Entwicklungshilfe und Grenzschutz: Die zwei Seiten der Migrationspolitik Tschechiens
Migrationspolitisch liegen Tschechien und Deutschland oft verquer. Die öffentliche Diskussion der vergangenen Jahre beherrscht der Streit um verpflichtende Aufnahmequoten für Geflüchtete. Tschechien lehnt dieses – mit Rückhalt seiner Partner der Visegrád-Gruppe (V4) – weiter vehement ab. Auf anderer Ebene versuchen die Länder aber durchaus, an einem Strang zu ziehen. Eher im Hintergrund und ohne große mediale Aufmerksamkeit gibt es lokal ausgerichtete Kooperationsprogramme. So haben die V4 und Deutschland gerade ein gemeinsames Migrationsprojekt für Marokko beschlossen.
Ende September hat die Europäische Kommission ein neues Migrationspaket geschnürt. Damit soll die deutlich ungleiche Verteilung von Geflüchteten auf die einzelnen EU-Mitgliedsländer besser ausbalanciert werden. Das richtet sich vor allem an Staaten, die sich weiter gegen eine Aufnahme von Migranten wehren. Tschechien gehört dazu.
Aleš Chmelař ist Staatssekretär im hiesigen Außenministerium. Er nennt das angedachte Konzept des Migrationspaketes ein „originelles Vorgehen“. Und sagt weiter:
„Diese Debatte hält an. Aber ich glaube, in Europa stimmen wir allgemein immer öfter überein, dass zum Beispiel verpflichtende Aufnahmequoten nicht die einzige oder hauptsächliche Lösung sein können. Wir müssen uns stattdessen auf eine Rückkehrpolitik konzentrieren sowie auf den Grenzschutz und eine legale Migration.“
Im Rahmen dieser Diskussion wird immer auch die Forderung laut, die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern zu verbessern und die Einheimischen zum Bleiben zu motivieren. Das ist das Ziel eines neuen Migrationsprojektes, auf das sich die V4-Staaten – also Tschechien, Polen, Ungarn und die Slowakei – und Deutschland geeinigt haben. Gemeinsam will man sich in Marokko engagieren.
Transitland Marokko
Das Land liegt an der westafrikanischen Migrationstrasse und bietet mit seiner Nähe zu Gibraltar den kürzesten Weg über das Mittelmeer nach Europa. Die Zusammenarbeit mit den Staaten Nordafrikas sei eine der Prioritäten der EU-Migrationspolitik, so Chmelař:
„Ein weiterer Grund ist auch, dass wir in unserer Haltung zur Migrationsthematik solidarisch sein wollen. Marokko war lange Zeit eine der risikoreichen Transitregionen in Bezug auf die Migration vor allem nach Spanien.“
Fast 100 Millionen Kronen (3,7 Millionen Euro) wird Prag investieren, genauso viel wie die anderen V4-Staaten jeweils auch. Das stellt die eine Hälfte des Projektbudgets dar. Deutschland bringt die andere Hälfte mit ein. Insgesamt werden so 30 Millionen Euro zusammengetragen.
Damit soll vor Ort zum einen Entwicklungshilfe geleistet werden. Zum anderen fließen die Mittel in den Ausbau der Grenzanlagen Marokkos. Diese Kombination hält Adela Jurečková für problematisch. Sie kümmert sich bei Tschechiens größter NGO Člověk v tísni (Mensch in Not) um den Bereich Migration:
„Ich finde es wichtig, dass man nicht auch noch sagt, man würde Marokko helfen. Sicher, wenn man eine gute und langfristige Entwicklungszusammenarbeit in einem Land aufbaut, in wichtige Projekte investiert, langfristig mit den Menschen vor Ort arbeitet und sich an ihren Bedürfnissen orientiert, dann kann das eine wunderbare Sache sein. Aber ich beobachte die Tendenz, die Dinge immer mehr zu vermischen. Man redet von Hilfe oder Entwicklungszusammenarbeit, aber gleichzeitig sind in diesem Paket verschiedene Maßnahmen für den Grenzschutz versteckt.“
Jurečková warnt davor, die Entwicklungshilfe für Marokko als Deckmäntelchen für die weitere Abschottung Europas zu benutzen. Fakt ist allerdings, dass die 30 Millionen Euro zu gleichen Teilen in die beiden Säulen des Projektes fließen. Tschechien ist dabei nur Geldgeber und führt die Hilfsprojekte nicht selbst aus. Die Hälfte des Budgets geht daher an die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), die mit einer Filiale im Marokko tätig ist. Chmelař führt aus:
„Die Gelder werden eingesetzt im Bereich der Wasser- und Abfallwirtschaft. Es sollen neue Arbeitskräfte geschaffen und die Strukturen in diesem Wirtschaftsbereich verbessert werden.“
Und weiter:
„Natürlich stehen wir in Kontakt mit der GIZ. Wir wollen sichergehen, dass die Ausschreibungen der örtlichen Partner transparent ablaufen. Die Gelder gehen von unserer Seite als Spende an diese Agentur.“
Auch mit der Umsetzung der zweiten Projektsäule wurde eine externe Institution beauftragt, nämlich das International Center for Migration Policy Development (Internationales Zentrum für migrationspolitische Entwicklung, ICMPD) mit Sitz in Wien. Noch einmal Chmelař:
„Diese Organisation hat langjährige Erfahrungen mit der Erprobung und Realisierung von Migrationsprojekten, gerade auch in Marokko. Ein Bestandteil dieses Projektes ist etwa eine Kapazitätsstärkung der lokalen Organe beim Kampf gegen illegalen Menschenschmuggel. Aber es geht genauso um den Einkauf von technischer Ausrüstung zum Grenzschutz.“
Nach Einschätzung von Adela Jurečková hat die zweite Säule des Projekts die größere migrationspolitische Bedeutung für die tschechische Regierung. Denn Marokko ist eben nicht nur Herkunftsland, aus dem Einheimische auf der Suche nach besseren Arbeitsmöglichkeiten nach Europa emigrieren. Es ist vor allem auch ein Transitland für Geflüchtete aus Subsahara-Afrika. Das erhöht die Frequenz an legalen wie illegalen Übertritten der marokkanisch-spanischen Grenze.
