27) Der Mensch und die Welt – der schriftstellerische Alleskönner Marek Šindelka
Gedichte, Erzählungen, Romane, Drehbücher, Comics und nun auch ein Theaterstück – Marek Šindelka kann irgendwie alles. Dabei ist er erst 37 Jahre alt. Das Erstaunliche dabei: In allen literarischen Genres wurde er bereits ausgezeichnet. Deswegen darf dieser zeitgenössische Autor auch nicht fehlen in unsere Serie über „Tschechische Bücher, die Sie lesen müssen“.
Begonnen hat Marek Šindelka als Dichter. 2006 erschien sein Debüt „Strychnin und weitere Gedichte“. Dafür erhielt er den Jiří-Orten-Preis. Im Interview für Radio Prag International sagt der Autor, dass Lyrik für ihn mit Anfang zwanzig die beste Form des Ausdrucks gewesen sei:
„Ich habe die Erinnerungen an die Kindheit von mir und meinem Bruder niedergeschrieben, an unser Aufwachsen. Wir hatten danach eine schwere Zeit, mein Bruder war drogenabhängig. Und ich fühlte mich fast magisch gezwungen, die Erinnerungen zu wecken an die Kindheit und an diese glückliche Welt. Deswegen habe ich Gedichte geschrieben. Diese ermöglichten mir, all die typischen Eindrücke von damals zu verarbeiten – Gerüche und andere Sinneswahrnehmungen, die am leichtesten im Gedächtnis bleiben und vielleicht in den Träumen wiederkehren.“
Obwohl die Gedichtsammlung ein großer Erfolg wurde, blieb Marek Šindelka nicht bei der Lyrik. Was war der Grund für den Wechsel des Genres?
„Als ich meine Lebenserfahrungen auf persönliche Weise zusammengefasst hatte, glaubte ich nicht daran, dass auch andere Menschen etwas mit diesen Texten anfangen können. Ich war daher sehr nervös, als ich sie in die Welt ließ. Dann wurde ich aber davon überrascht, wie leicht sie aufgenommen wurden und die Menschen sich mir anschlossen. Bis heute bekomme ich Reaktionen auf mein erstes Buch. Zugleich wusste ich beim Verfassen des nächsten Buches, dass ich mich nicht noch einmal derart öffnen und von mir so viel in die Welt posaunen möchte. Deswegen begann ich, eine Geschichte zu schreiben, die auf einer kurzen Nachrichtenmeldung über mehrere Botaniker beruhte, die Pflanzen aus Neuseeland geschmuggelt hatten. Erst schrieb ich ein kurzes Gedicht. Das habe ich dann zu einer Erzählung erweitert. Und zum Schluss entstand ein Roman. Es ist einfach auf lebendige Weise gewachsen. Der Weg dorthin war sehr natürlich“, so der Autor.
Die Welt der Botanik
2008 erschien Šindelkas Roman-Erstling „Der Fehler“. Von den Kritikern wurde er gelobt und von den Lesern begeistert aufgenommen. Im Mittelpunkt der Handlung steht der Eigenbrötler Kryštof, den seine Leidenschaft für Pflanzen antreibt. Eine kleine Kostprobe:
„Herkulesstauden. Alles, was er später über diese Pflanzen hörte oder selbst herausfand, grub sich tief durch alle anderen Erlebnisse, die sich in seinem Gedächtnis abgelagert hatten, und drang bis zu seiner ältesten Erinnerung durch, um sich dort festzusetzen. Herkulesstauden umgrenzten sein Leben. Nie würde Kryštof begreifen, warum er sich nur an dieses eine Detail ihrer Reise erinnerte. Schließlich war er damals mit der Mutter unterwegs gewesen, um den Vater zu besuchen. Warum konnte er sich nicht an ihn erinnern? Und warum an nichts anderes aus dieser Zeit? Kryštof wusste es nicht.“
Kryštof schmuggelt unter Lebensgefahr seltene Orchideen aus dem Dschungel. Er verstrickt sich dann – wie es im deutschen Klappentext heißt – in eine geheimnisvolle Story, in der ein vierzehnjähriger, blinder Killer, eine wertvolle, fleischfressende Orchidee, aber auch die russische Mafia und nicht zuletzt seine verlorene große Liebe Nina eine entscheidende Rolle spielen. Und der Autor selbst zu der Story:
„Der Protagonist ist ein Pflanzen-Hehler, der den Auftrag erhält, ein unbekanntes Gewächs aus Japan zu schmuggeln. Nach und nach stellt er fest, dass es eine parasitäre Pflanze ist, über die er nichts weiß, und dass er immer mehr opfern muss, um sie dem Käufer zukommen zu lassen. Es ist metaphorisch gemeint für unsere Beziehung zur Umwelt und zur Natur.“
Mittlerweile ist eine zweite Auflage des Romans geplant. Wie Šindelka aber erzählt, hat er in den vergangenen beiden Jahren dafür den Text noch einmal komplett überarbeitet. Außerdem entstand 2011 bereits aus der Handlung des Buches eine Graphic Novel.
Höchster tschechischer Literaturpreis
Ein Jahr später konnte sich der Schriftsteller des wichtigsten tschechischen Literaturpreises rühmen, des Magnesia Litera. Šindelka erhielt die Auszeichnung für seinen Erzählband „Bleiben Sie dran“. 2016 wurde er erneut mit dem Magnesia Litera ausgezeichnet, diesmal aber für den Kurz-Roman „Materialermüdung“. In diesem geht es um die Erlebnisse zweier junger Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa. Wie Marek Šindelka erläutert, habe er mit der Geschichte reagiert auf die Welle starker Ablehnung von Flüchtlingen in seiner tschechischen Heimat im Jahr 2015.
