Wie die russischen Geheimdienste im Schlepptau der Roten Armee in die Tschechoslowakei kamen

Sergej Nikolajevič Vojcechovský

Der 8. Mai 1945 gilt als Tag der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur. Doch für einige Menschen brach danach eine unsichere Zeit an – das waren nicht nur ehemalige Nazis, sondern auch mehrere Hundert frühere russische Emigranten gerieten in der Tschechoslowakei ins Visier der sowjetischen Geheimdienste. Dabei hatten sie häufig schon die Staatsangehörigkeit gewechselt.

Pavel Žáček | Foto: ČT24

Die sowjetischen Agenten kamen im Gefolge der Roten Armee. Das heißt, dass die ersten Verhaftungen auf tschechoslowakischem Boden bereits liefen, als anderswo noch gekämpft wurde.

„Für das sowjetische Regime ging es darum, die Opposition zu liquidieren. Es sollte die Anzahl jener Menschen reduziert werden, die im Ausland lebten, die politischen Verhältnisse in der UdSSR sehr gut kannten und potenziell gegen den Kreml eingestellt waren“, sagt der Historiker Pavel Žáček.

Der frühere Leiter des Instituts zum Studium totalitärer Regime in Prag und heutige Abgeordnete der Bürgerdemokraten hat sich mit dem Thema intensiv beschäftigt. Demnach gingen die sowjetischen Geheimdienste auch gegen ehemalige russische Emigranten vor, die schon längst tschechoslowakische Staatsbürger geworden waren. Das traf zum Beispiel auf den Armeegeneral Sergej Nikolajevič Vojcechovský zu. Während der nationalsozialistischen Besatzung war er eine der führenden Persönlichkeiten des Widerstands gewesen. Dennoch wurde er am 12. Mai 1945 in Prag verhaftet – und zwar von einem Spezial-Kommando des NKWD, also des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten in Russland…

Sergej Nikolajevič Vojcechovský | Quelle:  Wikimedia Commons,  public domain

„Vojcechovský hatte sich als russischer Offizier zu Ende des Ersten Weltkriegs den tschechoslowakischen Legionären angeschlossen. Über Sibirien gelangte er 1921 in die Tschechoslowakei. Er gehörte zum sogenannten ‚Weißen Exil‘, also zu den Emigranten aus den Reihen der Gegner der Bolschewiki. 1929 wurde er tschechoslowakischer Armeegeneral. Zudem hatte er die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft.“

Vojcechovský wurde in die Sowjetunion verschleppt und dort zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Pavel Žáček:

„Formal sprach ein Militärgericht das Urteil. Die Verhaftung hatte aber das Hauptamt der Spionageabwehr vorgenommen mit der Bezeichnung SMERSch. Diese Behörde bestand aus drei Abteilungen, die eine Reihe wichtiger Aufgaben zum Schutz der Roten Armee erfüllten. Das waren der Kampf gegen deutsche Spione, das Aufspüren von Überläufern, das Eindringen in die deutsche Etappe durch Spezialverbände und Verhaftungen im Hinterland der Roten Armee.“

Sergej Nikolajevič Vojcechovský  (Mitte) | Foto:  Wikimedia Commons,  public domain

Für Sergej Vojcechovský endete Letzteres tödlich. Er kam in ein Sonderlager des NKWD für politische Gefangene, das sogenannte OserLag in der Region von Irkutsk in Sibirien. Dort starb der tschechoslowakische General Anfang Mai 1951 – offiziell an Tuberkulose und Altersschwäche…

Aus der Wohnung gelockt

Da die Verhaftungen im Gefolge der Roten Armee geschahen, schwappten sie von Ost nach West übers Land. Die Historikerin Anastazie Kopřivová hat eine Studie über die russische Emigration in die Tschechoslowakei verfasst. Dort schreibt sie:

Anastazie Kopřivová | Foto: Katerina Ajspurwit,  Radio Prague International

„Die ersten Fälle sind im Februar 1945 aus Poprad und Spišská Nová Ves dokumentiert. Dann folgten Bratislava im April, Ostrau am 3. Mai, Brünn am 9. Mai und ab 11. Mai auch Prag. In der Hauptstadt hielten die Verhaftungen den ganzen Monat an, und das sogar samstags und sonntags. Die Opfer wurden unter unterschiedlichen Vorwänden aus ihren Wohnungen oder von der Arbeit weggelockt – man behauptete, sie sollten etwas durchlesen, übersetzen oder den Weg erklären. Den Familien wurde immer versichert, sie sollten sich keine Sorgen machen, es werde nicht lange dauern. Doch dann wurden es mindestens zehn Jahre. Und viele der Verschleppten kehrten nie mehr zurück, wobei bis heute nichts über ihr Schicksal bekannt ist.“

