Warteschleife an der Moldau: Ukrainische Aussiedler beginnen ein neues Leben in Tschechien
In der Ukraine leben mehrere Tausend Menschen mit tschechischen Wurzeln. Seitdem der Konflikt dort eskaliert ist, wollen viele nur noch weg. Mit einem Programm der tschechischen Regierung sind in diesem Jahr 120 Aussiedler nach Tschechien gekommen. Die erste Station in der neuen, alten Heimat ist für viele ein abgelegenes Hotel des tschechischen Innenministeriums. Ein Besuch im Hotel Vltava.
„Dscherschinsk ist eine Stadt im Krieg. Dort befinden sich große Teile der ukrainischen Streitkräfte, zehn Kilometer entfernt liegt aber schon die Armee der Volksrepublik Donezk. Wir lebten dort unter ständigen Kriegsbedingungen. Es gab Bombardements, automatische Waffen wurden abgefeuert. Die Kinder fürchteten sich vor den Einschlägen und legten sich auf den Boden.“
Als höherer Polizeibeamter wurde auch Vadim direkt an der Front eingesetzt. Das Leben in ständiger Angst wollten die Hnojileks hinter sich lassen. Der Entschluss, die Region Donezk zu verlassen, fiel schon bevor sie vom tschechischen Rückkehrerprogramm erfahren haben.„Wir haben begonnen, die nötigen Dokumente zu sammeln. Das war ziemlich schwierig, denn während der Kämpfe hat die Post meistens gar nicht funktioniert. Als die Kampfoperationen begonnen haben, hat das tschechische Konsulat in Donezk seinen Betrieb eingestellt. Als wir dann erfahren haben, dass dieses Programm existiert und dass wir gehen können, haben wir über das Konsulat Kontakte gefunden. Wir haben die Dokumente über unsere tschechischen Wurzeln eingereicht, konnten alle Fragen klären, und darum sind wir nun hier. Wir wollten für unsere Kinder ein besseres Leben in Ruhe und Frieden.“
Nach 40 Stunden Busfahrt und mit 20 Kilogramm Gepäck pro Person ist die Familie in Tschechien angekommen. Das Rückkehrerprogramm hat das Innenministerium Anfang des Jahres aufgelegt – nachdem der Zulauf bei der Botschaft immer größer wurde. Voraussetzung für die Umsiedlung sind tschechische Vorfahren. Zehntausende Böhmen und Mährer ließen sich im ausgehenden 19. Jahrhundert im Zarenreich nieder. Heute gibt es in der Ukraine noch etwa 4000 der sogenannten „Krajané“, das sich annäherungsweise mit „Landsleute“ übersetzen lässt. Auch Ludmila Bobrowskaja gehört zu den Umsiedlern. Sie kommt aus dem Dorf Bohemka, einer tschechischen Enklave nördlich von Odessa.„Als ich ein kleines Mädchen war, wollte ich wissen, warum wir in die Ukraine gegangen sind. Da hat sich herausgestellt, dass unsere Vorfahren Exilanten waren, die wegen des Glaubens gegangen sind. Es waren böhmische Brüder. Zur Zeit der Sowjetunion konnten wir nicht zurückkommen, wie ich mir immer gewünscht hätte. Und als die Situation in der Ukraine immer schlimmer wurde, haben wir uns gesagt, dass es jetzt an der Zeit ist, in das Land der Vorfahren zurückzukehren.“Ein Sohn von Ljudmila Bobrowskaja lebt schon seit Jahren in Tschechien. In diesem Jahr haben auch Ljudmila, ihr Mann und ihre vier weiteren Kinder samt Enkeln ihre Koffer gepackt. In Tschechien erwartet alle Erwachsenen eine Starthilfe von 50.000 Kronen (1840 Euro). Zuerst allerdings müssen sie Arbeit finden und eine Wohnung. Unterstützung erhalten sie dabei von der tschechischen Caritas. Svetlana Porche kommt aus der Zentrale in Prag fast täglich nach Červená ins Hotel des Innenministeriums.
„Unsere Klienten können höchsten sechs Monate in diesem Hotel bleiben. Obwohl die Natur hier rundherum wunderschön ist, wollen wir genauso wie die Emigranten, dass sie das Hotel so schnell wie möglich wieder verlassen können. Denn sie sind ja gekommen, um ein neues Leben zu beginnen. Sie wollen ihr eigenes Leben, arbeiten, die Kinder in die Schule schicken und langsam wieder einen normalen Haushalt führen.“Eine Voraussetzung dafür ist die Sprache. Während viele Ältere häufig noch mit dem Tschechischen aufgewachsen sind, fangen die Jüngeren meistens ganz von vorne an. Gleich nach der Ankunft begann für Vadims kleinen Sohn der Schulalltag. Mit dem Bus fährt er nun täglich zur Grundschule ins benachbarte Milevsko.
