Ein Brünner Weltenstürzer - der geniale Logiker Kurt Gödel wird 100

Kurt Gödel

In der breiten Öffentlichkeit ist sein Name kaum bekannt, in Fachkreisen aber gilt als einer der bedeutendsten Denker nicht nur des 20. Jahrhunderts. In diesem Jahr wäre der 1906 im südmährischen Brünn geborene Logiker und Mathematiker Kurt Gödel 100 Jahre alt geworden. Mit seinem Unvollständigkeitssatz hat Gödel nichts weniger als die Grenzen der Logik aufgezeigt.

Es hätte gewissermaßen die Vollendung des mathematischen Weltgebäudes werden sollen. Die Grundlagen der Mathematik und aller ihrer Teilbereiche in einem einzigen, geschlossenen System zusammenzufassen, in dem eines logisch und widerspruchsfrei aus dem anderen folgt. Die führenden Mathematiker des beginnenden 20. Jahrhunderts widmeten sich dieser Aufgabe, und niemand zweifelte daran, dass sie gelingen muss. Es könne in der Mathematik kein Ingnorabimus geben, kein "wir werden nicht wissen", verkündete der deutsche Mathematiker David Hilbert noch am 8. September 1930 auf einem Kongress in Königsberg. Was er nicht wissen konnte: Am Tag zuvor hatte Kurt Gödel auf einer anderen Konferenz in der gleichen Stadt eben dies gezeigt: In einem mathematischen System gibt es Aussagen die sich bewiesenermaßen nicht beweisen oder widerlegen lassen - ein Schlag an die Wurzeln des Selbstverständnisses der Wissenschaften.

Kurt Gödel war am 28. April 1906 in Brünn geboren worden, er wuchs als Sohn einer wohlhabenden deutsch-mährischen Fabrikantenfamilie auf - verschlossen, kontaktscheu, hochintelligent, überrational, den Keim späterer Neurosen schon in sich tragend. Dora Müller Vorsitzende des Deutschen Kulturverbandes Region Brünn und engagierte Lokalhistorikerin, kennt die Familie Gödel noch aus ihrer Jugend. Den Familienerinnerungen nach hat Kurt bereits als Kind am liebsten über Büchern gesessen:

"Sein Vater war einer der ersten Brünner, der einen Chrysler hatte, das war ein prima Auto. Die Familie wollte am Sonntag auf einen Ausflug fahren - die Familie ist gefahren, aber der Kurt ist lieber zu Hause geblieben."

Schon früh zeigte sich bei ihm ein besonderes mathematisches Talent; bereits als junger Brünner Gymnasiast beherrschte "Herr Warum", wie Kurt daheim genannt wurde, den gesamten Hochschulstoff des Faches - sehr zum Leidwesen seiner Cousins, wie sich Dora Müller erinnert:

"Die waren nicht sehr gut in Mathematik, und die mussten sich immer anhören: Schaut euch den Kurti an! Lauter Einser in Mathematik, und ihr könnt nicht rechnen! Dass Kurt Gödel einmal einer der größten Mathematiker der Welt sein würde, hat damals natürlich niemand gewusst - aber sie hat das gekränkt."

Mit 18 Jahren kommt Kurt Gödel 1924 an die Universität Wien, findet Aufnahme in den vom Neopositivismus beherrschten Wiener Kreis. Gerade die Zweifel am Positivismus und seiner Konzentration auf die verifizierbaren Beobachtungen führt ihn 1930 zu dem berühmten Unvollständigkeitssatz - ein Geniestreich, mit dem Gödel wie aus dem Nichts die Grenzen von Mathematik und Logik aufzeigt, erklärt Prof. Sy D. Friedman vom Kurt Gödel Research Center für mathematische Logik an der Universität Wien:

"Vor Gödel hatten wir nur zwei Möglichkeiten in der Mathematik: Ein Problem ist schon gelöst, oder wir warten, bis wir geschickt genug sind und die Methoden entwickeln, mit denen wir dieses Problem lösen können. Nach Gödel aber gibt es noch eine dritte Möglichkeit, nämlich die, dass das Problem überhaupt unlösbar ist, da die Methoden der Mathematik nicht ausreichen. Und das war natürlich eine Krise für das Selbstvertrauen der Mathematiker."

