Krisenbewältigung in Tschechien: Örtliche Kommunen springen vorerst in die Bresche
Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise fördert fast täglich immer neue Probleme zu Tage. Um ihnen möglichst wirksam zu begegnen, haben führende Industrienationen wie Großbritannien und Deutschland bereits große staatliche Hilfspakete auf den Weg gebracht. In Tschechien aber wartet man in dieser Frage noch auf ein größeres Engagement des Staates.
Die tschechische Industrieproduktion ist im vergangenen November im Jahresvergleich um 17,4 Prozent gesunken. Das ist ein Negativrekord, wie der Chefökonom der Postsparkasse (Poštovní spořitelna), Jan Bureš, erläutert:
„Das ist der bisher größte Einbruch der Industrieproduktion in der tschechischen Wirtschaftsgeschichte überhaupt. Einen solchen Absturz hat niemand erwartet. Das macht umso mehr deutlich, dass die tschechische Industrie die Auswirkungen der Wirtschaftskrise gegen Ende des Jahres 2008 voll und ganz zu spüren bekommen hat. Der Rückgang bei Produktion und Absatz kam ziemlich schnell.“
Ein Einbruch wurde in allen Wirtschaftszweigen festgestellt, nicht nur in der Automobilindustrie. Und das ist eine alarmierende Tatsache. Deshalb gehen die Prognosen der Experten über das Ausmaß und die Länge der derzeitigen Wirtschaftskrise auch ziemlich weit auseinander. Der ehemalige Finanzminister und heutige Chefanalytiker der hiesigen Raiffeisenbank, Pavel Mertlík, gehört dabei zu den optimistischeren Prognostikern:
„Die Krise wird sich ohne Zweifel auch in den nächsten Monaten fortsetzen. Ich glaube aber, dass wir solch große Abschwünge wie zuletzt in der Industrieproduktion nicht mehr verzeichnen werden. Mit anderen Worten: Wir nähern uns bereits dem Tag, an dem die Wirtschaft ihren Rückgang stoppen wird.“
Dieser Einschätzung kann der Chefökonom der Finanzagentur Patria Finance, David Marek, ganz und gar nicht zustimmen. Er zeichnet ein wesentliches düsteres Bild von dem, was der tschechischen Wirtschaft in den nächsten Wochen und Monaten bevorsteht:
„Es muss damit gerechnet werden, dass sich die Situation in den nächsten Monaten noch verschlechtert. Davon zeugen allein schon die sinkenden Zahlen der Aufträge in der Industrie. Der starke Rückgang der Industrieproduktion im November hat viele Ursachen. Der wichtigste Grund dafür aber ist der Einbruch bei den Exportaufträgen, und das in gleich mehreren Branchen der tschechischen Wirtschaft.“
Als Ende vergangenen Jahres die Wirtschaft in den Ländern der Euro-Zone bereits klagte, sah es für Tschechien noch gut aus. Doch mittlerweile ist auch die tschechische Wirtschaft in stürmische See geraten und versucht irgendwo am Horizont das rettende Ufer zu finden. Im Nebeldunst des globalen Wirtschaftsmeeres ist das jedoch nicht leicht. Der tschechische Ministerpräsident Mirek Topolánek findet deshalb, dass schlagkräftige Verstärkung auf die Kommandobrücke muss. Dazu hat er den Nationalen Wirtschaftsrat der Regierung (NERV) ins Leben gerufen – eine Art Rat der Wirtschaftsweisen unter Topoláneks Führung. Eines der zehn prominenten Ratsmitglieder ist der ehemalige Vizepremier für Wirtschaft und heutige Generaldirektor der Volkswagen Group in Russland, Martin Jahn. Der 38-jährige Wirtschaftsmanager und Präsident des tschechischen Automobilindustrie-Verbandes benannte bei der Vorstellung des Gremiums eine der strategischen Aufgaben, denen sich der Rat seiner Meinung nach stellen muss:„Also, was für mich persönlich sehr wichtig ist, ist die Einführung des Euro. Wir müssen natürlich die Krise kurzfristig lösen, aber wir haben auch langfristige Ziele. Hierbei ist die Euro-Einführung für die tschechische Wirtschaft sehr wichtig, und das ist auch meine Priorität.“
