Allarmierende Signale: Immer mehr Kinder und Jugendliche machen Erfahrung mit Rausch- und Komatrinken

Mehr als 300.000 Tschechen sind alkoholsüchtig. Ungefähr ein Fünftel der erwachsenen Bevölkerung trinkt Alkohol im Übermaß. In den letzten 20 Jahren sind auch die Frauen tüchtig in die Fußstapfen ihrer männlichen Pendants getreten, so dass heutzutage der Männer- und Frauenanteil bei den in Therapie befindlichen Alkoholabhängigen fast ausgeglichen ist. Eine ähnliche Entwicklung ist auch auf dem Gebiet des illegalen Drogenkonsums und des Glücksspiels zu verzeichnen. Zeichnen sich diese Trends auch im Verhalten von Kindern und Jugendlichen ab? Dieser Frage, ist Jitka Mládková im Forum Gesellschaft nachgegangen.

Für alle alkoholhaltigen Getränke ab einem Volumenprozent von 0,75, gilt in Tschechien das Abgabeverbot an Jugendliche unter 18 Jahren. Seine Nichteinhaltung definiert das Jugendschutz-Gesetz als Straftat. Auch Zigaretten sind für Minderjährige tabu, selbst in kleinsten Mengen. Im realen Leben sieht es aber anders aus. Die von Zeit zu Zeit durchgeführten Studien bringen deprimierende Erkenntnisse. Ebenso die relativ häufigen Polizeikontrollen. So überraschen Informationen wie diese in der TV-Tagesschau kaum noch jemanden:

„In den späten Abendstunden sind im südmährischen Zlín 42 angetrunkene Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren bei einer groß angelegten Kontrollaktion der Polizei in Bars, Restaurants und Diskotheken erwischt worden.“

Oder so ein Statement eines Arztes:

„Jedes Jahr werden bei uns 50 bis 55 betrunkene Kinder behandelt. Die meisten in einem Zustand, in dem sie auf die Intensivstation eingeliefert werden müssen,“

konstatierte neulich im Tschechischen Rundfunk der Chefarzt der Kinderabteilung im städtischen Krankenhaus Ostrava in Nordmähren Tomáš Gruszka.

Laut Statistik haben etwa 35 Prozent der tschechischen Kinder bereits im Alter von 11 Jahren wiederholte Bekanntschaft mit dem Alkohol gemacht. 13 Prozent der 13- bis 15-Jährigen betrinken sich dreimal im Monat. 40 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren haben schon Erfahrungen mit dem Rausch- und Komatrinken gemacht. Es zeigt sich, dass die gesetzlich verankerte Altersgrenze von 18 Jahren keine bedeutende Hürde für den Alkoholkonsum darstellt. Nach den Ursachen der unerfreulichen Situation habe ich Dr. Karel Nešpor gefragt. Er ist Chefarzt der Männerabteilung für Rauschmittel- und Drogensucht in der psychiatrischen Heilanstalt in Prag-Bohnice. Als ausschlaggebende Zäsur sieht er das Jahr 1989:

„Nach 1989 kam es bei uns zu einem sprunghaften Anstieg des Alkoholkonsums, und auch an illegale Drogen kam man auf einmal viel, viel leichter heran. Die tschechische Währung wurde konvertibel, und das Land wurde attraktiv für viele Dealer. Die neue Situation hatte selbstverständlich Einfluss auch auf die Jugend.“

Es gebe aber noch einen viel bedeutenderen Faktor, der so viele Jugendliche zum frühen Einstieg in den Alkoholkonsum verleitet, sagt der Psychiater:

„Eine Schlüsselrolle kommt der wahnsinnigen Preispolitik hierzulande zu. Weltweit kenne ich kein anderes Land, wo das Bier billiger ist als die alkoholfreien Getränke. Schuld daran haben also nicht die Eltern, geschweige denn die Jugendlichen. Schuld ist eindeutig die Legislative.“

Tschechien steht derzeit vor vorgezogenen Neuwahlen. In der politischen Landschaft brodelt es daher regelrecht. Die kandidierenden Politiker übertreffen sich mit ihren Ideen, Vorschlägen und allen voran mit ihren Versprechungen. Von nützlichen Maßnahmen, die eine wirksame Prävention im Rauschmittelkonsum der Jugendlichen herbeiführen könnten, ist aber nichts zu hören. Wie lange noch, frage ich meinen Gesprächspartner:

