Václav Hrabě: Vor 50 Jahren starb der tschechische Beatnik und Kultpoet

Václav Hrabě (Foto: Repro Blues pro bláznivou holku)

In diesem Jahr werden in Tschechien gleich zwei Jubiläen des Dichters Václav Hrabě begangen: Der 75. Geburtstag und 50. Todestag. Die einzigartige Persönlichkeit der tschechischen Literatur, deren Einordnung in den historischen Kontext Jahrzehntelang umstritten war, wurde nach seinem Tod zum Kultpoeten. Ungeachtet der politischen Umstände haben ihn insbesondere junge Menschen mehrerer Generationen für sich entdeckt.

Václav Hrabě  (Foto: Repro Blues pro bláznivou holku)
Václav Hrabě wurde am 13. Juni 1940 in die Familie eines Eisenbahners geboren, die in der mittelböhmischen Gemeinde Lochovice lebte. Die ersten Texte veröffentlichte der angehende Dichter noch als Gymnasiast in der Lokalzeitung der Kreisstadt Beroun/Beraun. Seine Mitschüler und Freunde erinnerten sich später an ihn als einen begabten, wissbegierigen, wahrheitsliebenden Menschen und musikalisch talentierten Autodidakten. Neben dem Geigenspiel, auf dem die Eltern bestanden, brachte er sich selbst Klarinette und Saxofon bei. Von 1957 bis 1961 studierte Václav Hrabě an der Pädagogischen Hochschule in Prag Geschichte und Tschechisch, doch mehr als das Studium interessierte ihn die Musik. Genauer gesagt der Jazz. Mit einem Kommilitonen gründete er ein Orchester mit dem Namen „Dixie24“, das zwei- bis dreimal die Woche abends in Prager Musikklubs auftrat. Nach dem zweijährigen Pflichtwehrdienst weigerte sich Hrabě, eine Lehrerstelle in der grenznahen Stadt Kraslice / Graslitz anzutreten. Zu dieser Zeit war er schon verheiratet und frischgebackener Vater eines Sohnes, wollte daher in Prag bleiben und auch dort arbeiten. Das tat er auch – zum Beispiel als Hilfsarbeiter, Beleuchter im populären „poetischen Café Viola“, Bibliothekar, Erzieher in einer Berufsschule und zuletzt als Grundschullehrer. Daneben widmete sich Hrabě intensiv und in der Regel nachts seiner literarischen Tätigkeit sowie musikalischen Auftritten in Prager Klubs. Dies alles um den Preis ständiger Erschöpfung und eines permanenten Schlafdefizits. Auch die Ehe scheiterte letztlich daran. Nach der Scheidung bewohnte er mit seiner Ex-Frau und dem gemeinsamen Kind weiterhin die kleine Einzimmerwohnung auf der Prager Kleinseite, später kam auch noch der neue Ehemann hinzu. Hraběs Arbeits- und Schlafzimmer war die Küche. Am 5. März 1965 kam der Dichter gegen drei Uhr morgens nach Hause und zündete wie gewohnt das Backrohr im Gasherd an, um den Raum zu heizen. Doch die Flamme ging wieder aus und Hrabě starb im Schlaf an einer Kohlenstoffvergiftung.

Zu Hraběs Lebzeiten erschienen nur vereinzelte seiner Gedichte beziehungsweise Prosatexte in verschiedenen Zeitschriften. Darunter zum Beispiel in der Kulturzeitschrift „Tvář“, auf Deutsch Gesicht, für die er kurze Zeit auch als Lektor arbeitete. Der Zeitschrift, in der auch der junge Václav Havel publizierte, war allerdings kein langes Leben beschieden. Der Grund? Sie orientierte sie sich nicht an den marxistischen Positionen. Der „Tvář“-Redakteur und Dichter Jiří Gruša, der nach der Wende von 1989 tschechischer Botschafter in Deutschland und Österreich wurde, erinnerte sich folgendermaßen an Václav Hrabě:

„Er war ein innerlich freier Mensch. So etwas erkennt man insbesondere in unserer tschechischen Gesellschaft. Die innere Freiheit ist ein sonderbares Gut. Die Menschen, die sie besaßen, hatten immer ein schwereres Leben. Hrabě war der typische Mensch, der nur schreiben wollte. Er suchte die Freiheit, war aber kein Faulpelz.“

Außerhalb der Prager Klubszene beziehungsweise über Prag hinaus war Hrabě während seines Lebens eher unbekannt. Auch für Miroslav Kovářík:

Foto: panton
„Wir haben in den 1950er Jahren an derselben Hochschule studiert. Ich allerdings im Fernstudium, Hrabě im Präsenzstudium. Später traf ich ihn in ´Viola´, wo er als Techniker arbeitete. Es waren aber ganz kurze Begegnungen, bei denen mir überhaupt nicht bewusst war, welch wichtiger Mensch er in meinem Leben werden sollte. Damals hatte ich nicht einmal eine Ahnung, dass er Gedichte schreibt.“

Kurz nach Hraběs Tod hat dessen Poesie Miroslav Kovářík in seinen Bann gezogen. Er wurde zum Rezitator seiner Werke und rückte den verstorbenen Dichter damit ins Licht der Öffentlichkeit.

