Langer Weg der tschechischen Staatshymne zu ihrem Status

Bei feierlichen Anlässen wie dem Staatsfeiertag, den die Tschechische Republik am 28. Oktober als Gründungstag der Tschechoslowakei im Jahr 1918 begeht, wird unter anderem auch die Staatshymne gespielt. Gespielt und vor allem gesungen wurde sie auch schon vor 92 Jahren, ohne offiziell als eines der üblichen Staatssymbole zu gelten. Ebenso die Staatsflagge, die Verfassung und das Staatswappen der Tschechoslowakei. Entsprechende Gesetze wurden erst 1920 durch die Nationalversammlung verabschiedet. Die tschechoslowakische Staatshymne entstand damals durch die Verbindung eines tschechischen und eines slowakischen Liedes. Beide Lieder wurden mit der Teilung der Tschechoslowakei im Januar 1993 wieder voneinander getrennt, um als Nationalhymnen zweier souveräner Staaten weiter zu leben. Die tschechische Staatshymne wird im Dezember genau 176 alt sein.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es um die tschechische Kultur - ihre Sprache, Literatur und auch das nationale Bewusstsein überhaupt - nicht bestens bestellt. Die Zweisprachigkeit der böhmischen Länder, die seit 1526 einen Teil der Habsburger Monarchie bildeten, war sehr asymmetrisch verteilt. Die Mehrheit der Bevölkerung sprach zwar tschechisch, doch diese hinkte in vielerlei Hinsicht dem deutschsprachigen Bevölkerungsteil deutlich hinterher. Es gab kein tschechisches Schulwesen, in dem eine höhere Bildung erreicht werden konnte. Das hat sich natürlich auch auf das unterschiedliche Niveau der beiden Landessprachen ausgewirkt.

Während das Deutsche auf eine ununterbrochene Kultivierungstradition im Rahmen eines wesentlich größeren Sprachraums zurückblicken konnte, diente die nur auf Böhmen und Mähren beschränkte tschechische Sprache überwiegend als ein Kommunikationsinstrument der ärmeren und sozial niedriger stehenden Volksschichten. Die tschechische Hochsprache fußte noch im Wortschatz der Bibelübersetzung aus der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, der protestantischen Kralicer Bibel. Die tschechischsprachige Gesellschaft der böhmischen Länder stand damals vor einer Herausforderung. Ihre eher bescheiden vertretene Bildungselite schrieb sich damals eine schwere Aufgabe als Losung auf die Flagge: die nationale Wiedergeburt.

„Kde domov můj…“ Wo ist mein Heim? Mein Vaterland? Wo durch Wiesen Bäche brausen, Wo auf Felsen Wälder sausen, Wo ein Eden uns entzückt, Wenn der Lenz die Fluren schmückt:

So beginnt die deutsche Übersetzung der tschechischen Staatshymne, die einen krummen Weg zu ihrem hohen Status zurücklegen musste. Zum ersten Mal erklang sie, genauer gesagt ihre Vorgängerin, am 23. Dezember 1834 als eines der Lieder in der Posse „Fidlovačka - das Schusterfest“. Ihr Autor war der tschechische Dramatiker Josef Kajetán Tyl, die Melodien komponierte František Škroup. Die Prager Premiere fand auf der Bühne des Ständetheaters statt. Zwar am Nachmittag, weil die Abendvorstellungen in diesem berühmten Theaterhaus nur für deutschsprachige Aufführungen vorbehalten waren, trotzdem war es ein mit Spannung erwartetes Event. Doch es endete mit einem Fiasko.

Das Stück kam nicht gut an - in erster Linie bei der deutschen Kritik, aber auch beim Publikum nicht. Schon nach einer Wiederholung verschwand die „Fidlovačka“ aus dem Repertoire. Das von einem blinden Straßenmusikanten gesungene Lied „Kde domov můj…“ lebte trotzdem sein eigenes Leben weiter. Zunächst als ein salonfähiges Paradestück im Repertoire renommierter Opernsänger und bald auch als eine beliebte Konzertnummer bei feierlichen Veranstaltungen von national gesinnten Tschechen. Immer öfter war das mit der Zeit volkstümlich gewordene Lied auf der Kirmes, bei Sonntagsausflügen oder in Kneipen zu hören. In den 1870-er Jahren war es schon allgemein bekannt. Die einen empfanden es als eine Huldigung der Heimatliebe, für die anderen war es ein beliebter Schlager.