„Früher oder später wird auch den Politikern ein Licht aufgehen, dass hierzulande nicht nur die Alkohol- oder Glücksspiel-Lobbys, sondern auch die Eltern existieren. Und auch die sind, ob man will oder nicht, ein Wählerpotential. Es ist also durchaus möglich, dass wenigstens einige politische Parteien und einige Politiker begreifen werden, dass es nützlicher sein könnte, die Familie als solche zu unterstützen, oder genauer gesagt zu schützen, als sich auf das Sponsorengeld der Alkohol- oder Glücksspielindustrie zu verlassen.“

Foto: Europäische Kommission
Fast genauso untätig wie die Politiker sind Nešpor zufolge auch das Schulministerium und die Mehrheit der Schulen:

„Das Schulministerium täuscht Vorbeugungsaktivitäten vor und auch Schulen täuschen vor, etwas dagegen zu tun. Das ist meiner Meinung nach nicht fair gegenüber den Eltern. Jede Familie sollte wissen, was die jeweilige Schule auf diesem Gebiet macht. Die meisten Schulen machen aber gar nichts, was den erwünschten Effekt haben könnte.“

Doch nicht nur die Politik und die Behörden stünden der Problematik des Alkoholkonsums bei Kindern und Jugendlichen lax gegenüber. Die tschechische Gesellschaft insgesamt sei besonders tolerant gegenüber Alkoholkonsum und Rauchen. Beides gehöre zur nationalen Tradition, so der Tenor. Doktor Nešpor bestreitet dies kategorisch:

„Es ist keine Tradition, sondern das Resultat eines geschickt betriebenen Marketings der Alkoholindustrie, die ihre Ware rücksichtslos bewirbt und anbietet – Kindern, Jugendlichen und insgesamt Menschen, die überhaupt nicht trinken sollten.“

Doch nicht nur Alkoholkonsum im Übermaß und Drogenmissbrauch sind die Ursachen für die Probleme, mit denen die Patienten in die psychiatrische Heilanstalt Bohnice in Prag eingeliefert werden. Als eine weitere „absolute“ Katastrophe, deren Folgen Dr. Nešpor in seiner klinischen Praxis begegnet, bezeichnet er die laxe Einstellung des Staates zur Glücksspielbranche.

„Die Situation hat sich schlagartig verschlechtert und tschechische Jugendliche zählen unter ihren europäischen Altergenossen zu den fünf am meisten gefährdeten. Seit mehreren Jahren bleibt das Phänomen unverändert auf dem unerfreulichen Niveau. In meiner Praxis als Arzt habe ich zehn Jahre vor 1989 nur einen einzigen pathologischen Glücksspieler gesehen. Er litt unter Kartenspiel- und Alkoholsucht. Seit der Wende bekomme ich jeden Tag eine beachtliche Menge von so kranken Menschen zu sehen.“

Bei den suchtkranken Menschen geht es oft um folgenschwere Diagnosen. Sie werden von Depressionen, Gewissensbissen, Angstgefühlen und anderen Symptomen heimgesucht. Dr. Karel Nešpor hat bisher über 30 Bücher publiziert, in denen er sich mit den Suchterkrankungen und deren Behandlung befasst. Er ist aber hierzulande auch dadurch bekannt geworden, dass er die schwere psychische Belastung seiner Patienten beim Therapieren zum Teil auch mit originellen Methoden zu entkräften versucht. Er nennt sie „das Gelächter glücklicher Tiere“ Eines seiner Bücher trägt den Titel „Die heilende Macht des Lachens“.

„Wir spielen gemeinsam einen abstinenten Fisch vor, der beim Anblick des Angelhakens mit einem Regenwurm – das ist natürlich ein Symbol für Alkohol oder Drogen - den Angler auslacht und voller Freude über die Freiheit davon schwimmt. Dabei werden zwei Ziele verfolgt. Die Patienten reagieren sich erstens ab und können ihre Probleme mit etwas Abstand beobachten, zum Zweiten beinhaltet das Spiel eine bestimmte Botschaft: Seid klug und meidet im Leben die ‚Haken’“.

Übrigens, die „Haken“ lauern nicht nur auf die suchtkranken Menschen, sondern auf uns alle, meint abschließend Karel Nešpor und schickt diese Worte als gut gemeinten Rat auch an unsere Hörer.