Als die englische Krankheit nach Böhmen kam
Sport Nummer eins in Tschechien ist heute mit Abstand Eishockey, doch das sah früher ganz anders aus. Die junge Tschechoslowakei war eine echte Fußballnation. Nicht nur in Prag, sondern auch in der böhmischen Provinz wurde hochklassiger Fußball gespielt. Zu den Hochzeiten des „Donaufußballs“ stand die Tschechoslowakei knapp vor dem Weltmeistertitel – wäre da nicht Benito Mussolini gewesen. Die Erfolge der damaligen Zeit waren auch ein Erbe der multiethnischen Geschichte – mit dem Einmarsch der Deutschen endete eine Ära.
„Ludwig Stiassny hatte in England die Schule besucht und ist nach Prag gekommen, um dort zu arbeiten. Er wurde Mitglied des Ruderklubs Regatta und hat in diesem Klub den Fußball ein wenig populär gemacht. Er sagte also, es gibt da ein neues Spiel, das ich in England kennengelernt habe: Fußball. Wir könnten es mal ausprobieren.“
Zunächst waren die Ruderer skeptisch, auch die Passanten reagierten eher befremdet auf die Männer in den kurzen Hosen. Es dauerte mehrere Jahre bis Regatta seine eigene Fußballabteilung hatte:„Und dann ist sogar ein eigener Verein daraus hervorgegangen – der DFC Prag, der später für einige Jahrzehnte einer der bekanntesten europäischen Fußballklubs war.“
Zum ausgehenden 19. Jahrhunderts gründeten sich auch die Vereine Slavia und Sparta. Wer zuerst da war, das lässt sich bis heute nicht genau feststellen, sagt Stefan Zwicker. Gerade in der Zwischenkriegszeit war es eine brisante Frage.
„Es gab die beiden tschechischen Vereine Slavia und Sparta, und es gab den deutschen Verein DFC Prag. Jeder wollte der älteste sein. So ganz klar ist es nicht, denn die Vereine haben nicht unbedingt als Fußballvereine angefangen. Das Gründungsdatum muss also nicht unbedingt mit der Zeit übereinstimmen, als man begann Fußball zu spielen. Der DFC wurde 1896 gegründet, Slavia und Sparta sind offiziell älter. Andererseits ist der DFC aus der Fußballabteilung der Regatta hervorgegangen. Darum kann man es schwer beurteilen.“Schon im Königreich Böhmen und Mähren kam es zu Begegnungen zwischen deutschen und tschechischen Vereinen. Doch überwiegend spielte sich der Fußball in Parallelwelten ab – spiegelbildlich zur Prager Gesellschaft. Die Grenzen verliefen nicht nur zwischen den Nationen, sondern auch den Schichten. Alle Klischees über die drei großen Vereine dieser Zeit stimmen nicht, aber…
„Es sind Zuschreibungen, die auch nicht vollkommen falsch sind. Der DFC Prag war der Klub des wohlhabenden, deutschen Bürgertums. Dort haben Menschen jüdischer Herkunft eine große Rolle gespielt. Slavia war der Klub der sehr national eingestellten, tschechischen Intelligenz beziehungsweise ebenfalls des Bürgertums. Hingegen galt Sparta eher als Klub der weniger Begüterten. Später galt er als Arbeiterklub oder Klub des Volkes.“
Volkssport war Fußball zunächst einmal nicht. Man brauchte Stutzen, man brauchte gute Schuhe, und vor allem brauchte man Zeit. Von Freizeit oder gar Freizeitsport konnten die Fabrikarbeiter um 1900 nur träumen. Studenten, Büroangestellte oder Gymnasiasten bevölkerten die ersten Bolzplätze in Prag. Für Oberschüler herrschte allerdings lange ein Fußball-Verbot. Reporter Egon Erwin Kisch, Jahrgang 1885, blickte 1912 mit Neid auf die nächste Generation:
„Man darf jetzt in einen Fußballclub eintreten. Wer uns vor 15 Jahren gesagt hätte, daß einmal eine solche Erlaubnis kommen werde, dem hätten wir nicht zu glauben vermocht. Auf das Fußballspielen standen damals alle Todesstrafen, die die Schule zu fällen hat: strenges Prüfen, Karzer, Repetieren. Selbst bei den Jugendspielen mussten wir, die wir an zehrendem ‚Ballfieber‘, an der ‚englischen Krankheit‘ litten, uns beim Barlaufspiel und beim Passatschlagen langweilen, und erst als wir dann alle von den Jugendspielen wegblieben, erlaubte man uns für jeden Spieltag ein knapp bemessenes Fußballwettspiel.“
Weil Fußball im Bürgertum lange als unschicklich galt, legte sich der spätere Sparta-Spielmacher Karel Pešek sogar einen Decknamen zu.
