Deutschböhmischer Appell an US-Präsident Wilson im Januar 1919

In den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs begann der Zerfall der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Am 28. Oktober 1918 wurde die Erste Tschechoslowakische Republik ausgerufen. Der neue Staat hatte nach seiner Unabhängigkeit von Beginn an mit Nationalitätenkonflikten zu kämpfen. Unter anderem umstritten war die Zukunft der deutschen Minderheit im Land. Die Deutschböhmen lehnten den tschechoslowakischen Staat mehrheitlich ab und drangen auf Autonomie. Deutschböhmische Gemeinden richteten daher einen Appell an den damaligen amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson.

Präsident Woodrow Wilson hatte am 8. Januar 1919 sein 14-Punkte-Programm für eine Nachkriegsordnung in Europa vorgestellt. Punkt 10 betraf das Territorium der ehemaligen Doppelmonarchie. Den Völkern Österreich-Ungarns sollte laut Wilson die „freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung zugestanden werden“. Darauf beriefen sich 79 deutschböhmische Städte und Gemeinden in einem Appell an den US-Präsidenten. Abgedruckt wurde der Appell im deutschsprachigen Prager Tagblatt am 11. Januar 1919.

„Das deutsche Volk in Böhmen fordert unbedingt seine Selbstständigkeit und stützt sich auf das Wort des Präsidenten Wilson vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. Es kann keines rechtlich denkenden Menschen Wille sein, die Deutschen Böhmens von ihrem Volke zu reißen und einem fremden Volke zu unterwerfen.“

Wirklich fremd dürften sich Tschechen und Deutschböhmen nicht gewesen sein. Schließlich hatte man jahrhundertelang in einem gemeinsamen Staat gelebt. Die deutsche Minderheit in Böhmen aber fürchtete nach ihrer langen Vorherrschaft im Land um den Verlust ihrer Privilegien – mit Sicherheit nicht unbegründet. Ihr Ziel war jedoch zunächst weder ein Anschluss an das Deutsche Reich noch an das neu gegründete Deutschösterreich. In dem Appell an Wilson hieß es dazu:

„Deutschböhmens Kultur und wirtschaftliche Kraft gewähren die Sicherheit, daß das deutschböhmische Volk allein in der Freiheit bestehen kann.“

Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag
Eine Woche nach der Veröffentlichung des Appells im Prager Tagblatt sollte die so genannte Pariser Friedenskonferenz beginnen. Die Deutschböhmen erhofften sich von ihr die Wahrung ihrer nationalen Interessen im Sinne von Wilsons 14-Punkte-Programm.

„Das deutsche Volk in Böhmen erwartet von der Friedenskonferenz Gerechtigkeit. Die Lenker der heute siegreichen Staaten haben immer erklärt, daß sie für das Recht kämpfen. Dieses Recht kann auch dem deutschen Volke in Böhmen nicht vorenthalten werden. Im Namen der Gerechtigkeit, der Kultur und der Menschlichkeit rufen wir die Welt zum Richter auf.“

Der Appell wurde nicht erhört. Im Laufe des Jahres 1919 kam es zum Abschluss der Pariser Vorortverträge. Der Vertrag von Saint Germain im September betraf dabei das Territorium der ehemaligen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Die deutschen Siedlungsgebiete in Böhmen sollten demnach auch weiterhin Teil des tschechoslowakischen Staates bleiben. Vor dem Hintergrund der späteren Radikalisierung eines großen Teils der Deutschböhmen wirkt ein Satz aus dem Appell an US-Präsident Wilson vom Januar 1919 fast wie eine Drohung:

„Von seiner Scholle, seinen Bräuchen, seiner Art wird keiner der Millionen Deutschen in Böhmen lassen.“

Unter ihrem Führer Konrad Henlein orientierten sich viele Deutschböhmen in den dreißiger Jahren an der aggressiven Politik Hitlerdeutschlands. Sie nannten sich mittlerweile Sudetendeutsche. Der Anschluss ihrer Siedlungsgebiete an das Deutsche Reich als Folge des Münchener Abkommens 1938 besiegelte nicht nur den Zusammenbruch der Ersten Tschechoslowakischen Republik ein halbes Jahr später. Er war außerdem ein Schritt in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs.