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22) Radka Denemarková: „Stunden aus Blei“

Radka Denemarková (Foto: Vojtěch Havlík, Archiv des Tschechischen Rundfunks)

Der vielschichtige Roman „Hodiny z olova“ („Stunden aus Blei“) ist das bisher letzte Werk der tschechischen Gegenwartsautorin Radka Denemarková. Die Schriftstellerin kritisiert darin die europäische Gesellschaft für ihr Wohlwollen gegenüber dem Regime in China, in dem sich – so die Autorin – das Schlimmste von Kapitalismus und Kommunismus vereint habe.

Roman „Stunden aus Blei“  (Foto: Verlag Host)

Frau Denemarková, wir sprechen heute über Ihren Roman „Stunden aus Blei“, der 2018 erschienen ist. Es ist Ihr Lebenswerk, wie Sie mir damals gesagt haben. Wovon handelt das Buch?

„Für mich ist es wirklich das Lebenswerk, weil ich in meinem Alter ein Buch geschrieben habe, in dem ich viele Themen bearbeitet habe, die für mich sehr wichtig waren. Es sind Themen, die die Gesellschaft betreffen, aber auch unser Privatleben. Am Anfang standen meine Aufenthalte in China. Ich war absolut überrascht und schockiert darüber, die sich das Land präsentiert: China ist ein brutaler Polizeistaat. Als ich aber nach Europa zurückkam, sprachen alle hier davon, dass China eine harmonische, stabilisierte Gesellschaft sei. Da habe ich mir vorgenommen, in meinem Alter, falls ich noch Energie habe, einen Roman darüber zu schreiben, was Totalitarismus und autoritäre Systeme bedeuten – für die Familien und für jeden Einzelnen. Ich wollte mit diesem Roman auch ein bisschen warnen. Ich war damals sehr verzweifelt darüber, was alles in der Luft lag. Wir leben in einer sehr spannenden Zeit, überall in der Welt ändert sich vieles, und das war noch vor der Pandemie. Die Pandemie hat dann alle Probleme nur klarer gezeigt.“

Radka Denemarková  (Foto: Ondřej Tomšů)

Sie sagen zudem, dass es für Sie wichtig war, zu zeigen, was Literatur bewirken kann…

„Literatur kann sensibilisieren. Literatur kann zeigen, dass das Leben auch anders gelebt werden kann. Ich habe fünf Jahre lang an diesem Buch geschrieben, deshalb sage ich: Es ist mein Lebenswerk. Mein Verleger hat mich gebeten, dies nicht mehr zu sagen. Es klinge so, als ob ich bald sterben würde. Nein, ich schreibe weiter. Aber das war wirklich ein Höhepunkt meiner Schaffenskraft. Es ist nicht so, dass ich mich entscheide, über ein Thema zu schreiben. Bestimmte Themen im Leben einer Schriftstellerin warten auf einen. ‚Stunden aus Blei‘ ist auf den ersten Blick ein sehr engagiertes Buch, aber es ist auch mein intimstes Buch.“

Brutaler Polizeistaat

Quelle: Verlag btb

Der Impuls zu dem Text kam von Ihren Aufenthalten in China. Wie ist es dazu gekommen, dass sie mehrmals in das Land gereist sind?

„Das war am Anfang ganz banal. Ich bin mit meinem Buch ‚Ein herrlicher Flecken Erde‘, das damals auf Englisch veröffentlicht wurde, dorthin gereist. Man hat mich zum Literaturfestival Bookworm eingeladen, das in Peking von den dort lebenden Briten und Amerikanern organisiert wird. Das war 2013. Ich war sehr naiv. Wenn man zum ersten Mal in China ist, sieht man ein wunderschönes Land. Aber es gab auch Mikrosituationen, die ich nicht verstanden habe. Wenn ich etwas nicht verstehe, bin ich sehr neugierig und muss wissen, worum es geht. Die Direktorin des Literaturfestivals hat mich wiederholt nach China eingeladen. In China muss man lange warten. Alle haben Angst, es ist ein sehr kompliziertes Land. Aber nachdem ich das Vertrauen der Menschen gewonnen hatte, wusste ich auf einmal alles. Und ich konnte das nicht ertragen. Ich habe mich mit der Leiterin des Literaturfestivals angefreundet, mit dem Schriftsteller und Dissidenten Xi Zhiuyan sowie mit Menschen, die er kannte. Das war in den Jahren 2014 bis 2016. Im Januar 2017 wurde mir dann die Einreise in China verboten, weil ich auch Texte gegen den chinesischen Präsidenten geschrieben habe.“