„Seine Poesie ist hinreißend. Sie hat mir aus der Seele gesprochen, um es mit einfachen Worten zu sagen. Ich konnte mir seine Verse für ein halbes Jahr ausleihen und habe keinen Moment gezögert. Mit dem Team des Poesie-Theaters im nordböhmischen Litvínov, das ich damals leitete, studierten wir binnen weniger Monate ein abendfüllendes Programm ein. Es trug den Titel ´Stop Time´- ein Requiem für Václav Hrabě´. Die Rezitation von Hraběs Gedichten war mit Mozarts thematisch passender Komposition untermalt. Mit der Vorstellung tourten wir dann durch das ganze Land.“

Die Premiere fand im März 1966 und im Mai desselben Jahres auch im Prager Viola-Theater statt. Außerdem bot „Das ziemlich kleine Theater“, so der offizielle Titel der Bühne von Litvínov, dem Publikum die vorgetragenen Gedichte auch in Druckform als Teil des Programmheftes an. Ein Ausweichmanöver sei das gewesen, weil ein Buch mit Hraběs Gedichten wegen der Zensur nicht möglich gewesen sei, behauptet Kovářík. Doch auch so fanden die Verse viel Resonanz und wurden handschriftlich und im sogenannten Samisdat verbreitet. Insbesondere unter den Jugendlichen. Ein Teil der Texte wurde auch vertont und gesungen. In Jazz-, Blues- oder Rock-Arrangements. Legendär wurde zum Beispiel der Titel „Variationen auf ein Renaissancethema“ in der Darbietung von Vladimír Mišík. Bekannt ist er auch unter dem Namen „Večernice“/Abendstern.

„Die Liebe ist wie ein Abendstern, der am schwarzen Himmel schwimmt. Riegelt die Türen ab und löscht alle Kerzen im Haus, steckt die Körper in eine Festung hinein, in denen die Herzen versteinerten…“

Václav Hrabě wird hierzulande allgemein als Vertreter der tschechischen Beat Generation empfunden. Die Poesie der amerikanischen Beatniks, die seit Anfang der 1960er Jahre auch langsam in die Tschechoslowakei vorzudringen begann, hatte es dem Dichter angetan. Auch der Klang seiner Verse wurde vom Rhythmus der Jazz- und Bluesmusik beeinflusst. Václav Hrabě kopierte er aber seine amerikanischen Idole nicht. Sein Freund Rudolf Matys, ein Kulturredakteur des Tschechischen Rundfunks, erinnerte sich in einem Fernsehinterview, was ihm Václav seinerzeit sagte:

Rudolf Matys  (Foto: Kristýna Maková)
„Weißt du, ich finde die Beatnik- Gefühle viel authentischer bei den Amerikanern, wo es endlose Betonlandschaften und den Wahnsinn des rechten Winkels gibt. Dort ist es für den Dichter notwendig, das Terrain innerlich unregelmäßig und krumm zu machen. Ich aber lebe hier auf dem schönsten gekrümmten Standort der Welt. Eine derartige Anregung brauche ich eigentlich nicht.“

Für den tschechischen Literaturwissenschaftler Jiří Rambousek war Hraběs Leben und Werk gekennzeichnet von der Suche nach Wahrhaftigkeit. 2003 notierte der Philologe folgende Sätze über den Dichter.

„Als Hrabě begann, seine Verse in Zeitschriften zu veröffentlichen und in den Musikklubs wie Reduta oder Viola selbst vorzutragen, gaben andere Vertreter seiner Generation schon ihre ersten Poesiebände heraus. Was Hrabě mit seinen Altersgenossen gemeinsam hatte, war die Abneigung gegen das Spießerhafte. Auch in der sozialistischen Gesellschaft. Ein ausgeprägtes Merkmal seiner Poesie, seiner Persönlichkeit und zugleich auch der Literaten der 1960er ist das Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Emotionalität. Hrabě unterstreicht vor allem die Rolle der Liebe im menschlichen Leben. Intensiv ist bei ihm und seinen Altersgenossen das Streben nach Authentizität sowie der Wunsch, dass ihre Verse nicht als eine pure Pose oder Lüge empfunden werden.“

Im Februar 1965 ging für Hrabě ein Traum in Erfüllung. Im Prager “Viola”, wo schon seit geraumer Zeit Texte amerikanischer Beatniks auf dem Programm standen, begegnete er Allen Ginsberg.

'Blues für ein verrücktes Mädchen'  (Foto: Labyrint)
Die Poesie von Václav Hrabě wurde seit Ende der 1960er Jahre von Lesern und Zuhörern intensiv, allerdings auch ganz unterschiedlich reflektiert. Ebenso von Literaturwissenschaftlern, Kritikern oder Essayisten, die unzählige Seiten über ihn verfassten. Die Einordnung von Hraběs Werk in den Kontext der tschechischen Literatur fiel mal positiv, mal negativ aus und reflektiert damit die wechselhafte Kulturpolitik des kommunistischen Regimes. Die politisch geprägte Sichtweise auf die Literatur war nach der Wende von 1989 passé. Das Bild von Václav Hrabě wurde jedoch weiterhin vielfältig interpretiert und konstruiert. Grund dafür war der umfassende literarische Nachlass des Dichters, der erst Mitte der 80er Jahre auftauchte. 1990 konnte der bis dato umfassendste Sammelband mit Hraběs Gedichten und Prosatexten veröffentlicht werden. Seine Editoren gaben ihm den Titel „Blues für ein verrücktes Mädchen“. So wollte Hrabě einst selbst einen Gedichtband nennen, der jedoch nie erscheinen konnte. „Wenn ich schon sterben sollte, legt mir Sterne auf den Sarg, und ein bisschen braune Erde, die wärmen kann wie das Blut. Spielt im Friedhof eine Geigensonate, in der Meeresmuscheln und die Sonne der Passatwinde zu hören sind. …“.,

schrieb Václav Hrabě in einem seiner Gedichte. Es endet mit den Worten:

„Es ist ein Ärgernis, gerade jetzt im Sommer zu sterben.“