Auf der Suche nach eigenen Wurzeln
Vor zwei Wochen haben Sie die Gelegenheit gehabt, im Regionaljournal die nordböhmische Stadt Usti nad Labem / Aussig zu besuchen. Berichtet wurde über ein Treffen von tschechischen, österreichischen und deutschen Germanisten, das die dortige Universität veranstaltet hat. Die steht mit ihren Aktivitäten steht die aber nicht allein - auch andere Hochschulen beteiligen sich verdienstvoll an der Bildungsförderung in den Regionen. Jitka Mladkova hat heute ein weiteres Beispiel für Sie parat und lädt sie diesmal nach Nordmähren ein, genauer gesagt in das schlesische Opava / Troppau:
Unter den neuen Universitäten Tschechiens, die erst nach 1989 gegründet worden sind, ist die Schlesische Universität die einzige, die in der Tat, wie man so schön zu sagen pflegt, auf der "grünen Wiese" entstanden ist. Obendrein ohne jeden Bezug auf eine Institution, die man als ihre Vorgängerin bezeichnen könnte! Einen Zusammenhang gibt es aber doch. Er ist in der demokratischen Entwicklung seit den 90-er Jahren des 19.Jahrhunderts zu suchen. Mit der Beseitigung des bisherigen rigorosen staatlichen Zentralismus in der Habsburger Monarchie entstanden allmählich neue Entwicklungsmöglichkeiten auch in den vom Machtzentrum weiter entfernten Regionen. Das war auch der Fall des heutigen tschechischen Teils des historischen Schlesiens, einst Österreichisch-Schlesien.
Um die Gründung einer Universität in der Hauptstadt der Region, in Opava / Troppau, hatte man sich fast 150 Jahre alt bemüht, doch erst 1991 wurde ihre Entstehung per Gesetz bewilligt. Die Schlesische Universität in Opava spielt nicht nur durch ihr Bildungsprogramm, sondern auch durch ihre Aktivitäten eine bedeutende Rolle der kulturellen Belebung der Region. Unter der Schirmherrschaft der Schlesischen Universität fand vor etwa zwei Wochen eine Konferenz statt mit dem Titel "Hotzenplotz - Mährische Enklaven in Schlesien."
Direkt vor Ort, also in Troppau, habe ich mich mit dem Initiator der Konferenz, Prof. Gernot Rotter von der Universität Hamburg, unterhalten können. Jedoch nicht über die Konferenz selbst, sondern über seine Suche nach den Wurzeln seiner Familie, die gerade in Troppau und der schlesischen Region liegen. Vor sechs Jahren ist Herr Rotter langer, langer Zeit wieder einmal nach Troppau gekommen. Warum, erfahren Sie aus dem nun folgenden Gespräch:
"Ich wollte sehen, wo meine Familie herkommt. Haben wir vielleicht jüdische Wurzeln, fragte ich mich."
War das für Sie die eigentliche Initialzündung, das erste Mal, dass Sie die Wurzeln Ihrer Familie suchen wollten?
"Ja, das war das erste Mal. Am Anfang ging es mir nicht um den Ursprung meiner Familie, sondern um den meines Namens. Ich konnte mich dann daran erinnern, dass wir in der Nazizeit einen Ahnenpass in der Familie hatten. Sie wissen, die Deutschen mussten nachweisen, dass sie arische Herkunft haben. Besonders die, die in diesen Gebieten hier keine ´echten´ Deutschen waren. Mein Vater hat es aber dann als ´Sport´, betrieben und ist viel weiter als die verlangten vier Generationen zurückgegangen. Er hat weiter geforscht und ist dabei etwa bis in das Jahr 1700 zurückgekommen, und zwar in das Gebiet von Hotzenplotz. Ich persönlich bin aber in Opava / Troppau geboren. So dachte ich mir also, ich fahre einmal hin und schaue mir an, was das für Dörfer gewesen sind, über die meine Eltern immer erzählt haben: Holcovice, Komora, Pitarne, Divci hrad und so weiter. So bin ich dann auch in dieses Gebiet gefahren, und zwar mit einer tschechischen Schlesierin. Sie hatte z.B. eine ganz andere Sicht der Vertreibung, was für mich ein großes Erlebnis war. Außerdem sprach sie genauso deutsch wie meine Mutter. So hat mein Interesse für Osoblaha begonnen, neben Troppau die größte Stadt in dem Gebiet mit dem ganz kuriosen Namen Hotzenplotz."Sagen Sie mir bitte, was alles Sie auf dieser "Endeckungsreise" gesehen haben und was Sie besonders beeindruckt hat?
