Karpato-Ukraine: Bewegte Geschichte einer tschechischen Familie

Svatopluk Nedzelský mit Familie

Wie wir schon mehrfach berichtet haben, hatten Jahre mit der Ziffer Acht am Ende im vergangenen Jahrhundert mehrfach eine schicksalhafte Bedeutung für viele Tschechen und ihr Land, die damalige Tschechoslowakei. In diesem Jahr werden folglich hierzulande die Jubiläen zu den Ereignissen der Jahre 1918, 1938, 1948 und 1968 begangen. Wir werden diese Jubiläen in unserem Programm wiederholt reflektieren. Und daher stellen wir Ihnen heute einen Zeitzeugen vor, dessen Leben sich vor 70 Jahren grundsätzlich veränderte, als die tragischen Entwicklungen des Jahres 1938 in der Tschechoslowakei ihren Lauf nahmen.

Svatopluk Nedzelský, Jahrgang 1931, geboren in Prag, aufgewachsen allerdings in der Karpato-Ukraine, die seit 1918 Bestandteil der neu gegründeten Tschechoslowakei war. Seine beiden Eltern waren Tschechen, entstammten aber Familien, die schon lange auf polnisch-ukrainischem Gebiet lebten. Kennen gelernt haben sich die Eltern in Prag. Der Vater studierte dort Philologie, die Mutter Zahnmedizin. Während ihres Studiums wurde ihr Sohn Svatopluk geboren. Nach dem Hochschulabschluss zogen sie nach Uschhorod / auf Deutsch Ungwar oder auch Ungstadt, wo mittlerweile ihre Eltern und Svatopluks Großeltern angesiedelt waren.

Im Jahr 1880 lebten in der Karpato-Ukraine laut einer Volkszählung über 240.000 Ruthenen, vertreten waren dort aber auch andere Nationalitäten. Im Jahr 1921, drei Jahre nach der Gründung des tschechoslowakischen Staates also, bildeten sie 3,45 Prozent seiner Bevölkerung. Die bunt gemischte Bevölkerung des damaligen Uschhorod, das heute im Dreiländereck zwischen Ungarn, der Slowakei und der Ukraine, direkt an der slowakischen Grenze liegt, war wiederum ein typisches Beispiel für die dortige Region. Geben wir aber das Wort Herrn Nedzelský:

„Es war eine schöne Stadt, und sehr sauber. Wir wohnten am Fluß Usch, was auf Karpatoukrainisch Natter bedeutet. Als kleiner Junge besuchte ich einen tschechischen Kindergarten. Jeden Morgen bekam ich zu Hause 50 Heller und kaufte mir dafür jeweils einen Kaugummi zu zehn Heller und für die restlichen 40 Heller bekam ich im Kindergarten einen Viertelliter Milch. Der Kindergarten sowie die erste Klase, die ich anchließend besuchte, befanden sich in der dortigen tschechischen Masaryk-Schule. Nach der ersten Klasse zog unsere Familie zu meiner Großmutter in die Gemeinde Domanince nicht weit von Uschhorod. Dort besuchte ich gemeinsam mit meiner Cousine die zweite Klasse.“

In Uschhorod erlebte Svatoluk Nedzelsky aus unmittelbarer Nähe eine multikkulturelle Gesellschaft:

„Dort lebten Tschechen, Ungarn, Deutsche, Juden, Ukrainer. Kurzum eine internationale Mischung und es spielte gar keine Rolle, welcher Nationalität man angehört hatte. Dort habe ich nicht zu spüren bekommen, dass irgendjemand einen anderen Menschen wegen seiner Nationalität gehasst oder nicht gemocht hätte.“

Das habe sich aber doch allmählich verändert, denn es sei zunehmend der nahende Kriegsausbruch zu spüren gewesen. Die Familie zog wieder um – ins Haus des Großvaters im Nachbardorf, Und dann?

„Eines schönen Tages wachten wir auf und Uschhorod war von Ungarn besetzt. Die Grenze wurde mit weißen Fähnchen markiert und wenn ich mich ans Fenster stellte, konnte ich die Fähnchen sehen. Diese Situation hielt dann einige Zeit lang an. Einmal waren wir auf dem Martkplatz im nahen Peretschin zum Einkaufen, als uns eine Alarmmeldung ereilte: Die Slowakei habe ihre Selbständigkeit erklärt. Was nun? Hingekommen sind wir mit einem Heuwagen, der war aber auf einmal weg. Zurück nach Domanince sind wir letztendlich im Auto gefahren, gemeinsam mit einem tschechischen Gendarmen, der sofort in sein Büro in unseren damaligen Wohnort zurückkehren musste, und mit einem betrunkenen Chauffeur.“

Alle sind heil nach Hause gekommen. Doch eine knappe Woche später war es schon recht dramatisch:

