sich sehr viel auf Englisch mit seinen Mitschülern. Zudem hat er auch noch persönlich das Schicksal eines Flüchtlings durchgemacht“, so Řezáč.
Für Schulen beispielsweise in Grenznähe könnte sich aber eine besondere Möglichkeit anbieten: der Austausch mit deutschen Klassen, in denen es auch Kinder oder Jugendliche mit Migrationshintergrund gibt.Kritisch nachdenken über die andere Sichtweise
Das sind Projekte, die der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds mit dem Jahresthema „Aktives Bürgersein vor neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ im Sinn hat. Aber nicht nur, wie Tomáš Jelínek verrät:
„Wir zielen eigentlich auf mehrere Ebenen oder Projektarten. Ganz typisch für die Arbeit des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds sind Dialogprojekte. Wir wollen in der guten Tradition der Deutsch-Tschechischen Erklärung auch Projekte unterstützen, in denen es nicht darum geht, die Gegenseite zu überzeugen. Sondern es soll darum gehen, eine Plattform dafür zu schaffen, sich über die unterschiedlichen Sichtweisen auszutauschen und über die andere Sichtweise kritisch nachzudenken.“Als Beispiel nennt Jelínek das Brünner Symposium der Ackermann-Gemeinde im kommenden Jahr.
„Ein anderes Projekt besteht in der Möglichkeit, dass Vertreter der Zivilgesellschaft, der öffentlichen Verwaltung, der Politik und der Medien eine Reise nach Deutschland zu unternehmen, sich dort vor Ort mehr Einblick zu verschaffen und zugleich die tschechische Perspektive zu vermitteln.“Eine dritte Ebene neben dem schulischen Bereich und den Dialogveranstaltungen ist der Expertenaustausch, sagt der Geschäftsführer des Zukunftsfonds:
„Wir wissen, dass die politische Bildung ein wichtiges Instrument ist. Aber selbst die Experten der politischen Bildung geben zu, dass sie heute vor neuen Herausforderungen stehen. Und nach unserer Überzeugung ist es sinnvoll, dass es auch in diesem Bereich zu einem Austausch zwischen tschechischen und deutschen Experten kommt.“
Staatliche Institution zur politischen Bildung fehlt
Experten wie beispielsweise Michael Řezáč. Der Leiter des Verbandes der tschechischen Gemeinschaftskundelehrer vermisst aber in seinem Land staatliche Unterstützung. Ein Pendant zur Bundeszentrale für politische Bildung gibt es in Tschechien immer noch nicht, dabei hatte der damalige grüne Bildungsminister Ondřej Liška vor Jahren etwas Entsprechendes initiiert. Michael Řezáč:„Eine solche Institution hätten wir hierzulande gerne auch in der einen oder anderen Form. Ich denke aber, dass der Staat sich erst dann zu kümmern beginnt, wenn es brennt. Das Problem ist, dass die politische Bildung keine Erfolge schon bis zu den nächsten Wahlen liefert, das dauert mindestens eine Generation.“
Eine Alternative dazu – die gibt es aber wohl auch nicht.