„Keine Perspektive“ - Bára Procházková über die Stimmungslage in Tschechien
Seit 15 Jahren schon führt das Meinungsforschungsinstitut Stem alljährlich eine Umfrage durch, in der die Tschechen ihre eigene Gesellschaft bewerten sollen. Die Journalistin Bára Procházková hat sich intensiv mit den Ergebnissen für das Jahr 2010 befasst. Richtig rosig sieht es nicht aus, die Tschechen befinden sich in einer Phase der Ernüchterung, erklärte sie im Gespräch mit Christian Rühmkorf.
„Gut“ – was für die materielle Seite gilt, gilt das auch dafür, wie die Tschechen den aktuellen Zustand ihrer Gesellschaft betrachten – also „gut“?
„Nein, leider gilt das Gegenteil. Als das Meinungsforschungsinstitut gefragt hat, mit welchem Wort die Befragten die tschechische Gesellschaft beschreiben würden, haben sie eindeutig geantwortet: mit dem Wort ‚bordel’.“
Dazu muss man erklären, dass ‚bordel’ im Tschechischen ein universell verwendbares Wort ist, das nicht ein gewisses Etablissement meint, sondern schlicht Chaos bedeutet.
„Aber es ist ein sehr negatives Wort. Die zweite Frage war, was die Menschen damit meinen. Denn Chaos kann vieles bedeuten. Die Antwort war: Die tschechische Bevölkerung vermisst klare Spielregeln. Die Menschen sagen, ‚für jeden gilt hier eine andere Regel’ und das finden sie nicht gut.“
Es gibt ein Ranking, das zeigt, womit die Menschen besonders zufrieden und besonders unzufrieden sind. Ganz unten auf der Liste, also am schlechtesten bewertet wurden: soziale Sicherheit, die politischen Parteien, die Redlichkeit in der Wirtschaft, die Lebensbedingungen junger Familien und die Folgen der Privatisierung. Das klingt so, als wären seit der Samtenen Revolution nicht 20, sondern erst zehn Jahre vergangen.
„Da haben Sie Recht. Wenn man sich die langfristige Entwicklung der Umfrageergebnisse anschaut – also was die befragten Personen in den letzten 15 bis 20 Jahren geantwortet haben – sieht man, dass wir jetzt zurückkehren zum Ende der 90er Jahre. Damals, zehn Jahre nach der Wende, ist in der Gesellschaft die erste Welle von Skepsis aufgekommen. Es gab den ersten politischen Skandal, das so genannte Sarajewo-Attentat auf den damaligen Premierminister Václav Klaus. Damals gab es auch die ersten Korruptionsaffären. Die Menschen waren sehr skeptisch, denn sie haben festgestellt, dass es der Tschechischen Republik und der Bevölkerung zehn Jahre nach der Wende nicht so gut geht, wie sie am Anfang gehofft hatten.“Jetzt kehrt diese Skepsis in der wieder Gesellschaft zurück – und das hat scheinbar keine materielle Ursache.„Genau, jetzt kommt diese Ernüchterung wieder. Man sieht das ganz deutlich an den Umfrageergebnissen. Es gibt viele Erklärungen dafür, was diesmal der Grund sein kann. Einmal kann es sein, dass eine Zukunftsperspektive fehlt. Diesmal müssen Menschen auch tiefer in die Tasche greifen und viel sparen, aber sie wissen nicht warum. In den 90er Jahren wussten sie, warum. Damals haben die Politiker gesagt: ‚Wenn wir uns alle bemühen, dann geht es uns besser.’ Damals haben die Menschen das geglaubt. Aber jetzt sagen die Politiker: ‚Wir müssen die Situation retten, damit es nicht voll in die Hose geht.’ Das heißt, keiner gibt den Menschen die Perspektive: Wenn wir uns alle anstrengen, dann wird es uns besser gehen.“
Im Grunde bedeutet das, hier fehlt eine positive Motivation für die Menschen, Probleme anzugehen.„Ja. Das kann man ganz genau an dem aktuellen Problem der Rentenreform sehen. Man sagt, wir brauchen unbedingt eine Rentenreform, aber die Generation, die heute jung ist, wird in Zukunft sowieso keine Rente bekommen. Wenn sie das von einem Politiker gesagt bekommen, haben die Menschen doch gar keine Motivation, sich anzustrengen und zu sparen. Der Politiker müsste eigentlich sagen: ‚Lasst uns doch gemeinsam eine Rentenreform machen. Uns geht es vielleicht jetzt allen schlechter, aber in Zukunft wird es uns allen gut gehen.’“
Wie nehmen die Tschechen eigentlich den Staat und das demokratische System wahr? Es hört sich so an, als läge es außerhalb ihrer persönlichen Lebenswirklichkeit?
„Die Tschechen betrachten die demokratischen Prinzipien des Staates leider sehr negativ. Das ist eine alarmierende Nachricht dieser Untersuchung.“Also die demokratischen Prinzipien, wie sie hier gelten?
„Ja. Zum Beispiel wurde gefragt: ‚Glauben Sie den Gerichten?’. Die Menschen haben darauf mit ‚nein’ geantwortet, das ist alarmierend. Denn dass die Gerichte entscheiden, ist ein wichtiges Prinzip der demokratischen Gesellschaft.“
Die Politologin Anna Matušková interpretiert die Ergebnisse der Studie so: Tschechen erwarten vom Staat mehr als von sich selbst. - Ist das eine plausible Erklärung?
„Ja. Die Tschechen sind so eingestellt, dass sie erwarten, dass das System für sie etwas macht. Das Individuum an sich kümmert sich nur um sich selber und keiner hat das Gefühl, man müsse für den Staat etwas machen. Sondern der Staat solle für uns etwas machen.“
Ist das ein postkommunistisches Phänomen, das sich in Zukunft auflösen wird?„Das muss sich ändern, denn es kommt eine junge Generation nach, die es gewohnt ist, sich mehr zu engagieren. Wenn man in einem demokratischen System groß wird und sich engagiert, dann engagiert man sich auch irgendwann für das große politische System.“
Wir werden sehen. Bára Procházková, Redakteurin der Wochenzeitschrift Respekt - danke für das Gespräch.