J. K. Tyl: Theaterklassiker mit dickem Anstrich der Ideologisierung
Am 4. Februar jährte sich zum 200. Mal der Geburtstag des tschechischen Prosaikers, Zeitungsherausgebers, Politikers, vor allem aber Dramatikers Josef Kajetán Tyl. Gefeiert wurde in seiner Geburtsstadt Kutná Hora / Kuttenberg, aber auch in Plzeň / Pilsen, wo Tyl einen Teil seines Lebens verbracht hat. Jitka Mládková und ihre Gesprächspartnerin werden nun gemeinsam aus einem etwas anderen Winkel, als es anlässlich eines Geburtstagsjubiläums üblich ist, ihren Blick auf den Dramatiker richten.
Josef Kajetán Tyl gilt als Klassiker des tschechischen Theaters, und es wäre kaum vorstellbar, dass sein Name in den Literaturlehrplänen der tschechischen Schulen fehlen könnte. Leider wurde dieser Autor, sei es in der Schule oder auf der Bühne, Jahrzehnte stets so behandelt, wie es dem Zeitgeist seinen Postulaten oder auch Pseudopostulaten gerade gepasst hat. Um Näheres zu erfahren, bat ich Jarmila Zemancikova aus der Literatur- und Hörspielredaktion des Tschechischen Rundfunks um ein Gespräch.
„Wenn man sich das ganze dramatische Werk von Tyl anschaut, findet man wie bei Shakespeare mehrere Bereiche, die es verdienen, inszeniert zu werden: Komödien, Tragödien, historische Stücke, das Singspiel Fidlovačka und mehr. Außerdem fühlt man sich durch das große Talent dieses Mannes angesprochen, der eine außergewöhnliche Erscheinung in der tschechischen Kultur des 19. Jahrhunderts war. Tyl hat den Grundstein des modernen Theaters in tschechischer Sprache gelegt.“
Trotzdem muss man sagen, dass Tyls Werk sowie der Autor selbst als Träger von hehren Gedanken vor allem dem kommunistischen Regime der ehemaligen Tschechoslowakei sehr gut ins Konzept passte.
„Das klassischste Beispiel des Missbrauchs von Tyls Theaterstücken im Auftrag des kommunistischen Regimes war die Inszenierung von „Der Dudelsackspieler von Strakonitz“, mit der das Prager Theater ´Nová scéna´ / ´Neue Bühne´ im Jahr 1983 eröffnet wurde. Die Vorstellung wurde vom Tschechoslowakischen Rundfunk aufgezeichnet und ausgestrahlt. Es war eine Inszenierung, aus der die Leere der damaligen Zeit, die schreckliche Stupidität der Normalisierungszeit nur so trieft.“
Selbst die Rollenbesetzung scheint sich, aus heutiger Sicht, so Zemančíková, am Parteibuch orientiert zu haben. Die Musik klingt primitiv, die Schauspieler spielen ohne innere Beteiligung. Im Tschechoslowakischen und später Tschechischen Rundfunk wurden Tyls Dramen insgesamt 20 Mal aufgenommen. Anders gesagt:
„In unserem Archiv gibt es 20 verschiedene Inszenierungen. Die älteste von ihnen ist ´Brandstifters Tochter´ von 1952 und die jüngste ´Der Teufel auf der Erde´ von 2002. Ich habe nicht alle 20 Inszenierungen, sondern nur diejenigen Titel unter die Lupe genommen, die wiederholt in unserem Rundfunk einstudiert wurden.“
Allen voran also „Strakonický dudák“ / „Der Dudelsackspieler von Strakonitz“. Der junge unerfahrene Schwanda, die Titelfigur, verlässt sein geliebtes Mädchen Dorotka und geht in die Fremde, um dort durch sein Dudelsackspiel Geld und Ruhm zu erlangen. Es gelingt ihm, er verfällt jedoch der Geldgier und wird nur durch ein Wunder gerettet. Von diesem Stück, das im Jahr 1847 seine Premiere hatte und auch heute noch zu den bekanntesten Titeln des tschechischen Theaterrepertoires zählt, gibt es drei Versionen im Archiv des Tschechischen Rundfunks.
In zwei Versionen existiert die Aufnahme von „Drahomíra und ihre Söhne“. In diesem Drama treten auch historische Persönlichkeiten auf, wie der böhmische Fürst Wenzel, seine machtbesessene Mutter Drahomíra, die sich gegen das Bündnis zwischen böhmischen Fürsten und dem deutschen König Heinrich wehrt, Wenzels vom Volk und ihm selbst geliebte Großmutter Ludmila und andere Protagonisten, die entweder fromme Verfechter des Christentums oder seine Gegner sind.