"Ich bin nicht nur wie geplant nur eine, sondern gleich drei Wochen geblieben, weil ich das alles sehr spannend gefunden habe. Ich muss sagen, mich haben viele Sachen überrascht. Ich bin damals das erste Mal wieder in diesem Gebiet gewesen, das ich einst mit fünf Jahren verlassen musste und an das ich mich kaum noch erinnern konnte. Zunächst hat mich hier in dieser schlesischen Region im Unterschied zu Böhmen die Freundlichkeit überrascht. Ich bin nirgendwo einer Aversion gegenüber den Deutschen begegnet. Alle, die ich traf, waren sehr aufgeschlossen, interessiert und hilfsbereit. Viele, und das war für mich das Überraschendste, haben zu mir gesagt: Wir sind Schlesier und keine Böhmen. Ich wusste nicht, dass es hier auch Vorbehalte gibt wie in Deutschland wischen Bayern und Preußen. Interessant waren viele Begegnungen und darunter vor allem auch die Begegnung mit der jetzigen Besitzerin des Geburtshauses meiner Mutter. Ein sehr schönes Bauernhaus in Komora. Das Haus steht jetzt unter Denkmalschutz. Übrigens, das war für mich auch ganz toll, dass ein ehemals deutsches Haus heute unter Denkmalschutz steht! Das ist wunderbar!"
Dieses Haus haben Sie mithilfe alter Fotos identifiziert, nicht wahr?
"Ja, ich habe damals ein paar Fotos mitgenommen und wollte sehen, ob es das Haus noch gibt. Und siehe da - ich habe es sofort erkannt. Ich war dort mit der tschechischen Bekannten. Die Besitzerin, übrigens eine Dozentin an der Universität in Ostrava / Ostrau hat mir sofort das ganze Haus gezeigt. Was sie dringend gebraucht hat, waren gerade Fotografien, weil sie das Haus genau so restaurieren wollte, wie es einmal war. Heute sind dort sogar dieselben Blumen an den Fenstern! Ich fand das sehr rührend. Sie sagte dann nachher zu mir etwas Fantastisches, was ich nie vergessen werde: Immer, wenn Sie hier sind, dann können Sie bei mir übernachten, oben habe ich ein schönes Gästezimmer. Ich war ein bisschen verschämt und sagte, ich wolle nicht stören. Und sie sagte: Aber wieso denn, es ist doch Ihr Haus! Und das hätte ich nicht erwartet. Wir sind auch bis jetzt befreundet. Ich habe sie mittlerweile einige Male besucht und es war immer sehr freundschaftlich. Das sind solche Begegnungen, die mich wirklich tief berührt haben. Seit dem ersten Treffen vor etwa sechs Jahren war ich hier in Opava noch zweimal, jeweils zwischen zwei und vier Wochen. Ich habe auch sehr viel im Landesarchiv gearbeitet. Die Sorge, mit der sich die Archivverwaltung um die deutschen Archivalien und Dokumente kümmert, mit so viel Liebe, das ist fantastisch. Ich hätte eher vermutet, dass zumindest kurz nach dem Krieg durch die kommunistische Herrschaft versucht worden wäre, das zu vernichten. Das ist zum Beispiel in Polen zum Teil passiert."
Sie meinen, um die Spuren der deutschsprachigen Bevölkerung zu beseitigen?
"Genau. Das Troppauer Archiv ist großartig. Das hat mir klar gemacht, dass es hier eine schlesische Bevölkerung gab, die aber zur Hälfte tschechisch und zur Hälfte deutsch war. Mein Vater hat auch Tschechisch gelernt, und zwar auf dem Gymnasium in Bruntal / Brunnenthal, und dann auch bei der tschechischen Armee. Er war nämlich tschechischer Soldat gewesen. Er war nachher zweisprachig. Als Journalist hat er deutsch und tschechisch geschrieben."
Das war beinahe eine Selbstverständlichkeit, dass man als Journalist beide Sprachen beherrscht hat, oder?
