Ralsko - eine Gemeinde auf dem Weg aus ihrer Vergangenheit in die Zukunft

Foto: Archiv Radio Prag

Es gibt nicht viele Gemeinden in Tschechien, deren Schicksal von den Ereignissen des 20. Jahrhunderts so stark geprägt wurde, wie dies im Falle des nordböhmischen Ralsko gilt. Mit der Einladung zu einem Besuch in dem beinahe gottvergessenen Landsstück kommen Jitka Mladkova und Thomas Kirschner.

Foto: Archiv Radio Prag
Voller Kontraste! Das könnte wohl die elementarste und zugleich trefflichste Charakteristik der Gegend mit dem Namen Ralsko sein, hinter dem sich insgesamt neun Dörfer und Siedlungen mit rund 1900 Einwohnern verbergen, verstreut auf einer Fläche von 170 Quadratkilometern. In älteren Zeiten war es aber anders. Machen wir also zunächst einen kleinen Rückblick in die Geschichte.

Bis zum Jahr 1938 gab es auf diesem Gebiet fast 30 Gemeinden, Ortschaften und Einzelhöfe mit bis zu 7000 zum Großteil deutschsprachigen Einwohnern. Diese wurden nach Kriegsende zwangsweise ausgesiedelt und teilweise durch Einwanderer aus dem Landesinneren ersetzt. Der Vorkriegsstand der Einwohnerzahl wurde hier allerdings nie mehr erreicht. In den Jahren 1950 - 1991 betrug der Bevölkerungsschwund ganze 85 Prozent. 1980 lebten auf dem großflächigen Gebiet 571 und 1991 sogar nur 521 Zivilpersonen.

Ralsko  (Foto: Štěpánka Budková)
Die Bezeichnung "Zivilpersonen" verwenden wir an dieser Stelle nicht von ungefähr. Neben den wenigen Zivilisten lebten nämlich auf demselben Gebiet tausende Soldaten. Die rapide gesunkene Bevölkerungsdichte im Raum von Ralsko hatte eine eindeutige Ursache: Die tschechoslowakische Regierung verfügte schon im April 1949 per Gesetz die Errichtung des "Militärischen Übungsgeländes Ralsko" auf einer Fläche von 250 Quadratkilometern. Seit 1968 bis zu ihrem Abzug 1991 waren hier die Truppen der Sowjetarmee stationiert. Zum Jahresende 1991 wurde der Militärstatus des Areals aufgehoben. Um eine Charakteristik seines aktuellen Standes baten wir einen Sachkundigen - den Bürgermeister von Ralsko, Jindrich Solc:

Ralsko  (Foto: Štěpánka Budková)
"Ein wunderschöner, "dank" der Armeepräsenz gut erhalten gebliebener Landstrich Böhmens mit tiefen Wäldern, mit einem dichten Netz von Fahrradwegen und einer herrlichen Natur."

Zu nennen wäre vieles mehr. Auf dem Gebiet von Ralsko, das paradoxerweise trotz der erwähnten Präsenz der Sowjetarmee 1992 zum Naturschutzgebiet erklärt werden konnte, sind wertvolle, zum Teil bedrohte Pflanzenarten zu finden. Bei einer 1989 - 1993 durchgeführten entomologischen Erforschung des Gebietes wurden hier 698 Falterarten registriert!

Das schöne Antlitz der Gegend hat aber auch seine Kehrseite, die sich in verschiedenen Problemen manifestiert. Bürgermeister Solc führt sie vor allem auf den langjährigen Aufenthalt der Sowjetarmee zurück, die bei weitem nicht spurlos abgezogen ist. Im Gegenteil. Der durch Munition kontaminierte Boden und das mit Öl verunreinigte Grundwasser sind wohl die schwerwiegendste Hinterlassenschaft. Wie ist es um das Interesse des Staates bestellt, Hilfe zu leisten? Eine Frage an Jindrich Solc:

Gelände des ehemaligen Militärflugplatzes in Ralsko  (Foto: Archiv Radio Prag)
"Das Interesse des Staates war am Anfang schon da. Die Regierungen formulierten verschiedene Aufgaben zur Revitalisierung des Gebietes. Letzten Endes blieb es aber nur bei den Versprechungen auf dem Papier und den verbalen Deklarationen. Außer den Dotationen, die wir bekommen, sind wir mit der Problematik allein geblieben. Jetzt aber, da der Staat sich entschlossen hat, auf die Verwaltung unserer Region zu verzichten und die übrig gebliebenen Grundstücke den regionalen Selbstverwaltungsorganen zu übergeben, sollen wir als die unterste Selbstverwaltungsebene nur einen kleineren Teil davon bekommen. Eines der lukrativsten Objekte zum Beispiel, nämlich das Gelände des ehemaligen Militärflugplatzes, fällt dem Landkreis Liberec / Reichenberg zu."