Jarmila Zemančíková hat sich vor einiger Zeit vorgenommen, einige Radiobearbeitungen von Tyls Stücken unter die Lupe zu nehmen und die Einstudierungen zu vergleichen. Was ist das Ergebnis?
„Ich habe etwas anderes herausgefunden, als ich erwartet hatte. Ich bin davon ausgegangen, dass die älteren Inszenierungen, namentlich die aus den 50er Jahren, im Kontext ihrer Entstehungszeit der Ideologisierung unterworfen wurden. Dass sie inhaltlich also im Sinne des damaligen Kulturchefideologen Zdeněk Nejedlý entstellt worden sind. Es hat sich aber nicht bestätigt, im Gegenteil. Bei den älteren Inszenierungen hat sich sogar gezeigt, dass sie in diesem Sinne in mancher Hinsicht sauberer und besser sind als die aus der Zeit der so genannten Normalisierung. Das trifft vor allem für die Hörspiel-Aufnahmen von Miloslav Jareš zu. Das ist ein großer Name in der Rundfunkgeschichte.“
Miloslav Jareš, Jahrgang 1903, hat Tyls Stücke „Drahomíra und ihre Söhne“ und „Der Dudelsackspieler von Strakonitz“ in den 1950er Jahren für den Tschechoslowakischen Rundfunk einstudiert. In einer Zeit also, als hierzulande ideologische Manipulationen nach sowjetischer Art in allen Bereichen des Lebens zum Alltag gehörten.
„Seine Inszenierungen zeichnen sich zum einen durch eine hervorragende Besetzung der Rollen mit Schauspielern aus - die alten Meister des Nationaltheaters zu hören, ist bereits ein großes Erlebnis. Zudem prägen seine Inszenierungen auch die sehr interessante Arbeit mit den Schauspielern und darüber hinaus auch die würdevolle Darbietung, die mit der ideologischen Pseudointerpretation des Stoffes nicht einmal liebäugelt.“
Bei Jareš´ jüngerem Nachfolger und nicht minder namhaften Fachkollegen im Tschechischen Rundfunk, Jan Horčička (*1927), gilt dasselbe offenbar nicht restlos:
„Erst die jüngere Bearbeitung von des „Dudelsackspielers Schwanda“ in der Regie von Jan Horčička beginnt mit der Idee zu kokettieren, ob die Emigration doch nicht als Landesverrat zu sehen ist, wie es in der Zeit der ´Normalisierung´ galt. So etwas hat Jareš 1956 überhaupt nicht gemacht. Seine Inszenierung akzentuiert humane und kulturelle Werte.“
Unterschiede findet Jarmila Zemančíková auch in den beiden Rundfunkinszenierungen von „Drahomíra und ihre Söhne“, die über 40 Jahre voneinander trennen:
„In der älteren Inszenierung von Jareš überrascht, wie er die Werte des Christentums akzentuiert, an deren Verdrängung das damalige Regime eigentlich interessiert war. In der Inszenierung von Josef Melč aus dem Jahr 1999 hingegen spielen das Thema des Heiligen Wenzel und das eigentliche Drama von Drahomíra vor dem Hintergrund des Epochenwandels eine Rolle. Das Erlebnis der politischen Wende von 1989 ist spürbar. Melč präsentiert das Stück als Fall eines alten Regimes, das von einem neuen, dem christlichen St. Wenzelsstaat abgelöst wird. Beide Inszenierungen – sowohl die von Jareš als auch die von Melč - sind hervorragend.“Wie hat also der Rundfunk die „Probe“ der politisch bedrückenden 50er Jahre beim Umgang mit Tyls Werken bestanden?
„Ich muss sagen, die alten Inszenierungen aus den 50er Jahren sind eine schöne Kostprobe der Rundfunk- und Schauspielkunst sowie eines niveauvollen Herangehens an die Theaterstücke im Konkreten. Im Unterschied zu ihren Bühnenaufführungen war der Rundfunk der damaligen Ideologie ganz bestimmt nicht folgsam und hat für sich die schöpferische Freiheit bewahrt.“
Abschließend frage ich: Lebt Josef Kajetán Tyl noch im Bewusstsein der heutigen Tschechen?
„Ich fürchte, dass er im Bewusstsein der heutigen Menschen nur wenig präsent ist. Ich denke, dass Tyl leider zu einer Lesebuchfigur geworden ist, welcher der dicke Anstrich der Ideologisierung und der enorm stupiden Vorworttexte seiner Sammelbände aus den 50er Jahren anhaftet.“