„Er hat kein einziges Mal gesagt, dass er nicht in die Schule möchte. Er sagt, da sei auch ein Mädchen, das ein wenig Russisch kann. Auch ihre Eltern und die Lehrerin sprechen russisch. Bislang hatte er nur Einsen, nur zweimal eine Zwei, einmal in Naturkunde und einmal in Tschechisch. Langsam beginnt er damit eine Sprache zu verstehen, die er vorher überhaupt nicht kannte.“Vadim kann nun gemeinsam mit seinem Sohn lernen. Zweimal die Woche besuchen auch die Erwachsenen obligatorische Sprachkurse im Hotel Vltava. Marina Jelinek ist die Enkelin von Ludmila Bobrowskaja. Für sie ist das Tschechische nicht ganz fremd.
„Ich höre die tschechische Sprache schon seit der Kindheit, von Großvater und Großmutter. Schwieriger ist es mit der Grammatik und den Zeitformen. Doch es wird schon werden, langsam wird es besser. Ich lese zum Beispiel Kindermärchen und werde lernen, bis ich gut Tschechisch kann.“Großmutter Ljudmila hat ihre Kenntnisse schon vor der Anreise ausgebaut.
„Zum ersten Mal bin ich 2005 für einen Tschechisch-Kurs nach Tschechien gekommen. Außerdem habe ich zwei Kurse zur Methodik des Tschechischunterrichts an der Karlsuniversität absolviert. Bis ins Jahr 2009 war ich die Vorsitzende des Vereins ‚Tschechische Familie‘ in Odessa. Und mit einer Folkloregruppe haben wir an Volksfesten teilgenommen. Außerdem waren wir auf einem Treffen des Turnerbundes Sokol. In Tschechien war ich schon sechsmal.“
Einen solch starken Rückhalt in der tschechischen Kultur haben nur wenige. Erleichtert für fast alle Umsiedler wird der Neustart aber durch Verwandte und Bekannte. Schon lange vor der politischen Katastrophe haben viele Ukrainer ihr Auskommen in Tschechien gesucht, Schätzungen zufolge leben heute etwa 200.000 im Land. Während die Aufnahme von Mittelmeerflüchtlingen in weiten Teilen der tschechischen Bevölkerung auf Widerstand stößt, ist die Solidarität mit den Umsiedlern groß. Sozialarbeiterin Svetlana Porche:„Wir haben schon über 160 Wohnungs- und Jobangebote bekommen. Sie passen nicht immer zu den früheren Anstellungen, den Kenntnissen und Berufen unserer Landsleute. Aber nichtsdestotrotz heißt es, dass die tschechische Gesellschaft das Projekt akzeptiert und darüber Bescheid weiß. Wir sind wirklich überrascht, wie viele Angebote für Wohnungen und Arbeit, Freizeitangebote und materielle Hilfen bei uns eingehen.“
Vier Monate nach Ankunft der ersten Umsiedler ist die Sozialarbeiterin mit den Ergebnissen ihrer Arbeit zufrieden. 120 ukrainische Tschechen hat das Hotel Vltava bisher beherbergt.„Und nun haben schon über 70 Menschen Arbeit und Unterkunft gefunden. Nach ein paar Monaten ist das eine sehr gute Zahl. Denn es braucht Zeit, es ist ein großer administrativer Aufwand, bis alle Nachweise und Dokumente erbracht sind. Es ist nicht möglich, hier anzukommen und sofort irgendwo anzufangen.“
Ein Eingewöhnungskurs über mehrere Wochen soll dabei helfen. Außerdem übersetzen Svetlana Porche und ihre Kollegen Formulare oder gehen mit den Neuankömmlingen direkt zu den tschechischen Ämtern. Nur in einem Fall hat es bisher nicht geklappt. Eine ältere Frau kehrte in die Ukraine zurück.
„Wir haben erwartet, dass die Umsiedlung der älteren Menschen nicht einfach wird. Sie war über 80. Auch die schöne Umgebung konnte ihr nicht darüber hinweghelfen, dass sie lieber zu Hause sein wollte. Doch die meisten kommen mit ihren Familien. Sie können in den Arbeitsmarkt eintreten, sie können sich etwas Neues suchen, und ich denke, es wird ihnen gelingen.“Vadim Hnojilek und seine Familie werden bald innerhalb von Tschechien umziehen. Es geht nach Milovice bei Prag. Dort leben schon Verwandte, die ihm bei der Arbeitssuche helfen wollen.
„Das, was ich in der Ukraine getan habe, kann ich hier leider nicht ausüben. Ich war Polizeibeamter. Einmal ist da die Sprachbarriere, und die tschechischen Gesetze und das hiesige Rechtssystem kenne ich auch nicht. Und wie es weitergeht? Mal sehen. Alles ist möglich.“
Und ganz ähnlich sieht es auch Marina Jelinek:
„In der Ukraine war ich auf der pädagogischen Hochschule. Eigentlich möchte ich mit Kindern arbeiten, und außerdem malen lernen. Trotzdem kann es sein, dass sich hier ein ganz anderer Beruf für mich eröffnet.“