Gödel hatte bewiesen, dass es innerhalb eines mathematischen Systems Aussagen gibt, die wahr sind, deren Wahrheit aber formal nicht bewiesen werden kann - so wie man sich, mit Münchhausen gesprochen, nicht selbst an den Haaren aus dem Sumpf ziehen kann. Die formale Erkenntnis hat also prinzipielle Grenzen - ein Schlag an die Grundfesten der Naturwissenschaften, der nicht zuletzt auch die Vorstellung von geistigen Prozessen beeinflusst hat, erklärt der Physiker Prof. Jan Novotny von der Brünner Masaryk-Universität:

"Das wird meist so ausgelegt, dass menschliches Denken mehr ist als nur formale Operationen auszuführen, so wie es die Mathematik tut. Das ist schon eine philosophische Interpretation, aber auch rein mathematisch war Gödels Arbeit ein bedeutendes Ergebnis - im Allgemeinen gilt sie als wichtigster Schritt in der Logik seit Aristoteles."

Außerhalb der Wissenschaft ist Gödel ein Sonderling; hypochondrisch und weltfremd. Den Halt in der Realität, der ihm selbst zusehends abhanden kommt, gibt ihm seine Ehefrau Adele. Die beiden haben 1938 in Wien geheiratet - eine seltsame Mesalliance, erinnert sich Dora Müller:

"Die Familie war nicht gerade erbaut davon. `Die passt doch nicht zu Kurt!´, hat es geheißen. Worauf der Bruder nur gesagt hat: `Welche Frau auf dem ganzen Globus würde schon zu Kurt passen.´ Was war los? Erstmal war sie sieben Jahre älter, dann war sie Tänzerin in einer Bar, sie war geschieden - aber es war eine überaus glückliche Ehe, und er hat eben so eine Frau gebraucht, wie es die Adele war."

Politisch ist Gödel uninteressiert, blind gegenüber den Zeichen der Zeit. "Was treibt Sie in die Staaten", soll er 1938 bei einem Gastaufenthalt in Amerika einen emigrierten jüdischen Kollegen aus Deutschland gefragt haben. Erst als ihm, dem in eigenen Augen Schwerkranken, in Wien die Einberufung zur Wehrmacht droht, entschließt er sich 1940 zur Emigration. Dora Müller:

"Er hatte schon vorher in Princeton in New Jersey Gastvorträge gehabt, hat schon Einstein gekannt. Dann hat er gesehen, dass er unter den Nazis nicht leben kann und ist mit der Adele nach Princeton gegangen und nie mehr zurückgekommen."

Eine wichtige Stütze wird dem zunehmend weltabgewandten Gödel gerade die Freundschaft zu Albert Einstein, der ebenfalls in Princeton lehrt. Gödel, so heißt es, sei der einzige gewesen, der mit Einstein auf Augenhöhe verkehren konnte - trotz oder gerade wegen ihres gegensätzlichen Temperamentes, wie die die Physikerin Blazena Svandova von der Brünner Masaryk-Universität meint:

"Vielleicht haben sie sich gerade dadurch in Princeton so ergänzt. Es wird sogar erzählt, dass Einstein sich um Gödel gekümmert hat: Wenn Gödel sich in seinen Beklemmungszuständen vor etwas gefürchtet hat, dann soll Einstein ihn mit seiner unerschütterlichen Laune da wieder herausgezogen haben."

Mindestens einmal aber war auch Einstein über die genialische Pedanterie Gödels bestürzt: Zum 70. Geburtstag verehrte Gödel dem älteren Kollegen eine Berechnung, in dem er zeigte, dass die allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins ein Universum zulässt, in dem Zeitreisen in die Vergangenheit möglich sind - ein schockierender Gedanke, selbst für Einstein.

In seinem ganzen Leben hat Kurt Gödel kaum 100 Seiten veröffentlicht, mit jeder seiner Arbeiten aber ganze Forschungsbereiche begründet. In tragischem Kontrast zu seinen wissenschaftlichen Leistungen steht das persönliche Schicksal Kurt Gödels. Nach Einsteins Tod 1955 vereinsamt er völlig, Angstneurosen nehmen in den späteren Jahren überhand. Er fürchtet sich vor den Ausdünstungen von Heizung und Kühlschrank, glaubt, man wolle ihn vergiften. Seine Frau muss alle Speisen vorkosten, er erlegt sich eine strikte Diät auf, die ihn immer mehr auszehrt. Zuletzt ist er ganz von der Pflege und Zusprache seiner Frau abhängig. Als sie nach einem Schlaganfall ins Krankenhaus muss, zieht der Rationalist Gödel aus seinen Vergiftungsängsten die logische Konsequenz und isst gar nichts mehr. Er stirbt, kaum 30 Kilo schwer, am 14. Januar 1978 an Unterernährung - mit angezogenen Knien, eingerollt, wie ein Baby im Mutterleib.