Ein weiteres Mitglied des Zehner-Triumvirats ist der erste Wirtschaftsminister der Nach-Wende-Zeit in der föderativen Tschechoslowakei und der später selbständigen Tschechischen Republik, Vladimír Dlouhý. Noch hat man sich in Tschechien nicht ernsthaft darüber verständigt, ob der Staat die einheimische Wirtschaft wegen der Krise mit ähnlich kräftigen Hilfspaketen unterstützen soll, wie es zum Beispiel in Deutschland, Dänemark oder Großbritannien der Fall ist. Dlouhý, der heute als Berater der amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs sein Geld verdient, rät dazu, die Hilfsmaßnahmen breit zu streuen:„Sollte man sich für mögliche Finanzspritzen entscheiden, dann würde ich nur für landesweite Investitionen plädieren. Und zwar für Investitionen in die Infrastruktur, in soziale Projekte und in weitere gut vorbereitete Projekte. Gleichzeitig würde ich weit mehr Geld ausgeben für soziale Maßnahmen in den Regionen, die von der Wirtschaftskrise am stärksten betroffen sind. Für diese Regionen sollten Mittel und Wege geschaffen werden, um den dort arbeitslos gewordenen Menschen auch tatsächlich eine angemessene soziale Unterstützung zu gewährleisten. Auf jeden Fall aber würde ich kein Geld zur Sanierung von einzelnen Unternehmen ausgeben.“
Von der Wirtschaftskrise stark betroffene Regionen gibt es in Tschechien bereits. Es sind vor allem jene Gegenden, in denen traditionell die Glasindustrie zu Hause ist. Oder sollte man fast eher sagen, in denen sie zu Hause war? Im nordböhmischen Nový Bor zum Beispiel hat am Dienstag bereits die dritte große Glashütte des Landes Konkurs angemeldet. Es ist das renommierte Unternehmen Crystalex, das nun über 1600 Beschäftigte in die Arbeitslosigkeit entlassen hat. Alle Entlassenen haben zudem seit Dezember keinen Lohn mehr erhalten. Da der Staat noch keine Hilfspakete aufgelegt hat, ist die Stadt Nový Bor einstweilig in die soziale Bresche gesprungen. Mitte Januar hat der Stadtrat beschlossen, aus seinem Budget eine Million Kronen (knapp 40.000 Euro) für zinslose Darlehen an die Arbeitslosen bereitzustellen. Eine Maßnahme, die Crystalex-Gewerkschaftschef František Kuric sehr begrüßt:„Das ist eine ausgezeichnete Sache und ich denke, dass sie von den betroffenen Leuten auch genutzt wird. Diese Darlehen sind nämlich wesentlich günstiger als die Kredite, die einem von zweifelhaften Agenturen angeboten werden. Kredite, die sehr hohe Zinsen haben und bei denen man von einem Gerichtsvollzieher gejagt wird, wenn man in Zahlungsschwierigkeiten gerät. Daher sage ich noch einmal: Sobald die Leute von der Bereitstellung des zinsloses Darlehens erfahren, werden sie auch davon Gebrauch machen.“
Wie Ex-Finanzminister Dlouhý fordern auch die führenden Gewerkschafter des Landes von der Regierung, dass sie jetzt endlich jene Rettungspakete auf den Weg bringt, um die Wirtschaft neu anzukurbeln und gleichzeitig die sozialen Härtefälle aufzufangen. In ihrer Analyse kommen die Gewerkschafter nämlich zu dem Schluss, dass die Folgen der globalen Krise für die Tschechische Republik nachhaltiger sein werden als in den meisten anderen EU-Ländern. Dem Tschechischen Rundfunk gegenüber erklärte dazu der Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbandes ČMKOS, Milan Štěch:
„Unserer Meinung nach muss die Regierung alle Schritte beenden, die dazu führen, dass sie kaum über Instrumente zur Lösung der Krise verfügt. Für uns heißt das, die Regierung muss die Einführung der Einheitssteuer ebenso überdenken wie die Verringerung der Beiträge zur Sozialversicherung. Sie muss sich realistisch zeigen und deshalb auch mit der Frage befassen, welches soziale Netz geschaffen werden muss, um die vielen Härtefälle aufzufangen.“Bei all den Problemen, die in den nächsten Wochen und Monaten in der globalen Wirtschaft zu lösen sind, setzt man aber auch in Tschechien große Hoffnungen in die Amtsführung des neuen US-Präsidenten Barack Obama. Der neue amerikanische Präsident hatte ja bereits Hilfspakete für sein von der Krise geschütteltes Land angekündigt. Auf der anderen Seite besteht aber auch Angst, dass sich die USA und andere Staaten stärker abschotten könnten. Dazu der Analytiker der Tschechischen Sparkasse (Česká spořitelna), Luboš Mokráš:
„Wenn die Vereinigten Staaten erneut auf Touren kommen, dann bringt das tatsächlich auch uns wieder vorwärts. Unser Export in die USA ist zwar relativ gering, doch der Einfluss der Vereinigten Staaten auf die Weltwirtschaft ist für uns von großer Bedeutung. Würden in der Welt wegen der Krise hingegen wieder protektionistische Maßnahmen eingeführt, dann brächte das auch sicher Schaden für uns. Wir haben eine überaus offene Wirtschaft, die sehr exportabhängig ist. Die Einführung von Schutzzöllen und dergleichen wäre für uns daher sehr negativ.“