„Er wollte nicht, dass sein Name in den Zeitungen erscheint. Dass da nicht steht, Pešek hat fünf Tore geschossen. Er befürchtete nämlich, sonst Probleme mit den Lehrern zu bekommen.“Káďa, wie sich Pešek nannte, wurde zu einem der ersten Fußballstars und war sowohl vor als auch nach dem Ersten Weltkrieg erfolgreich. Dabei gab es im Königreich Böhmen noch keine Liga, sondern es waren vor allem Freundschaftsspiele, auch mit internationalen Gegnern, die schnell die Massen in ihren Bann zogen. Die deutschen Vereine mit dem DFC an der Spitze orientierten sich ins Deutsche Reich. Legendär ist dabei ein Spiel aus dem Jahr 1903, das gar nicht stattgefunden hat:
„Der DFC war, obwohl Prag damals zu Österreich gehörte, Mitglied im Deutschen Fußballbund. In der ersten Endrunde um die deutsche Meisterschaft sollte der DFC im Halbfinale gegen den Karlsruher FV spielen. Doch die Karlsruher erhielten ein Telegramm, das Spiel sei abgesagt – angeblich vom DFB. Dieses Telegramm war eine Fälschung – und bis heute weiß man nicht, wer es geschickt hat.“
Trotz kampflosem Einzug ins Finale – für den DFC reichte es nicht. Die Prager unterlagen dem VfB Leipzig mit 2:7. Mit der Teilnahme an deutschen Meisterschaften war es vorbei, als die Fifa 1908 ihre Statuten nach dem Nationalitätenprinzip regelte. Vereine außerhalb des Reichsgebiets durften nicht mehr um die Meisterschaft spielen. Und zuhause bekam der DFC bald Konkurrenz. Nach der Gründung der Tschechoslowakei 1918 begann der Höhenflug eines deutsch-böhmischen Klubs aus dem Norden. Stefan Zwicker:„Der Teplitzer FK aus Teplitz-Schönau, tschechisch Teplice, hatte von 1919 bis 1922 eine der besten Mannschaften in Europa. Das liegt aber auch daran, dass in dieser Auswahl Spieler aus Teplitz wie auch Reichsdeutsche, Tschechen, Österreicher und Ungarn gespielt haben. Es war eine sehr moderne, multiethnische Mannschaft.“
Nach der Staatsgründung wurde unter dem Dachverband der tschechoslowakischen Fußballassoziation der Ligabetrieb eingeführt – ein Spiegelbild des multiethnischen Staates. Gespielt wurde in einer tschechischen, slowakischen, deutschen und ungarischen Liga, daneben gab es auch einen jüdischen und polnischen Verband. Die Vereine aber waren – so wie der Teplitzer FK – keineswegs homogen. Die Tschechoslowakei gehörte bald zu den zehn führenden Wirtschaftsnationen der Welt – und das schlug sich im Fußball nieder, sagt Stefan Zwicker.„Es hat dazu geführt, dass für eine Zeitlang relativ viele Spieler aus den damaligen mitteleuropäischen Fußballhochburgen Wien oder Budapest in Prag oder möglicherweise auch in der böhmischen Provinz Fußball gespielt haben. Denn dort gab es eine stabile Währung, ein stabiles Wirtschaftssystem und keine Inflation wie etwas in Deutschland, Österreich oder Ungarn.“Die Tschechoslowakei war ganz vorne mit dabei beim sogenannten Donaufußballs. Er wurde in den Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches gespielt und bezeichnet einerseits den modernen, technisch anspruchsvollen Stil, den Österreich, Ungarn und die Tschechoslowakei, zum Teil auch in Italien von vielen Teams gepflegt wurde. Und andererseits war es der Name für ein Erfolgsphänomen:
„Man bezeichnete damit auch die Tatsache, dass es in diesen Ländern zumindest teilweise Professionalismus gab, dass die Mannschaften aus diesen Ländern damals in Kontinentaleuropa die stärksten waren, und dass mit dem Mitropa-Cup erstmals ein internationaler Wettbewerb ausgetragen wurde.“
1927 und 1935 holte Sparta Prag den Pokal, 1938 hieß der Sieger Slavia Prag. Genauso wie die Vereine waren die Nationalmannschaften dominiert vom Donaufußball. Die österreichische Wunderelf griff dabei auf Spieler mit tschechischen Wurzeln zurück wie Josef „Pepi“ Bican und Matthias Sindelar. Die Tschechoslowakei kam 1920 immerhin ins Halbfinale der Olympischen Spiele. 1934 scheiterte sie im Kampf um die Weltmeisterschaft knapp mit 1:2. Dabei waren es wohl weniger sportliche Gründe, weshalb das Team um Oldřich Nejedlý und František Plánička schließlich unterlag:„Man hat im Finale gegen Italien gespielt, dort wurde das Turnier auch ausgetragen. Es herrschte der sogenannte ‚Duce‘ Benito Mussulini. Und es wird tradiert, dass der Schiedsrichter instruiert war, dass die Italiener gewinnen müssten. Interessanterweise hat er sowohl das Halbfinale Österreich-Italien als das Finale Italien-Tschechoslowakei gepfiffen. In beiden Spielen hat er Italien massiv bevorteilt.“
Wenige Jahre später überrollte der Faschismus auch die Tschechoslowakei. Anders als etwa im besetzten Polen ließen die Deutschen nach dem Einmarsch 1938 weiter Fußball spielen. Doch das war reines Kalkül, sagt Stefan Zwicker.
„Im sogenannten Protektorat gab es weiterhin eine tschechische Fußballliga, die im Prinzip sogar mehr oder weniger auf dem Niveau der Vorkriegszeit weitergespielt hat. Das war Bestandteil dieser sogenannten Scheinnormalität, wie es etwa auch tschechisches Theater und Filme gab.“Eine Normalität, die nicht für die jüdischen Spieler und Funktionäre galt. Die meisten wurden von den Nationalsozialisten in Konzentrationslager verschleppt und ermordet. Jüdische Spieler wie der ehemalige DFC-Profi Paul Mahrer fanden sich ab 1941 in der „Ghetto-Liga“ in Theresienstadt wieder. Für den womöglich ersten Prager Fußball-Verein, der stolz war auf seine deutsch-nationale Gesinnung, bedeutete das Aufkommen der Sudetendeutschen Partei das Ende. Mit seiner jüdischen Tradition wehrte er sich gegen die Gleichschaltung im deutschen Fußballverband und wurde 1939 offiziell aufgelöst.