"Das ist eben das, was ich sehr bedauere. Gerade hier im schlesischen Gebiet, dem ehemaligen Österreichisch-Schlesien, waren wir auf dem besten Wege zu einer Gesellschaft zu werden ähnlich wie in der Schweiz, wo die Sprachgrenze nicht zugleich auch eine politische Grenze oder eine Grenze zwischen den Menschen war. Am Ende des 19. Jahrhunderts, und zwar mit dem Aufkommen der nationalistischen Gedanken auf beiden Seiten, fing das schon an zerstört zu werden. Die Nazis haben dann den Schlusspunkt gesetzt!"
Sagen Sie mir bitte, Ihre erste Begegnung mit dem Hotzenplotzer Gebiet und mit der Stadt Hotzenplotz selbst, war das wirklich der ausschlaggebende Moment, nach dem Sie sich in die Materie erst richtig vertieft haben, oder haben Sie schon vorher geforscht?
"Nein. Ich wusste nichts von Hotzenplotz. Darüber hatte ich von meinen Eltern nichts gehört. Ich kannte nur die Dörfer, die - von Troppau aus gesehen - in den Erzählungen sozusagen davor kamen. Ich habe mich nie zuvor damit beschäftigt. Für mich war es aber ein Schock, als ich nach Hotzenplotz kam. Ich war schlicht entsetzt. Erstens war dort völlig arme Bevölkerung zu sehen, nach meiner Einschätzung mindestens zur Hälfte arbeitslos. Kaum junge Leute. Die Straßen leer, eine menschenfeindliche Plattenbauarchitektur und ähnliches mehr. Ich habe nur ein einziges Kaffeehaus gesehen, wo ich mit der tschechischen Bekannten einen Kaffee nehmen konnte. Zwei oder drei arbeitslose Männer haben hier ihr Bier getrunken. Das war die eine Seite und die war deprimierend. Dann hat mir die Bekannte aber noch etwas anderes in Hotzenplotz gezeigt. Das war der jüdische Friedhof. Ich dachte mir, das ist wohl ein Treppenwitz der Geschichte! Die Deutschen, die deutsche Wehrmacht, wollten Hotzenplotz bis zum Schluss verteidigen, mit dem Ergebnis, dass Hotzenplotz heute nicht mehr existiert."
Weil es damals dem Boden gleichgemacht wurde!
"Doch das, was die deutsche Wehrmacht bestimmt nicht schützen wollte, das ist bis heute erhalten geblieben, nämlich der jüdische Friedhof. Die Tatsache, dass der Friedhof heute noch existiert, hat mich auch tief berührt!"
Erzählen Sie mir bitte über den Friedhof.
"Von der Existenz einer jüdischen Gemeinde in Hotzenplotz habe ich nichts gewusst. Ich habe erst im Laufe der Zeit durch Archivrecherchen und vor allem dann durch die Arbeit an der großen Edition des Nachlasses von dem großen Geschichtsschreiber der Region des 19.Jahrhunderts, Edward Ritter, erfahren, dass zu bestimmten Zeiten, mehrere Jahrhunderte lang, ein Drittel der Bevölkerung in Hotzenplotz jüdisch war. Es hat mich gefesselt, diese Symbiose von einem Drittel der Juden und zwei Dritteln der Deutschen, Slawen gab es dort damals nicht mehr, obwohl die Stadt ursprünglich durch Slawen gegründet worden war, die dort aber nur bis zum 12.Jahrhundert gesiedelt haben. Diese multikulturelle und multiethnische Gemeinschaft von damals hat mich oft an den Nahen Osten erinnert. Und zum Teil auch an den Palästina-Konflikt, bei dem etwas Ähnliches abläuft, was einst auch hier vor Ort passierte. Wir in Europa sind aber heute wieder so weit, dass mich die heutige Besitzerin des Hauses meiner Mutter einlädt, bei ihr zu wohnen, mit der Begründung, dass es mein Haus sei. Und ich wünschte mir, dass das im Konflikt zwischen Israel und Palästina auch einmal kommen wird, dass ein Israeli einem Palästinenser, der zu ihm auf Besuch kommt, dessen eigenes altes Haus zeigt. Im Grunde war Ende des 19.Jahrhunderts das Problem hier gelöst - bis die nationalistischen Strömungen aufkamen. Wir brauchten erst den totalen Zusammenbruch mit dem 2.Weltkrieg, um vernünftig zu werden und langsam aufzuwachen. Und mit dem Zusammenbruch des Kommunismus ist diese Phase endlich beendet, so dass wir, Gott sei Dank, in Europa wieder zusammenfinden können!"