„Sudetendeutschen fehlt kritische Auseinandersetzung“ – 20 Jahre deutsch-tschechischer Dialog
Die gemeinsame tschechisch-deutsche Geschichte – sie hat jahrzehntelang eher getrennt als vereint. Erst nach der politischen Wende von 1989 konnte ein Dialog auch über die schmerzvollsten Erfahrungen begonnen werden: über die nationalsozialistische Verfolgung und über die Vertreibung nach dem Krieg. Mittlerweile wird über vieles bereits offener geredet, gerade weil die Deutsch-tschechische Erklärung von 1997 das Thema Geschichte für eine gewisse Zeit aus der Politik verbannt hat. Wie sich das Klima gewandelt hat, ließ sich auch am vergangenen Wochenende feststellen. Beim 20. Deutsch-tschechischen Brünner Symposium, dem so genannten Dialog in der Mitte Europas, wurde eine Art Zwischenbilanz über den Umgang mit der gemeinsamen Geschichte gezogen. Neben dem bahnbrechenden Erfolg der Deutsch-tschechischen Erklärung ging es auch um mögliche verpasste Chancen oder Tabus im tschechisch-deutschen oder tschechisch-österreichisch Dialog.
Herr Gruša, die tschechisch-deutschen Beziehungen sind – wenn man den Politikern glauben will – so gut wie noch nie. Sie haben die Frage aufgeworfen, inwieweit die Deutsch-tschechische Erklärung dabei einen Wendepunkt darstellt. Wenn Sie selbst eine Antwort versuchen: Ist es denn das entscheidende Dokument gewesen, das den Hebel umgelegt hat?
„Ja, so sehe ich das. Denn dort sind zwei Selbstreflexionen enthalten, die eine psychologische Balance zwischen den beiden Partnern oder bis damals noch Feinden schaffen. Diese Selbstreflexion, doppelt aber separat, ermöglichte das Verlassen der alten Rituale, die darin bestanden, den anderen zu beschuldigen und ihn damit nicht zum Nachdenken zu zwingen. Das psychologische Gleichgewicht bedeutet, dass beide Seiten das eigene Negative endlich einmal betrachten können. Das ermöglicht letztlich eine positive Lebenshaltung. Und das ist uns damals gelungen.“
Nun hatten die Westdeutschen 40 Jahre Zeit für eine gewisse Art von Vergangenheitsbewältigung, aber die Tschechen sind im Vergleich erst auf der halben Strecke, wenn man das Jahr 1989 nimmt…„Ja, ja, wir sind soweit wie Deutschland im Jahre 1965. Die psychologische Arbeit in Deutschland, was die Geschichte betrifft, war zwischen 1975 und 1980 beendet. Die Tschechen müssen also noch ein bisschen daran arbeiten, und was mich erfreut hat in der letzten Zeit: Sie tun es. Aber wie gesagt: Es muss psychotherapeutisch betracht werden. Und man braucht für eine psychische Gesundheit und gegenseitige gute Beziehungen eine dreistufige Entwicklung. Zuerst dies zu erkennen, zweitens das nicht zu delegieren oder zu einer historischen Vendetta zu machen und drittens die Kooperation zu versuchen. Das dauert jeweils eine Generation lang. Wir sind jetzt auf der dritten Stufe, also daraus das Gemeinsame zu machen.“
Könnten Sie sich vorstellen, dass etwas Ähnliches wie die Deutsch-tschechische Erklärung auch im Fall der tschechisch-österreichischen Beziehungen eine Hilfe sein könnte?
„Ich war ja in beiden Ländern dabei. Wir haben auch mit Österreich etwas erreicht. Aber die österreichische Subjektivität hat sich von der deutschen getrennt. Das heißt: Wenn die Österreicher sagen, sie seien nicht dabei gewesen, warum sollen wir dann eine ähnliche Erklärung aufsetzen? Obwohl die Erklärung genauso gut auch im österreichischen Kontext wirken würde. Nur auf der Ebene der politischen Subjektivität können wir das nicht machen.“
Aber es wäre ja prinzipiell möglich zu sagen, was die Idee der Deutsch-tschechischen Erklärung ist, dass man die historischen Probleme für die aktuelle Politik außen vorlässt. Und es gibt ja auch schon eine tschechisch-österreichische Historikerkommission. Man könnte also doch etwas erreichen.