„Ich fand es sehr eigenartig, wie virtuell dieses Problem war. Und wie emotional die Menschen reagiert haben, obwohl sie überhaupt nicht mit Flüchtlingen in Kontakt kamen. Ich fahre regelmäßig nach Belgien und Holland, wo man die reale Lage sehen kann. Man erkennt sowohl, wie groß die Probleme sind, aber genauso, dass es sich um Menschen handelt. Wenn man direkt auf sie reagiert, ist dies etwas anderes, als dies auf Facebook zu tun. Ich fühlte Wut, gemischt mit Scham dafür, wie leicht wir uns manipulieren lassen. Niemals habe ich jedoch die normalen Leute beschuldigt. Diese haben ein Recht, sich vor etwas Fremden zu fürchten. Ich fand es aber ungeheuerlich, wie die politischen Vertreter damit umgegangen sind“, sagt der Schriftsteller.
Und so entstand die Geschichte zweier Brüder, die vor dem Krieg in ihrem Land flüchten, aber auf dem Weg in den Norden Europas voneinander getrennt werden. Šindelka erzählt in filmisch genauer Sprache. Das Buch beginnt so:
„Ein Rucksack fällt in den Schnee, und ihm hinterher ein Junge. Es ist abends. Am Horizont ist es hell. Ein rohes, aus dem Grau herausgeschnittenes Stück Himmel. In der Luft ist der Atem zu sehen. Auf dem Zaun aus Metall glitzert der Frost. Auch die Betonmauer glitzert. Hinter der Mauer Glasscheiben in einer Reihe, Lichttafeln, ein strahlender Plattenbau. Schnell steht der Junge auf, er klopft sich den Schnee von den Knien. Die Decke mit der Registriernummer hängt über dem Stacheldraht oben am Zaun.“
Der Protagonist hat keinen Namen, er wird nur einfach „Junge“ genannt. In seiner Heimat war er ein hoffnungsvoller Nachwuchsläufer, nun rennt er um sein Leben. Marek Šindelka:
„Das Buch handelt von einem Menschen, der verloren ist in einer eisigen Welt. Ich wollte auch, dass sich alles in Bewegung befindet, er die Umgebung scannt und der Leser ihm dabei direkt folgt. Deswegen sollte ihn der Name nicht gleich verraten als jemanden aus dem Nahen Osten. Man sollte sich – gewollt oder nicht – mit ihm verbinden.“
„Materialermüdung“ wurde mittlerweile in viele Sprachen übersetzt. Neben Deutsch und Englisch gehört dazu auch Arabisch…
„Das Buch ist sogar direkt in Syrien erschienen, in Damaskus. Dort wurde es von einer hervorragenden Übersetzerin zusammen mit einem örtlichen Dichter ins Arabische übertragen. Zwar gibt es bereits einige wenige Reaktionen darauf, aber eigentlich weiß ich noch nicht, wie das Buch dort wahrgenommen wird. Ebenso wenig kenne ich den Kulturbetrieb dort. Für mich war es eine Ehre, dass der Verlag mein Buch ausgewählt hat. Im Vergleich dazu lassen sich Literatur-Preise und Kritiken vernachlässigen. Ich halte es für eine Auszeichnung, dass die Geschichte den Weg zurück zu jenen Leuten gefunden hat, um die es mir beim Schreiben ging“, erläutert der Autor.
Jedes Thema hat seine Form
Neben den klassischen Literatur-Genres hat Šindelka auch einen Comic geschrieben. 2016 gab er zusammen mit Vojtěch Mašek und Marek Pokorný die Graphic Novel „Svatá Barbora“ (Heilige Barbara) heraus. Die Geschichte ist inspiriert von wahren Begebenheiten – dem sogenannten Fall Kuřim über misshandelte Kinder, der die tschechische Öffentlichkeit geschockt hat. Auch dieses Buch wurde ausgezeichnet, und zwar mit dem Muriel-Preis für den besten tschechischen Comic. Für den mittlerweile anerkannten Literaten bedeutet es keinerlei Anstrengung, zwischen den Genres zu wechseln. Ganz im Gegenteil:
„Ich springe gerne hin und her. Durch die Arbeit an einem Genre kann ich mich von einem anderen erholen. Außerdem hat sich mein Weg in die Literatur von selbst gebahnt. Die Themen, die mich interessieren, diktieren mir meist selbst ihre Form auf. Wie ein Tier, das den geeigneten Abguss sucht. Mir gefällt es, sie auf ihre Weise leben zu lassen. Ich versuche nicht, etwas in die falsche Form zu pressen.“
Die neueste Wendung geht dahin, dass Marek Šindelka ein Theaterstück schreibt – zum ersten Mal überhaupt…
„Ich muss eine gewisse Freiheit spüren. Aber mir gefallen solche Herausforderungen, mich interessiert auch, was wofür taugt. Ich sehe das so, dass weiterhin große Dinge vor mir liegen. Ein bisschen sondiere ich das Terrain. Ich habe Filmregie studiert, schreibe Drehbücher sowie Prosa und arbeite an Comics. Wunderbar ist daran, dass man auf vielen Wegen sprechen kann – und jeder zu etwas anderem taugt“, so der Schriftsteller.
Marek Šindelka hat mittlerweile auch viele Leser im deutschsprachigen Raum gewonnen. Von ihm übersetzt wurden: die Gedichtsammlung „Strychnin und weitere Gedichte“, die Erzählbände „Bleiben Sie dran“ und „Annas Landkarte“ sowie die beiden Romane „Der Fehler“ und „Materialermüdung“.