„Plötzlich ein Gewehrfeuer! Wir legten uns in der Küche auf den Fußboden. Zu hören waren Maschinengewehre, Kanonen und dann auf einmal ein schrecklicher Krach, nach dem man schon aus dem Haus ins Freie sehen konnte. Ein Kanonengeschoss war direkt über unseren Köpfen durch das Haus geschwirrt. Das war ein Erlebnis!“

Mit dieser Kampfaktion hat das ungarische Heer einen weiteren Teil der Karpathoukraine besetzt. Svatopluk Nedzelsky besuchte noch weiter dieselbe Schule in Domanince, Geleitet wurde sie aber schon von einem neuen Direktor, der den Unterricht schon nach ungarischen Vorstellungen umzugestalten begann. Mit Ungarisch als Hauptunterrichtssprache, versteht sich. Das war ein schwerer Schlag für die traditionell multikulturelle Karpato-Ukraine. Die Veränderung der dortigen Verhältnisse setzte allerdings schon etwas früher ein, besonders in Uschhorod. Svatopluk Nedzelsky kann es bestätigen:

„Unmittelbar nachdem sich die Slowakei als selbständiger Staat deklariert hatte, machte sich die Mehrheit der dort lebenden tschechischen Familien auf den Weg nach Böhmen. Es waren zum Großteil Beamte, Richter oder Ärzte, die mit ihren Familien die Koffer packten - und ab die Post. Nicht selten ließen sie ihr Eigentum zurück. Auf dem Lande waren meine Mitschüler nur noch Ruthenen und auch Juden, Zum Beispiel die Brüder Pereles. Eines Tages kamen sie aber nicht zur Schule. Die sind wahrschienlich krank, sagte ich mir. Als ich dann an deren Haus vorbei ging, sah ich mit Brettern zugeschlagene Fenster und Türen. Erst dann erfuhren wir, dass man sie abtransportiert hatte. Wahrscheinlich in ein KZ, denn nach dem Krieg ist niemand von ihnen zurückgekommen.“

Nach der zweiten Klasse in der ungarischen Schule kam für Svatopluk Nedzelský ein neuer Orts- und damit auch Schulwechsel. Die 3. Klasse war „ukrainisch“, mit Ukrainisch als Unterrichtssprache also. Sie befand sich in der ehemaligen tschechischen Masaryk-Schule in Uschhorod, die nach dem Kriegsende in ein Gymnasium umgewandelt wurde. Am 27. Oktober 1944 wurde Uschhorod von der Roten Armee eingenommen und bald war auch vorauszusehen, welches Schicksal auf die Karpato-Ukraine zukommen würde. Im Juni 1945 wurde die Stadt von der Tschechoslowakei zwangsweise der Sowjetunion überlassen und 1946 wurde sie zum Zentrum des neu gegründeten Gebietes Transkarpatien innerhalb der Ukrainischen Sowjetrepublik der UdSSR. In der Region wurde nach dem Krieg von der Sowjetmacht offiziell ein Referendum veranstaltet, in welches auch Schulkinder einbezogen wurden. Svatopluk Nedzelský, damals um die 13 Jahre alt, erinnert sich:

„Einmal wurden in der Schule Plakate verteilt, auf denen irgendwelche Slogans geschrieben standen - an die kann ich mich nicht mehr erinnern – und wir wurden aufgefordert, unsere Unterschriften drauf zu setzen. Das haben wir auch alle getan. Zu Hause habe ich von meinem Vater erfahren, dass wir mit der Unterschrift der Einverleibung der Karpato-Ukraine in die Sowjetunion zugestimmt hätten.“

Wie ging das Schicksal der Familie Nedzelský dann weiter?

„Mein Vater hatte das Statut eines russischen Flüchtlings. Man hat aber die Männer, die als Immigranten galten, versammelt, verhaftet und deportiert. Mein Vater konnte sich retten, weil er am Widerstandskampf als Mitglied einer Partisaneneinheit teilnahm, Von ihrem Kommandanten bekam er ein Loyalitätszeugnis ausgestellt und konnte eine Zeit lang für eine Zeitung arbeiten. Dann kam aber das Angebot auszuwandern, das wir angenommen haben. Meine Familie zog aber nicht weit weg, eigentlich nur über die Grenze in das ostslowakische Kosice / Kaschau. Dort habe ich das slowakische Gymnasium besucht und mein Vater war Lehrer.“

Svatopluk Nedzelský wollte später wie seine Eltern an der Prager Karlsuniversität studieren. Das war für ihn allerdings in der kommunistischen Tschechoslowakei nicht möglich. Immerhin, er ist heue davon überzeugt, dass sich seine Familien dank der Auswanderung aus der Sowjetunion das Leben retten konnte. Nedzelský arbeitete lange Jahre als Facharbeiter mit Abitur bei den elektrischen Werken in Prag und anderen Teilen des Landes. In den 50er Jahre heiratete er seine Frau Vera. Seit einigen Jahren lebt er als Rentner im ostböhmischen Hradec Králové/ Königgrätz und widmet sich seinen Kindern und Enkelkindern und als typischer Tscheche natürlich auch seiner „chata“, seinem Wochenendhaus also.