„Mehr Wissen über sowjetische Pläne“ - Historiker Prečan zu neuen Akten über den „Prager Frühling“
An der Universität Cambridge kann seit kurzem das so genannte Mitrochin-Archiv eingesehen werden - Aufzeichnungen von Wassili Mitrochin, einem ehemaligen Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes KGB, die dieser über 30 Jahre lang gemacht hatte und 1992 nach Großbritannien schmuggelte. Unter anderem befinden sich in dem Archiv Aufzeichnungen über die Infiltration von Undercover-Agenten in die damalige Tschechoslowakei, die auf die wichtigsten Kräfte der Reformbewegung „Prager Frühling“ angesetzt wurden. Das Mitrochin-Archiv, das in Auszügen bereits 1999 in Buchform veröffentlicht wurde, gilt als umfangreichstes Archiv seiner Art. Mehr über die Bedeutung der jetzt erstmals in vollem Umfang zugänglichen Akten im Interview mit dem Historiker Vilém Prečan.
„Zum Beispiel etwas mehr über die Treffen der führenden prosowjetischen führenden tschechoslowakischen Kommunisten mit den KGB-Leuten. In dem Buch findet sich dazu nur ganz allgemein die Angabe, dass diese Treffen stattfanden, noch vor dem 21. August 1968. Darunter waren Leute, die dann für die zu installierende kollaborationistische Regierung ausersehen wurden.“
Von der Invasion der Warschauer Pakt Truppen in die Tschechoslowakei im August 1968 waren Sie persönlich betroffen: Sie wurden aus der Akademie der Wissenschaften entlassen und konnten nur noch als Hilfsarbeiter ihr Geld verdienen. 1976 sind Sie nach Deutschland emigriert und haben dort zum Prager Frühling geforscht. Auf welche „weißen Flecken“ sind Sie gestoßen, welche Fragen konnten Sie bis zur Veröffentlichung der Mitrochin-Akten nicht beantwortet bekommen?„Was wir am wenigsten kannten, waren selbstverständlich die sowjetischen Dokumente, die Parteidokumente der Kommunistischen Partei. Was Mitrochin zusammengetragen hat aus den KGB-Akten, das betrifft die Aktionen des KGB, insbesondere die Aktion „Progress“, darüber wussten wir bis zum Jahr 1999 überhaupt nichts.“ (1999 veröffentlichte Wassili Mitrochin gemeinsam mit dem britischen Militärhistoriker Christopher Andrew das Buch: The Mitrokhin Archive: The KGB in Europe and the West veröffentlicht, Anm.d.Red.)
Wie sah diese Aktion „Progress“ aus – und insgesamt die Rolle des KGB im „Prager Frühling“?„Das spielte sich auf verschiedenen Ebenen ab. Die erste Ebene – das war eigentlich die Aktion ‚Progress‘: Etwa zwölf so genannte ‚Illegale‘, das waren KGB-Agenten, die im Westen tätig waren, mit fremden Identitäten und Pässen ausgestattet, reisten in die Tschechoslowakei ein und lebten hier mehrere Wochen und Monate. Hier bereiteten sie verschiedene Aktionen vor, z.B. die versuchte Kidnappung zweier namhafter Schriftsteller: des alten Professors Václav Černý und des Schriftstellers Jan Procházka. Beide sollten in die DDR entführt werden. Eine weitere wichtige Aktion war der so genannte Waffenfund von Falkenau / Sokolov. Eine Gruppe, die in der sowjetischen Botschaft residierte, hat dort anonym auf ein Versteck mit Waffen aufmerksam gemacht. Das wurde publik gemacht und die sowjetische Presse und die Presse in anderen sozialistischen Ländern haben darüber berichtet. Und von den Sowjets wurde das so interpretiert, dass die Waffen von Sudetendeutschen dort deponiert wurden für eine Aktion in der Tschechoslowakei. Durch die Medialisierung dieser Aktion wurde die öffentliche Meinung in der Sowjetunion und anderen Ländern beeinflusst.“
Inwiefern?„Beeinflusst gegen die Reformbewegung des ‚Prager Frühlings‘ in der Tschechoslowakei. Weil da angeblich Waffen vorbereitet wurden etc.“
Verändert sich, glauben Sie, durch die Veröffentlichung des Mitrochin-Archivs die Sicht auf den „Prager Frühling“ und die Invasion vom August 1968?
„Nein, nein, es verändert sich nichts, nur werden wir mehr darüber wissen, was alles die Sowjets gemacht und vorbereitet hatten.“
Wie bewerten Sie insgesamt den Diskurs über die kommunistische Vergangenheit in Tschechien nach 1989? Sie sind ja im wissenschaftlichen Beirat des Instituts für das Studium totalitärer Regime (ÚSTR), eine Art tschechische Birthler-Behörde. Und in den letzten Jahren gab es ja eigentlich permanent Streit um dieses Institut – wo ist das Problem?
„Wo ist das Problem? In mehreren Richtungen. Das erste ist die Beeinflussung dieses Instituts durch die Politik. Der Senat entscheidet über die Zusammensetzung des höchsten Organs dieses Instituts, des siebenköpfigen Rats. Dieser Rat liefert jedes Jahr Bericht an den Senat und ernennt den Direktor des Instituts. Und weil sich die Zusammensetzung des Senats aus politischen Parteien nach jeden Wahlen ändert, verändert sich auch der politische Einfluss. Jede politische Partei will das Institut irgendwie beeinflussen, seine Tätigkeit.“Das ist sozusagen ein Geburtsfehler des Instituts?
„Ja, das ist ein Geburtsfehler. Weil es keinen politischen Konsens gibt über die Tätigkeit des Instituts. Als das Institut im Jahr 2007 gegründet wurde, waren etwa die Sozialdemokraten dagegen und gingen sogar mit einer Klage vor das Verfassungsgericht.“