„Das läuft auch, das ist ja klar. Nur dürfen Sie nicht vergessen, dass in der alten Monarchie praktisch alle Österreicher waren. Es ist also dasselbe Volk – mental und im politischen Denken. Wenn man heute die innenpolitische Lage in Österreich und bei uns vergleicht, dann muss man sich nur von der Sprachfrage befreien. Das wahre Problem der Tschechen und der Österreicher besteht darin, dass sie ein Volk sind und das eigentlich auch wissen. Für ihre Identität brauchen sie aber dann Temelín oder irgendetwas, um sich zu unterscheiden.“
Eine Frage noch, die Sie wahrscheinlich kurz beantworten werden, aber trotzdem: Sehen Sie auch, dass die Deutsch-tschechische Erklärung genau im vergangenen Jahr noch einmal große Wirkung gezeigt hat, und zwar mit Seehofers Besuch in Prag als erster bayerischer Ministerpräsident?„Ja, Gott sei Dank. Und ohne diese psychologische Arbeit wäre das gar nicht möglich gewesen. Eigentlich, würde ich sagen, hat mit dem Besuch die Periode der Auseinandersetzung ihr Ende erlebt.“
Herr Kunštát, bei der Konferenz wurden heute als ein Thema eventuelle verpasste Chancen in den tschechisch-deutschen Beziehungen angesprochen und vielleicht sogar Tabus. Sie haben über die tschechische Seite referiert. Sehen Sie in irgendeiner Weise, dass nach der Deutsch-tschechischen Erklärung von 1997 noch etwas offen geblieben ist, was man eigentlich lösen müsste?
„Die Deutsch-tschechische Erklärung war natürlich kein historischer Text. Aber auch die Politiker haben sozusagen diese Ware mit der Begründung verkauft, sie sei unter anderem ein Instrument für eine entkrampfte Reflexion. Irgendwie wirkte die Geschichte, die Vergangenheit nicht mehr als Blockade, das war wichtig. Aber trotzdem: Diejenige Formeln, die dafür in der Erklärung gefunden wurden, waren natürlich ein Kompromiss. Es musste die geschichtliche, politische und völkerrechtliche Ebene berücksichtigt werden. Deshalb wurden die Verhandlungen so schwierig und die Formeln sind so genau austariert. Aber ich finde, in der Nachfolgezeit wurde immer oder häufig auf der tschechischen Seite die Deklaration und die Erklärung sozusagen als Schlusspunkt hinter diesem Reflexionsprozess aufgefasst. Das entspricht nicht den damaligen Realitäten: Sowohl Bundeskanzler Kohl, als auch der damalige tschechische Außenminister Josef Zieleniec haben von einem Doppelpunkt gesprochen. Das heißt natürlich nicht die Totalrevision der Erklärung, sondern es geht darum, über die Dinge zu sprechen. Und das war nicht immer der Fall. Irgendwie wurde die Deutsch-tschechische Erklärung von der Politik manchmal in den Diskussionen als Maulkorb benutzt, was frustrierend wirkte. Das war aber ganz sicher nicht die Intention dieser Erklärung.“
Glauben Sie oder befürchten Sie, dass mit den jüngeren Politikern, die ja nicht mehr an der Deutsch-tschechischen Erklärung mitgearbeitet haben, diese Sicht auf die Erklärung als Punkt anstatt Doppelpunkt zunimmt?