Foto: Pete Linforth,  Pixabay / CC0

Zu den Menschen im Kreis um diesen Dissidenten war auch eine Medizin-Studentin…

„Ich habe sie sehr gemocht, sie war sensibel und im Alter meines Sohns. Als ich das nächste Jahr in China ankam, haben alle zunächst geschwiegen. Dann wurde sich darüber unterhalten, dass sie verschwunden war. Sie hat Fehler gemacht. Sie war ein bisschen naiv und hat einen offenen Brief gegen die kommunistische Partei des Landes geschrieben. Sie wurde verhaftet und dann ermordet. Ihre Eltern wollten nicht mehr mit mir sprechen. Sie ließen sich scheiden. Die Mutter behauptete, nie diese Tochter gehabt zu haben, weil sie weiter Managerin in einer Firma bleiben wollte. Der Vater durfte nicht mehr als Arzt arbeiten, er lebt jetzt als Bauarbeiter auf dem Lande. Das sind konkrete Beispiele. Eigentlich hat die ganze Welt dieses Mädchen vergessen. Alle Europäer kommen nur nach China, um Geschäfte zu machen. Alle wollen nur reich sein. Dieser ökonomische Pragmatismus ist eine Gefahr für unsere Welt. Ich wollte mit meinem Buch auch diesem Mädchen ein Denkmal setzen.“

Foto: Archiv Magnesia Litera

Denkmal für eine verschwundene chinesische Frau

Illustrationsfoto: Let Ideas Compete,  Flickr,  CC BY-NC-ND 2.0

Sie sind als Autorin zu einem Literaturfestival dort hingekommen. Ihr Umfeld waren vor allem die Mutigen, die Oppositionellen. Haben Sie die Gelegenheit gehabt, das normale Leben dort kennenzulernen?

„Das hängt alles zusammen. Es ist nicht so, dass ich mir bestimmte Menschen ausgesucht habe. Am Anfang interessierten mich diese Mikrosituationen im normalen Leben. Ich habe mich nicht entschieden, ich werde jetzt Rebellin. Absolut nicht, das hat sich so entwickelt. Dieses sogenannte normale Leben ist so, dass alle nur reisen möchten und alle in einer Sekunde Demokratie und Menschenrechte vergessen. China ist wirklich eine Gesellschaft, in der Propaganda funktioniert, es herrscht eine absolute Angst. Man kann dort nicht leben. Mir hat geholfen, dass ich noch vor 1989 in der Tschechoslowakei gelebt habe. Ich weiß ganz genau, was das bedeutet. Mein Vater war zum Beispiel sehr verärgert, als unsere Bekannten aus Westdeutschland zu uns zu Besuch kamen. Sie waren ganz überrascht vom kommunistischen System und sagten, hier sehe doch alles normal aus, das Bier sei so billig. Das Böse ist meist nicht auf den ersten Blick zu sehen. Es ist immer ganz raffiniert, ganz gefährlich. Und dabei leben wir heute in einer Zeit, in der alle Technologien und Social Media den totalitären Systemen auch noch perfekt helfen.“

Illustrationsfoto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prague International

Dieser Schock, diese Erfahrung aus China war ein Impuls. Aber Sie schlagen in Ihrem Buch einen Bogen zwischen China und Europa. Die Figuren sind meist Europäer, und vor allem Tschechen. Sie verlassen Europa, weil sie mit ihrem bisherigen Leben nicht zufrieden sind, sie flüchten, um etwas Neues zu suchen…

Illustrationsfoto: EU Civil Protection and Humanitarian Aid,  Flickr,  CC BY-NC-ND 2.0

„Absolut. In diesen fünf Jahren hat sich vieles geändert. Wir haben 2015 die sogenannte Flüchtlingskrise erlebt. Sie hat gezeigt, dass wir in Osteuropa keine Demokratie aufgebaut haben. Wir haben nur eine konsumorientierte Gesellschaft geschaffen und waren darauf stolz. Ich habe mich gefragt, welche Möglichkeiten wir als Menschen in Osteuropa, in Europa haben? Wir leben in der globalisierten Welt, trotzdem wachsen Nationalismus, Populismus und Antisemitismus. Was bedeutet das alles? In dieser Zeit war etwas in der Luft, das mich beunruhigt hat. Ich wollte das mit diesem Roman zeigen. Ich musste Figuren schaffen, die mir dabei geholfen haben. Das ist vor allem der Kater Pomeranč. Er ist tausend Jahre alt, denn ich brauchte jemanden, der sehr belesen und sehr klug ist, fast ein Philosoph, und die Menschheit beobachtet. Denn viele Modellsituationen wiederholen sich in der Geschichte der Menschheit. Dieser Kater sinniert darüber, wie es war, als er 1968 im Haushalt bei Milan Kundera war oder einst bei Herrn Luther in Deutschland. Der Roman kann wirklich die Essenz einer Zeit zeigen. Vieles ändert sich, aber was entsteht jetzt neu? Für mich ist das Schlüsselwort Humanismus. Dieses Wort wollte ich mit einer frischen Bedeutung zurückbringen.“

Die Krisen der Europäer

Illustrationsfoto: nimo_zhang,  Pixabay / CC0

Die meisten Figuren in dem Buch haben keine Namen – es sind nur typisierte Charaktere, Träger von bestimmten prägenden Eigenschaften und Merkmalen. Es gibt da eine Schriftstellerin, einen Diplomaten, einen Programmierer und Weitere. Warum?