Gelände des ehemaligen Militärflugplatzes in Ralsko  (Foto: Archiv Radio Prag)
Im Vertrag über den Abzug der Sowjetarmee hat sich die Tschechische Republik verpflichtet, allein für die Beseitigung der von ihr hinterlassenen Umweltbelastung zu sorgen. So beteiligt sich der Staat bis heute finanziell an der immer noch für mehrere Jahre anberaumten Dekontaminierung von Boden und Grundwasser. In staatlichen Besitz gingen auch die von den Russen gebauten Wohnhäuser über, die aber renoviert werden mussten. Einen Teil des Gebäudebestandes machte der Zahn der Zeit relativ bald zu Abrissobjekten. Durch staatliches Geld wird auch die Erneuerung der Infrastruktur wie zum Beispiel des Wasserleitungs-, Kanalisations- und Straßennetzes subventioniert. In diesem Bereich besteht ein großer Nachholbedarf.

Ein weiteres drückendes Problem in Ralsko, das in mancher Hinsicht auch aus der Vergangenheit der Region herrührt, ist die 20-prozentige Arbeitslosigkeit. Die Ursache der hohen Arbeitslosenquote sieht der Bürgermeister aber nicht unbedingt nur in den begrenzten Arbeitsgelegenheiten. Er meint, vielen passe es sozusagen ins Lebenskonzept, nicht zu arbeiten und ihr Dasein nur mit der Sozialhilfe zu fristen.

Foto: Archiv Radio Prag
"Aus verschiedenen Gesprächen habe ich den Eindruck gewonnen, dass sich diese Menschen damit abgefunden haben, keine Arbeit finden zu können. Auch wenn sie aber immer wieder beteuern, wie gerne sie arbeiten möchten, machen sie oft dafür keinen Finger krumm."

Solc zufolge gibt es in Ralsko noch ein negatives Begleitphänomen der Arbeitslosigkeit - den Diebstahl. Er beschreibt eine triste Realität:

"Viele Leute leben hier von der Sozialhilfe und um ihr Budget aufzustocken, begehen sie auch Straftaten. Vieles davon, was hier die Armee hinterlassen hat, wird abmontiert. Man kann sich in der Tat nur wundern, was man alles demontieren kann. Zum Beispiel Kabel, die werden aus dem Boden ausgegraben oder aus dem Beton unter den Fußböden..Würden die Menschen die Energie, die sie in diese Betätigung investieren, in einem normalen Job aufwenden, könnten sie auch mehr verdienen."

Foto: Archiv Radio Prag
In diesem Zusammenhang kann man kaum um die Frage herumkommen: Gibt es denn überhaupt Arbeitsmöglichkeiten für diese Menschen?

"Selbstverständlich gibt es die. Zwar nicht direkt in Ralsko, aber in der Umgebung. Eine Reihe von Firmen bieten Arbeitsstellen an und organisieren sogar den Transport zu den Betrieben. Die Chance eine Arbeit zu finden ist da."

Das mangelnde Interesse zu arbeiten wird bei einem Teil der Bewohner offensichtlich auch von Desinteresse am öffentlichen Geschehen überhaupt begleitet, das nicht zuletzt auch in der traditionsgemäß geringen Wahlbeteiligung Ausdruck findet. Vielleicht hat das Phänomen der laxen Beziehung zum eigenen Wohnort tiefere Wurzeln. Das ganze Gebiet um Ralsko hat im Laufe der Zeit wiederholt Aussiedlungs- und Neubesiedlungswellen erlebt und viele fühlen sich hier auch nach 20 Jahren nicht daheim. Eine Ausnahme gibt es aber: Mitte der 90er Jahre haben sich hier etwa 170 Tschechen angesiedelt, deren Vorfahren einst in die Region des ukrainischen Tschernobyl ausgezogen waren. Jindrich Solc weiß nur Positives über sie zu sagen:

Schule in Kuřívody
"Die meisten sind hier bis heute geblieben. Sie gehören zu denjenigen, auf die man sich stützen kann. Sie leben gerne hier, arbeiten und sind motiviert, etwas zu verbessern. Sie fühlen sich hier einfach wie zu Hause."

Das Gespräch mit dem Bürgermeister von Ralsko könnte, nach allem was bisher gesagt wurde, etwas negativ ausklingen. Solc denkt aber durchaus positiv und gerne berichtet er auch über positive Dinge, über die er sich offensichtlich freuen kann:

"Es ist vor allem die Erhöhung der Einwohnerzahl von etwa 550 auf rund 1900. Das zeugt wohl davon, dass die Menschen hier doch eine Perspektive suchen. Des Weiteren sind es renovierte Häuser, so dass unsere Gemeinde langsam auch ein neues besseres Antlitz bekommt. Es ist gelungen, in Kurivody eine wenn auch nur kleine Schule zu öffnen. Vorbereitet sind auch Verkaufsverträge für Grundstücke für Unternehmer und so wird sich künftig kaum jemand darauf herausreden können, dass man bei uns keine Arbeit finden kann."

Preisgünstige Wohnungen mit regulierter Miete - das ist wohl der größte Magnet, der die Neuankömmlinge nach Ralsko zieht. Vielleicht ist es auch die schöne Natur, die immer mehr Menschen anlockt. Jindrich Solc, der vor 25 Jahren nach Ralsko kam und nicht mehr weggehen will, hat einen persönlichen Wunsch:

"Das, was ich mir am meisten wünsche, bezieht sich auf die Zukunft dieser Region. Ich glaube, wenn es einmal gut läuft, wird es hier eine schöne Ecke sein."

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