Die Verhafteten durften ihre Angehörigen nicht kontaktieren, und diese erhielten von den sowjetischen Behörden auf Anfragen auch keine Auskünfte. So wie im Fall von Vladimír Rafalský. Sein Sohn Dimitri Rafalský hat vor einigen Jahren für das Zeitzeugenprojekt Páměť národa (Volksgedächtnis) des Vereins Post Bellum und des Tschechischen Rundfunks seine Erinnerungen geschildert:

Dimitri Rafalský | Foto: Post Bellum

„Die Leute vom SMERSch kamen um zehn Uhr morgens und machten einen sehr netten Eindruck. Sie baten meinen Vater, mit ihnen mitzukommen, weil sie mit ihm sprechen wollten. Es sei nur für zwei Stunden. Mein Vater hatte aber schon eine Vorahnung und sagte zu mir, dass ich das Familienoberhaupt sein würde, sollte ihm etwas zustoßen. Er ging also mit den Männern weg – und wir warteten zwei Stunden, zwei Tage, zwei Wochen, zwei Monate, zwei Jahre, 20 Jahre. Wir haben ausgeharrt, weil wir nicht wussten, was geschehen war.“

Nach 15 Jahren wurde der Vater für tot erklärt – und die Mutter bekam zumindest eine gewisse Form sozialer Hilfe. Erst während der Reformbemühungen des Prager Frühlings 1968 erfuhr Dimitri Rafalský dann mehr: Demnach war sein Vater schon einen Tag nach der Verhaftung bei einem Verhör ums Leben gekommen.

Vladimír Rafalský mit seiner Ehefrau 1945 | Foto aus dem Buch „Rok v táboře nepřítele“ von Nikolaj Sinewirskij,  Archiv von Irena Rafalská

Da Vladimír Rafalský seit seiner Emigration nur als anerkannter Flüchtling in der Tschechoslowakei gelebt hatte, fühlte sich hierzulande über 20 Jahre lang niemand für seinen Fall zuständig. Viele weitere russische Emigranten besaßen 1945 aber schon längst die Staatsbürgerschaft ihrer Wahlheimat. Dennoch gab es kaum Protest von offiziellen Stellen in der Tschechoslowakei. Pavel Žáček:

„So etwas haben sich die hiesigen Behörden in der ersten Zeit nach dem Kriegsende nicht getraut. Erst später begannen sie zu reagieren – nachdem sich immer mehr Familien der Verhafteten an sie gewandt hatten. Dann versuchten sie, mit den sowjetischen Behörden zu kommunizieren.“

Tatenlose tschechoslowakische Behörden

Bohumil Boček war damals Leiter des Hauptstabs der tschechoslowakischen Verteidigungskräfte. Am 5. Juni 1945 wandte er sich mit folgender Bitte an das Außenministerium in Prag:

Bohumil Boček | Foto: Staatssicherheit StB

„Ständig wiederholen sich die Fälle, dass auf dem Boden unserer Republik tschechoslowakische Staatsangehörige von den Organen der Roten Armee verhaftet und ins Ausland verschleppt werden. Ich bitte um eine Intervention beim Botschafter der Sowjetunion, damit im Sinne von Artikel sieben des Vertrages beider Länder die Ermittlungen gegen und die Verhaftungen von tschechoslowakischen Staatsbürgern beendet werden und diejenigen, die bereits in Haft sind oder verschleppt wurden, unverzüglich den tschechoslowakischen Sicherheitsorganen übergeben werden.“

Nicht einmal diese deutlichen Worte von einem der höchsten Militärs im Land hatten Erfolg. Ganz im Gegenteil…

Gedenktafel an die Opfer der russischen Geheimdiensten in der Tschechoslowakei | Foto: Igor Budykin,  Radio Prague International

„Moskau verbat sich jegliche Einmischung und forderte Prag dazu auf, sich nicht weiter für diese Menschen einzusetzen. Obwohl bei den tschechoslowakischen Behörden rund eintausend Beschwerden eingingen, blieben diese untätig. Der Februar 1948 bedeutete dann das Ende jeglichen Bemühens“, sagt Historiker Žáček.

Das heißt, mit der Machtübernahme der Kommunisten in der Tschechoslowakei verschwand auch jegliche Chance auf eine Aufklärung der Schicksale. Erst nach der politischen Wende von 1989 bildete sich hierzulande ein Verein, der die Opfer aus den Reihen früherer russischer Emigranten dokumentiert hat. Insgesamt konnte er in rund 400 Fällen belegen, dass die Menschen tatsächlich im Gulag gelandet sind. Von diesen kehrten später nur 70 zu ihren Familien zurück.

Autoren: Till Janzer , Ivana Chmel Denčevová
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