Die Tschechen auf Tschechisch mit der tschechischen Geschichte vertraut machen und ihr angeschlagenes Nationalbewusstsein festigen - das waren die wichtigsten Postulate der tschechischen Wiedergeburtsbewegung des 19. Jahrhunderts. Ihre Verfechter hat kaum jemand mehr beeinflusst und begeistert als Johann Gottfried Herder. Kein Wunder, dass auch das Lied, das Fragen nach der Heimat stellte, so gut in den Kontext der Herderschen Auffassung der Sprache als Medium passte, das zur Bildung einer Nation führt. In „Kde domov můj…“ ist aber auch eine Antwort enthalten.

„Dieses Land, so schön vor allen, Böhmen ist mein Heimatland. Böhmen ist mein Heimatland.“

Im Laufe der Zeit bis in die Gegenwart haben sich viele Experten mit dem Lied „Kde domov můj ...“ beschäftigt, um es aus verschiedensten Blickwinkeln zu beleuchten. Für einen Laien ist es erstaunlich, wie viele Konnotationen sie dabei im Text des geschätzten Repräsentanten der Wiedergeburtsbewegung, Josef Kajetán Tyl, gefunden haben. Hier zum Beispiel die Meinung des bereits verstorbenen Literaturwissenschaftlers Vladimír Macura:

„Sollten wir so etwas wie einen Stammbaum der literarischen Texte zusammenstellen, auf die Tyls ´Kde domov můj...´ hinweist, würden wir nicht nur auf Texte der antiken Tradition stoßen. Das unmittelbare Vorbild fand Tyl im berühmten Mignon-Lied von Goethe. Tyl stellt zwar nicht die Frage, wo das Land sei, wo die Zitronen blühen, aber wie Goethe hat auch er das Bild einer arkadischen, pastoralen Landschaft gezeichnet.“

Vladimír Macura
Macura fand interessant an der tschechischen Nationalhymne, dass sie Böhmen nicht wie einen Lebensraum der Tschechen besingt, der ihnen als etwas Selbstverständliches gegeben wurde:

„Das ist meiner Meinung nach sehr symptomatisch für die Atmosphäre der damaligen Zeit und für das Fühlen des patriotisch gesinnten Teils der tschechischen Gesellschaft. Nichts davon wie die tschechische Kultur, Literatur oder selbst das Land wurden als selbstverständliche Werte empfunden. Viel mehr als Gegenstand der Sehnsucht und eine Art Zielsetzung, im Prinzip aber als etwas Unerreichbares.“

Völlig anders wurde das Lied in den Jahren des Ersten Weltkrieges empfunden. Zeitdokumenten zufolge hat es den tschechoslowakischen Legionären in Russland, Frankreich und Italien beim häufigen Vorsingen viel Mut und Lebenskraft gegeben. Ähnlich war es zum Beispiel auch im Juni 1917, als das ganze Theaterstück „Fidlovačka“ nach über 80 Jahren seine erneute Premiere im Prager „Theater auf den Weinbergen“ erlebte. In allen Rezensionen gab es damals übereinstimmend zu lesen, dass das Lied „Kde domov můj“ vom Publikum mit Standing Ovations gefeiert und auch mitgesungen wurde. Im Oktober 1918 wurde es eindeutig als Nationalhymne wahrgenommen. Jedoch nicht von allen. Vladimír Macura:

Staatshymne
„Bald nach der Einigung über die Staatshymne wurden in vielen Debatten Zweifel daran geäußert, ob mit dem Lied eine richtige Wahl getroffen wurde. Von der slowakischen Seite gab es zum Beispiel zu hören, dass es besser wäre, wenn der gemeinsame Staat eine ganz neue Hymne hätte, mit einem neuen Text und einer neuen Melodie also. Auch auf der tschechischen Seite wurde argumentiert, die Verbindung der beiden Teile sei wegen ihrer unterschiedlichen Melodik nicht schön.“

Viele bezeichneten die tschechoslowakische Staatshymne, namentlich ihren tschechischen Teil, als zu sentimental, wenig kämpferisch oder wenig tschechisch. In der Folge entstanden auch mehrere Initiativen, die ihre Änderung zum Ziel hatten. Keine von ihnen hat sich aber durchgesetzt. Und so kann man die tschechische Staatshymne auch nach 176 Jahren praktisch in ihrer ursprünglichen Fassung hören.