Illustrationsfoto: qgadrian,  Pixabay / CC0

„Alles im Roman hat sein Vorbild in der Realität. Ich wollte aber nicht nur die Realität beschreiben, sondern die Essenz dieser Realität. Und ich wollte auch nicht schaden, deswegen zum Beispiel die Bezeichnung ‚chinesisches Mädchen‘. Das waren Modellsituationen, es war nicht wichtig, welche Namen die Menschen haben. Wichtig war, wie sie sich verhalten, wie sie denken, was sie uns zeigen und sagen können. Und für mich war auch Folgendes von Bedeutung: Für alle Menschen in China, die für die Freiheit kämpfen, ist Václav Havel ein großes Vorbild. In Tschechien wurde hingegen Václav Havel ausgelacht, es wurde gesagt, er sei naiv gewesen. Ich wollte auch dieses Thema öffnen. Ich habe viele Themen geöffnet. Die Figuren sind ganz konkret, aber auch sehr symbolisch.“

Illustrationsfoto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prague International

Dennoch gibt es zwei Figuren mit konkreten Namen: Olivie und David. Es sind junge Menschen. Sie gehören nicht der Generation an, die jetzt gerade die Geschicke in der Welt bestimmt, sondern es sind ihre Kinder. Hat das eine Bedeutung?

„Jedes Wort in diesem Buch hat seine Bedeutung. Ich habe die Wörter wie mit einer Pinzette aneinandergereiht. Ich brauchte auch eine Hoffnung, und Olivie und David sind meine große Hoffnung. Es sind Menschen, die sehr sensibel und introvertiert sind. Unsere Welt braucht selbstverständlich nur Menschen, die dumm sind und schreien, aber es gibt auch Menschen, die eine tiefe Seele und Herz haben. Diese zwei Menschen und ihre Beziehung zueinander ist etwas ganz Neues. Ich brauchte diese Hoffnung.“

Das ist meine Stunde aus Blei…

Illustrationsfoto: xaviandrew,  Pixabay / CC0

Der Roman heißt „Stunden aus Blei“. Blei evoziert eine Last, eine Vergiftung vielleicht. Bei ‚Stunden aus Blei‘ fällt einem ein, dass die Zeit sehr langsam vergeht. Was sind diese „Stunden aus Blei“?

„In diesem Roman gibt es auch Parallelen zwischen Staaten und Gesellschaften in der Geschichte der Menschheit und Parallelen zwischen den menschlichen Leben. Wir alle haben gemeinsame Krisen: Pubertät, die Krise im Alter von 40 oder 50 Jahren, die Krise im Alter, wenn die Krankheiten kommen, und so weiter. Diese Parallele war mir sehr wichtig, um zu zeigen, dass jede von diesen Figuren, Menschen und Gesellschaften ihre bleierne Stunde erlebt. Es ist jener Moment, in dem wir eine Krise erleben, in dem an allem gezweifelt wird. Wir müssen alles vergessen und unser Leben umdenken, uns neu orientieren. Jede der Figuren sagt in einem bestimmten Moment, das sei ihre Stunde aus Blei, und hofft, dass sie diese überlebt.“

Radka Denemarková  (Foto: Silar,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 4.0)

Sie haben Ihren Roman vor drei Jahren veröffentlicht, als eine Mahnung, als eine Warnung, wie Sie sagen. Wenn Sie jetzt zurückblicken, fühlen Sie sich in diesem Appell bestätigt?

„Leider absolut. Ich habe 2013 mit dem Buch angefangen, und alles hat sich bestätigt, was ich nur erahnt habe. Das ist ein Teil dessen, was Talent ausmacht. Im praktischen Leben ist das kein Vorteil, aber für die Literatur ist diese Begabung etwas Unglaubliches. Dieser Roman ist noch aktueller als zu jener Zeit, als ich ihn geschrieben habe. Das passiert mir mit jedem Buch. Mein Verleger hat mir schon gesagt, ich sollte etwas Optimistisches, Utopisches schreiben, weil alles, was ich schreibe, sich dann in der Realität bestätigt.“

Quelle: Archiv Magnesia Litera

Der Roman „Stunden aus Blei“ erhielt 2019 den Literaturpreis Magnesia Litera als das „Buch des Jahres“ in Tschechien. Er wird derzeit in 16 Sprachen übersetzt. Auf Deutsch wird das Buch im Herbst dieses Jahres im Verlag Hoffmann & Campe erscheinen, und zwar in einer Übertragung von Eva Profousová.

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