Auf verschlungenen Wegen nach Lissabon. Ein deutsch-tschechischer Vergleich

Lissabonner Vertrag, Parlament, Verfassungsgericht. Wenn Ihnen diese drei Begriffe gerade besonders vertraut vorkommen, dann leben Sie wahrscheinlich in Deutschland und haben dort die Europadebatte der letzten Wochen verfolgt. Doch auch in Tschechien werden der Lissabonner Vertrag, die Kontrollrechte des nationalen Parlaments und die Rolle des Brünner Verfassungsgerichts derzeit heftig diskutiert. Was haben die Debatten in beiden Ländern gemeinsam? Wo gibt es Unterschiede? Hat sich die eine Seite von der anderen gar inspirieren lassen, und wenn ja – wer von wem?

Foto: Europäische Kommission
Diese Woche soll der Deutsche Bundestag das so genannte Begleitgesetz zum Lissabonner Vertrag behandeln. Hintergrund: Der EU-Reformvertrag von Lissabon sieht vor, dass es in verschiedenen Teilbereichen der Politik zu Kompetenzverschiebungen von der nationalen auf die europäische Ebene kommen kann. Eventuelle künftige Verträge der Europäischen Union könnten diese Tendenz vielleicht noch weiter verstärken, befürchten nicht nur eingeschworene Gegner des europäischen Integrationsprozesses. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das Parlament nun aufgefordert, seine eigenen Rechte zu stärken: Wenn weitere Kompetenzen auf die Gemeinschaftsebene, sprich „nach Brüssel“ abgegeben werden, dann kann das nicht die Bundesregierung alleine entscheiden, sondern dann müssen Bundestag und Bundesrat zustimmen. Die endgültige Ratifizierung des Vertrags von Lissabon in Deutschland ist nun ohne dieses Begleitgesetz nicht möglich.

In Tschechien gibt es dieses Begleitgesetz bereits. Es wird hierzulande als „Gebundenes Mandat“ bezeichnet, eben weil die Regierung an die Zustimmung des Parlaments gebunden ist, wenn sie künftig Entscheidungsbefugnisse auf die EU-Ebene abgeben will. Die Entwicklungen in Tschechien und Deutschland sind also durchaus miteinander vergleichbar, meint Robert Schuster, Politologe am Prager Institut für Internationale Beziehungen:

Das Europäische Parlament  (Foto: Europäische Kommission)
„Im Prinzip ist es natürlich die gleiche Sache bzw. es läuft auf das Gleiche hinaus. Das heißt, dass die nationalen Parlamente, in Deutschland also Bundestag und Bundesrat, in Tschechien Abgeordnetenhaus und Senat, stärker in die künftigen Integrationsprozesse innerhalb der Europäischen Union eingebunden werden.“

Das entspreche auch dem Geist des Lissabonner Vertrags selbst, der ja ebenfalls die nationalen Parlamente mehr in die europäischen Entscheidungsprozesse einbeziehen will, meint Schuster:

„In dieser Hinsicht waren die tschechischen Senatoren und Abgeordneten eigentlich konsequent, indem sie gesagt haben: Wir wollen jetzt die Möglichkeiten, die uns der Lissabon-Vertrag gibt, wirklich voll ausschöpfen. Wir wollen bei verschiedenen Beschlüssen auf EU-Ebene nicht nur rein theoretisch gefragt werden, sondern wir wollen wirklich darüber mitentscheiden, was die EU mitbestimmen darf und was nicht mehr.“

Hat sich also nun das deutsche Bundesverfassungsgericht vom tschechischen Parlament inspirieren lassen? Fordern die Richter in Karlsruhe nun von Bundestag und Bundesrat etwas, auf das die Abgeordneten in Prag ganz von selbst gekommen sind? Nun, das wäre wohl etwas übertrieben meint der tschechische Senator Jiří Oberfalzer. Ein wenig Inspiration mag es schon gegeben haben, aber umgekehrt gefällt ihm der Richterspruch aus Karlsruhe entschieden besser als der des tschechischen Verfassungsgerichts vergangenes Jahr. Die deutschen Verfassungsrichter hätten den Begriff der nationalen Souveränität viel besser abgesteckt, meint Oberfalzer:

„Vereinfacht ausgedrückt hat unser Verfassungsgericht bisher nur sehr allgemein gesagt, dass die Souveränität in der globalen Welt eben eine geteilte ist, und dass man diese Frage nicht einfach auf altmodische Art und Weise beurteilen kann. Das deutsche Verfassungsgericht aber hat klare Bedingungen gestellt.“

