Gefangen im Gulag - die ersten tschechischen Opfer des Kommunismus

Gulag

Gerade in diesen Tagen wird das Büro für die Opfer des Nationalsozialismus in Prag geschlossen. Über 75.000 tschechische Bürger wurden für KZ und Zwangsarbeit in Hitlerdeutschland entschädigt. Anders erging es jenen Tschechoslowaken, die unmittelbar nach dem Krieg in die Sowjetunion verschleppt wurden. Schwerstarbeit, Unterernährung, Vergewaltigungen, tödliche Krankheiten wie Typhus - die meisten starben in den Lagern. Nur wenige überlebten, doch sie warten meist noch heute auf eine Entschädigung.

Gulag
Frühjahr 1945, die Rote Armee rückt von Osten in das Gebiet der heutigen Tschechischen Republik ein. Für die meisten Menschen dort bedeutet dies die Befreiung nach sechs Jahren deutscher Besetzung - soweit sie keine Anhänger Hitlers waren. Aber nicht für alle. Denn im Gleichschritt mit der Armee marschiert auch der sowjetische Geheimdienst und startet seine Verhaftungswelle. Im schlesischen Teil des Landes bezahlen einige Bewohner dafür, dass niemand so recht weiß, ob das Gebiet eigentlich zur Tschechoslowakei, Polen oder Deutschland gehört. Dazu kommen willkürlich Verhaftungen. Doch ansonsten gehen die NKWD-Offiziere nach genauen Listen vor:

„Genau nachweisbar ist die Verhaftung von rund 500 Menschen, die wirkliche Zahl dürfte aber höher gelegen haben, nach Schätzungen waren es 1000 bis 1500 Menschen“, sagt Vladimír Bystrov, der jahrelang als Vorsitzender einer Bürgervereinigung den tschechischen Opfern des sowjetischen Gulag geholfen hat.

Von den gezielten Verhaftungen betroffen sind Angehörige der Exilregierung der Karpato-Ukraine und die russischen Emigranten, die nach dem Ersten Weltkrieg vor den Bolschewiken geflohen waren. Zu ihnen gehört auch die Familie von Věra Sosnarová. Selbst ist sie damals 14 Jahre alt. Als ihre Mutter verhaftet wird, geraten auch sie und ihre um fünf Jahre jüngere Schwester in sowjetische Gefangenschaft. Man treibt sie in Viehwaggons, mit denen sie nach Sibirien gebracht werden – zur Zwangsarbeit.

„Ich habe viele Jahre im Wald die schwerste Arbeit verrichtet. Dann war ich in den Asbestminen. Asbest, das ist eine fürchterliche Arbeit. Sehr viele Leute sind dabei umgekommen, unter ihnen auch viele Tschechen“, erinnert sich Věra Sosnorová.

Dabei war Věras Mutter nicht einmal aus politischen Gründen aus Russland geflohen. Sie hatte sich vielmehr in einen tschechischen Legionär verliebt und war einfach durchgebrannt. Doch der NKWD hatte sie als Konterrevolutionärin auf seinen Listen. Beim Zusammenstellen der Listen hatten die tschechoslowakischen Kommunisten bereitwillig dem sowjetischen Geheimdienst geholfen – mit schweren Folgen für Věra Sosnorová und ihre Familie. Das Martyrium begann bereits beim Transport nach Sibirien. Sie und ihre Mutter wurden von den russischen Soldaten vergewaltigt. In den Lagern zwischen dem nordrussischen Archangelsk und dem sibirischen Irkutsk setzten sich die Vergewaltigungen fort, dazu kam die Unterernährung.

„Das Schlimmste waren die Quälereien, die Vergewaltigungen und der furchtbare Hunger. Sibirien, die Taiga, das ist das Ende der Welt. Zu essen bekamen wir Fische, die verendet waren, jedes einzelne Gras, alles wurde gegessen.“

18 Jahre lang sollte das Martyrium dauern. Věra Sosnorová hat alles überlebt, inklusive einer Typhuserkrankung. Als Stalin starb und die politische Tauwetterperiode anbrach, dachte auch sie, dass sie nun zurückkehren könne.

