Zeitzeugen

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"Wer von euch ist denn ein Zeitzeuge?" Die 40 Schüler des 9. Jahrgangs in der Bautzener Mittelschule Am Gesundbrunnen gucken ratlos in die Runde. Mit dieser Frage des Projektleiters der Brücke/Most-Stiftung hatten sie nicht gerechnet. Vor ihnen sitzt die 75jährige tschechische Jüdin Eliska Levinska, die die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hat.

"Wer von euch ist denn ein Zeitzeuge?" Die 40 Schüler des 9. Jahrgangs in der Bautzener Mittelschule Am Gesundbrunnen gucken ratlos in die Runde. Mit dieser Frage des Projektleiters der Brücke/Most-Stiftung hatten sie nicht gerechnet. Vor ihnen sitzt die 75jährige tschechische Jüdin Eliska Levinska, die die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hat. Sie ist die Zeitzeugin und sie ist heute hier, um den Schülern ihre Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, der die Anwesenden bis zur letzten Minute gebannt lauschen, vollkommen unbeeindruckt vom Pausenzeichen, das während Levinskas Schilderungen mehrfach ertönt.

Wahrscheinlich haben die meisten Schüler die Frage, ob sie selbst auch Zeitzeugen sind, längst vergessen, nachdem sie Eliska Levinska durch drei Konzentrationslager begleitet und sie danach wieder und wieder bewundernd gefragt haben, wo sie denn damals den Willen und die Kraft zum Überleben hergenommen habe. Mich beschäftigt diese Frage schon seit langem: Worüber werden wir einmal als Zeitzeugen berichten? Welche Phänomene der heutigen Zeit werden wir unseren Enkeln zu erklären versuchen, die sie aufgrund des zeitlichen Abstands schon nicht mehr in der Lage sind nachzuvollziehen?

Während Eliska Levinska erzählt, klingelt plötzlich ein Telefon. Die vitale alte Frau bückt sich, holt ihr handy aus der Tasche und antwortet auf Tschechisch: "Ahoj. Ich bin grade in Bautzen. Morgen? Ja, morgen kann ich. Um elf in Theresienstadt? Abgemacht." Ein fast schon makaberer Dialog, denn sofort danach kehrt sie wieder in das Jahr 1942 zurück, in das Ghetto Theresienstadt, in die Zeit des Holocaust. Und morgen ist Frau Levinska dann wieder in der Gedenkstätte Theresienstadt, als Reiseführerin für eine Gruppe tschechischer Schüler.

Gerade diese Zeitsprünge, - soviel ist mir nach der Begegnung mit der sympathischen alten Frau klar -, diese selbstverständlichen Übergänge zwischen gestern, heute und morgen sind es, die die Geschichte lebendig machen. Ich hoffe, es werden nicht die vielen versäumten Chancen sein, Menschen wie Eliska Levinska zu befragen, über die ich irgendwann als Zeitzeugin berichten muss. Dem Zeitzeugen-Projekt der Brücke-Most-Stiftung droht vorerst das finanziellen Aus. Die Lehrerin der 9. Klasse ist fassungslos: "Für so viele andere Sachen wird heute Geld rausgeschmissen", entrüstet sie sich, "wesentlich mehr Geld, als das Zeitzeugen-Projekt zum Überleben bräuchte".