Klare Bedingungen, unter denen Souveränität ein stückweit abgegeben werden kann. Oberfalzer gehört zu denen in der bürgerdemokratischen Senatsfraktion, die für ihre Kritik am Lissabonner Vertrag bekannt sind und nun bereits zum zweiten Mal das tschechische Verfassungsgericht anrufen wollen. Inspiration, diesmal umgekehrt:

„Ich wäre froh, wenn das tschechische Verfassungsgericht sich von der Vorgehensweise des deutschen Verfassungsgerichts inspirieren ließe“, so Oberfalzer. „Dieses hat sich nämlich nicht mit der bloßen Prüfung zufrieden gegeben, ob der Lissabonner Vertrag mit der Verfassung vereinbar ist oder nicht. Es hat dafür bestimmte Bedingungen gestellt. Es hat ein Minimum an Souveränität definiert und damit auch Regeln für die Zukunft aufgestellt, sollte es zu einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration kommen.“

In einigen Schlüsselbereichen habe das deutsche Verfassungsgericht den Lissabonner Vertrag auch sehr restriktiv ausgelegt, so Oberfalzer. Etwa beim Strafrecht. Dort könne die Europäische Union nur für besonders schwerwiegende und grenzüberschreitende Straftaten zuständig sein. In allen anderen Fällen würden Entscheidungen der EU in Deutschland nicht gelten. Das tschechische Verfassungsgericht solle sich nun ebenfalls zu der Frage äußern, wie tief und wie weit die europäische Integration noch gehen kann, ohne dass die Souveränität des tschechischen Staates gefährdet ist, meint Oberfalzer.

Von tschechischen Politikern, die dem Lissabonner Vertrag zustimmen, kommt Kopfschütteln. Die sozialdemokratische Senatorin Jiřina Rippelová unterstellt Oberfalzer und seinen Gesinnungsgenossen in erster Linie Verzögerungstaktik:

„Ich nehme an, dass es sich dabei einfach nur um Obstruktion handelt, dass diese Leute den Lissabonner Vertrag insgesamt ablehnen und die einzelnen Punkte und Kompetenzübertragungen gar nicht voneinander unterscheiden. Soweit ich weiß, sah die Mehrheit der Kollegen im verfassungsrechtlichen Ausschuss hier kein Problem, also verstehe ich nicht, warum sie das jetzt wieder diskutieren. Respektive: Ich verstehe es schon, aber ich glaube, dass ihre Bemühungen nicht den Erfolg haben werden, den sie sich wünschen. Meiner Ansicht nach wird das Verfassungsgericht keinen Widerspruch zur Tschechischen Verfassung feststellen.“

In beiden Ländern, also in Tschechien und in Deutschland, hat der Lissabonner Vertrag das Parlament bereits passiert, in beiden Ländern aber fehlt noch die Unterschrift des Präsidenten. Das tschechische Staatsoberhaupt, der bekannte EU-Skeptiker Václav Klaus, hat damit einstweilen aber keine Eile. Kritiker meinen deshalb, Oberfalzer und Co. wollen Klaus lediglich den Rücken stärken, wenn dieser seine Unterschrift unter den Vertrag vorerst verweigert. Indes haben die Senatoren rund um Oberfalzer schon den nächsten Schachzug angekündigt: Auch das eingangs erwähnte „Gebundene Mandat“ soll noch einmal überprüft werden. Für die Zustimmung des Parlaments zu Kompetenzübertragungen nach Brüssel sollte laut Oberfalzer sogar eine Verfassungsmehrheit nötig sein, und nicht nur eine einfache Mehrheit der Parlamentarier.

In diesen Ränkespielen erkennt der Politologe Robert Schuster – bei allen verfassungsrechtlichen Parallelen zwischen Tschechien und Deutschland – auch den maßgeblichen Unterschied in der Lissabon-Debatte beider Länder:

„In Deutschland war die Ausgangslage etwas anders. Da hat es ja nie eine Polemik gegeben unter den politischen Eliten, ob das Land den europäischen Einigungsprozess unterstützen oder blockieren soll. In Tschechien hingegen sind ein wichtiger Teil des politischen Spektrums und auch wichtige institutionelle Akteure wie der Präsident schon lange Zeit gegen eine weitere Vertiefung der europäischen Integration. Das ist eine etwas andere Ausgangslage, die die unterschiedliche Einstellung der politischen Eliten in beiden Ländern widerspiegelt“, so Schuster.