Vladimír Bystrov
„In den 50er Jahren ließen sie auch die Deutschen bereits nach Hause, alle fuhren sie nach Hause. Wir aber durften und durften nicht“, sagt die heute 77-jährige Frau – und fügt an: „Und als sie uns endlich nach Hause gelassen hätten, wollte unsere Regierung uns nicht. Ich habe an den Präsidenten geschrieben, an den ersten, an den zweiten, aber Antwort erhielt ich keine. Kurzum, Sie haben uns nachher gesagt, dass uns unsere Regierung nicht will.“

Věra Sosnorová wurde gedrängt, die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Sie weigerte sich aber. Um jeden Preis wollten sie und ihre Schwester zurück in die Tschechoslowakei. Das gelang erst 1963. Willkommen waren sie dort aber nur als billige Arbeitskräfte, wie sich zeigte. In der Region um die südmährische Stadt Znojmo / Znaim wurden sie einer Kolchose zugeteilt:

„Alle haben dort gutes Geld verdient. Wir haben die gleiche Arbeit gemacht, aber wir haben halb gehungert, obwohl wir zu Hause waren. Als wir fragten, warum wir so wenig Geld bekommen, meldete sich einer der Kommunisten: Was wir denn wollten, wir sollten froh sein, dass man uns aus Sibirien geholt hätte. Er sagte einfach: ´Dort wärt Ihr vor Hunger verreckt. Ihr müsst zehn Jahre lang als billige Arbeitskräfte arbeiten.´“

Dazu kam, dass niemand etwas von der Internierung in Sibirien wissen durfte. Schon bei der Ankunft mussten sie eine Schweigeverpflichtung unterschreiben.

„In Prag warteten sie auf uns und brachten uns aufs Ministerium und in die sowjetische Botschaft. Überall mussten wir unterschreiben, dass wir niemanden auch nur ein Wörtchen sagen, wo wir die 20 Jahre waren. Und falls wir dies verraten würden, wären wir innerhalb von 24 Stunden wieder zurück in Sibirien. 30 Jahre lang habe ich das in mir getragen, solange hier die Kommunisten an der Macht waren. Ich habe Angst gehabt, den Mund aufzumachen. Das tat ich dann erst nach der Samtenen Revolution, ich habe es nicht mehr ausgehalten.“

Doch eines hat Věra Sosnorová bis jetzt nicht erreicht: eine Entschädigung für die Jahre in Sibirien zu erhalten. Vladimír Bystrov hat über Jahre hinweg als Leiter der Bürgervereinigung „Oni byli první“ den tschechischen Zwangsarbeitern aus dem Gulag bei der Rehabilitation geholfen. Oni byli první heißt „Sie waren die ersten“. Diese ersten Opfer des Kommunismus haben es schwer, ihre Zeit in den Lagern nachzuweisen:

„Als die Leute ab dem Jahr 1953 in die Tschechoslowakei zurückkehrten, hat sie an der Grenze gleich die Staatssicherheit in Empfang genommen und Protokolle erstellt. In allen Protokollen ist vermerkt: Die sowjetische Seite hat keine Dokumente übergeben“, so Bystrov.

In tschechischen oder slowakischen Archiven existieren deswegen keine offiziellen Nachweise, außer den Suchmeldungen der Angehörigen. Eine solche Suchmeldung aufzugeben, dazu gehörte aber zu stalinistischen Zeiten großer Mut, viele Menschen flüchteten nach der Verhaftung ihrer Familienmitglieder stattdessen lieber in den Westen. Vladimír Bystrov:

„Und in den sowjetischen, also heute russischen Archiven können Privatpersonen, und das sage ich bewusst, nur zufällig Informationen finden. Dazu muss man viele Bedingungen erfüllen und sich dann in der äußerst verzweigten Struktur der Archive der einzelnen Lager zurechtfindet.“

Das ist keine Arbeit für die Betroffenen selbst, die heute hoch betagt sind - und leider auch keine Arbeit für eine Bürgerinitiative. Viele Opfer haben deswegen die Frist für die Stellung eines Antrags auf Entschädigung verpasst. Beschämend für den tschechischen Staat ist jedoch, urteilen Fachleute, dass auch dort, wo Nachweise vorhanden sind, die Sozialversorgungsanstalt ČSSZ sich bereits mehrfach geweigert hat, diese anzuerkennen.