„Europa setzt immer mehr auf Abschottung und Grenzschutz. Das ist die Tendenz, die man in vielen Ländern sieht: vor allem in der Visegrád-Gruppe, in Österreich, inzwischen aber auch immer mehr in Italien. Und sogar in Ländern, die sich früher viel offener präsentiert haben gegenüber Migranten und Geflüchteten. Es ist für sie wichtig, die Grenzen nach Europa abzudichten, damit aus und vor allem über Marokko weniger Migranten und Flüchtlinge nach Europa kommen.“
Erhöhter Lebensstandard befördert Migration
Jurečková weist darauf hin, dass die Migration schwer gestoppt werden kann. Paradoxerweise führt nämlich die Verbesserung der Lebensbedingungen nicht zwangsläufig dazu, dass die Menschen in ihren Ländern bleiben:
„Es gibt verschiedene Studien: Wenn das Wohlstandsniveau in einem Land erhöht wird, führt das oft erstmal zu mehr Migration. Migration ist eben nicht einfach. Nicht jeder und nicht der ärmste Mensch kann migrieren. Das kostet Geld und Ressourcen, die jemand erst einmal haben muss.“
Wenn sich ein junger Mensch diese Ressourcen durch bessere Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen im eigenen Land aneignet, kann es trotzdem immer noch lukrativer sein, sie dann im reicheren Ausland einzusetzen, so Jurečková:
„In Ländern wie Marokko finden viele junge Menschen keine Beschäftigung. Für sie ist es keine Hilfe, wenn man Geld beisteuert, damit die Menschen im Land bleiben. Denn das Geld, das die Migranten dann in ihr Land und an ihre Familie zurückschicken, ist oft ein Mehrfaches von dem, was an Entwicklungshilfe investiert wird.“
Das macht die Grenzen eines solchen Migrationsprojektes deutlich. Zudem beruht das Vorhaben auf den einmaligen Zahlungen europäischer Länder. Viele NGOs und entwicklungspolitische Akteure weltweit argumentieren aber, dass Investitionen mit kurzer Laufzeit nicht nachhaltig und oft nicht zuverlässig helfen können.
Hilfreicher und langfristig wirkungsvoller wäre es, wenn die entwickelten Staaten der Welt tatsächlich und einheitlich 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP) in die offizielle Entwicklungshilfe investieren würden. Dieses Ziel wurde 1970 von der UNO-Generalsversammlung festgelegt. Nach den Daten von 2018 erfüllen in Europa nur fünf Staaten diese Vorgabe. Tschechien ist nicht darunter. Deutschland übrigens auch nicht. Während Deutschland dem Ziel mit 0,61 Prozent aber wenigstens nahekommt, ist Tschechien mit 0,14 Prozent noch weit entfernt. Das Problem läge nicht im Aufbringen des Geldes, sondern in der Umsetzung, begründet Aleš Chmelař:
„Die Tschechische Republik bemüht sich seit langem, dieses Ziel der 0,7 Prozent BPI zu erfüllen. Das ist uns bisher nicht gelungen, denn unsere implementativen Strukturen, also die Möglichkeiten, die Projekte vor Ort umzusetzen, sind relativ begrenzt“.
Aus diesem Grund nutzt Tschechien in dem Marokko-Projekt stellvertretend die Erfahrungen und Netzwerke des GIZ und des Internationalen Zentrum für migrationspolitische Entwicklung, so der Staatssekretär weiter:
„Anstelle von halbherzigen Ambitionen, einfach Gelder bereit zu stellen, nutzen wir schon vorhandener Kapazitäten von Agenturen, damit die Gelder in vollem Umfang in die Projekte fließen.“
Für solche Investitionen wurden vom tschechischen Außenministerium insgesamt 300 Millionen Kronen (11 Millionen Euro) bereitgestellt. Dreigeteilt geht das Geld im Jahresabstand an jeweils ein Projekt in Afrika. Marokko macht den Anfang.
Was das Verhältnis zu Deutschland in Sachen Migrationspolitik angeht, ist die aktuelle Zusammenarbeit für Chmelař ein Ausdruck dafür, wie nah man sich im Grunde genommen steht:
„In den fünf Jahren, in denen wir innerhalb der EU-Staaten diese verschärfte Debatte zur Migration führen, haben wir uns wirklich ziemlich angenähert. Gleichzeitig meine ich, dass der Streit, oder besser die verschiedenen Ansichten zur Migrationspolitik, die Deutschland und Tschechien haben, relativ gering sind im Gegensatz zu den Unterschieden, die zwischen anderen EU-Staaten bestehen.“