„Ich glaube, die jüngeren Politiker betrachten die Deutsch-tschechische Erklärung als historisches Dokument, an das rituell immer bei verschiedenen tschechisch-deutschen Treffen auf der höchsten Ebene dankbar erinnert wird. Es ist zwar keine Regierungserklärung, aber die Regierungen fühlen sich verpflichtet gegenüber dieser Erklärung, das ist ganz unbestritten. Aber was eigentlich von der Erklärung bleibt, das ist dieser konkrete Satz, dass beide Seiten ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden Fragen belasten wollen, sowohl rechtlich als auch politisch. Das ist sehr wichtig, das wird bleiben. Die anderen Teile der Erklärung sind entweder umgesetzt, also die dort vorgesehenen Institutionen funktionieren bereits, oder wurden verwirklicht, wie die Entschädigung der Nazi-Opfer. Das heißt, die Erklärung ist teilweise schon konsumiert. Und was die Geschichte anbelangt, da glaube ich eben weil diese Fragen unsere bilateralen staatlichen Beziehungen nicht mehr belasten, dass hoffentlich bei dieser Generation der Politiker die Maulkorbfunktion der Erklärung nicht mehr funktionieren wird. Ich bin also eher optimistisch. Aber in den ersten Jahren danach hatte ich sehr intensiv einen anderen Eindruck.“
„Ich habe ja zunächst dafür plädiert, dass man sich Gedanken darüber macht, ob es ausreicht, nur von zwei Seiten zu sprechen, nämlich von der deutschen und von der tschechischen. Mein Plädoyer ist, eher von einem Dreieck zu reden, also die sudetendeutsche Seite noch einmal von der deutschen abzuheben. Ich will damit nicht sagen, die Sudetendeutschen würden nicht auch von der deutschen Regierung vertreten. Aber die Problematik lässt sich so besser herausschälen und der weitere historische Hintergrund besser fassen. Denn die direkte deutsch-tschechische Konfrontation reduziert sich auf sieben Jahre vom Münchner Abkommen bis zum Kriegsende. Die Vorfahren von Tschechen und Sudetendeutschen haben aber mehr als 700 Jahre zusammengelebt. Das ist eine ganz andere Zeitdimension, und die ist natürlich auch für das Selbstverständnis ganz wichtig. Ich habe weiter darauf hingewiesen, dass es im deutschen Bereich sehr wohl in den letzten Jahrzehnten eine intensive kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit gegeben hat, dass es dies aber speziell im sudetendeutschen Bereich nicht gegeben hat. Da besteht geradezu ein Defizit, auch ein Tabu auf gewisse Weise. Ich habe den Eindruck, dass die Sudetendeutschen oft nicht bereit oder nicht in der Lage sind, vor dieser leidvollen Erfahrung der Vertreibung auch ihre Mitschuld und ihre Mitverantwortung für die NS-Herrschaft im Sudetengau und im Protektorat wahrzunehmen und aufzuarbeiten. Das sollte noch erfolgen, damit der Dialog weitergehen kann.“
Sehen Sie das Defizit eher explizit bei der Landsmannschaft, oder geht das quer durch? Denn die Sudetendeutschen differenzieren sich ja in verschiedene Gruppen und ihre Erfahrungen – zum Beispiel die Seliger-Gemeinde, in deren Reihen viele Antifaschisten waren. Muss man da nicht differenzieren?„Auf alle Fälle. Ich denke, man sollte sowieso dazu übergehen, ein viel differenzierteres Bild der Sudetendeutschen zu zeichnen. Ich halte es auch nicht für gewinnbringend, die Landsmannschaft sozusagen als den bösen Block der Sudetendeutschen darzustellen. Die Landsmannschaft ist in sich sehr vielfältig, es gibt ganz unterschiedliche Stimmen dort. Nach wie vor habe ich großen Respekt davor, dass damals Bernd Posselt als höchster Repräsentant Worte der Entschuldigung im tschechischen Fernsehen vorgetragen hat. Das war eine sehr mutige Tat, aber es sind bisher eben immer nur Einzelstimmen. Es fehlt bis zum heutigen Tag auch eine Entschließung der Landsmannschaft als größter sudetendeutscher Vereinigung, die ja den Anspruch hat, alle zu vertreten. Dann hätte es quasi einen offiziellen Charakter und wäre nicht nur ein Bekenntnis einzelner. Es wird einfach noch ein bisschen blockiert. Auf der tschechischen Seite besteht eine sehr große Angst, dass ein Nachgeben das Unrechtsregime des Dritten Reiches sozusagen bagatellisieren könnte, aber es gibt eine spiegelbildliche Angst auf der sudetendeutschen Seite, dass einfach die Vertreibung als reiner Bagatellfall, als Folgefall dargestellt werden könnte. Und wenn wir bei dem Dreieck bleiben, dann ist es bezeichnend: Es gibt eine tschechische Angst, es gibt eine sudetendeutsche Angst, aber es gibt keine deutsche Angst. Da sieht man vielleicht noch einmal, wie wichtig es ist, differenzierter vorzugehen.“