„Es sollte ein zusätzlicher Wert entstehen“ – Dirigent Hrůša zur preisgekrönten Bruckner-CD
Jakub Hrůša ist derzeit international sehr gefragt. Er ist Chefdirigent der Bamberger Symphoniker sowie Hauptgastdirigent der Tschechischen Philharmonie und des Orchestra dell‘Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom. Hrůša wird regelmäßig zu den renommiertesten Orchestern der Welt eingeladen. Zudem wurde der Tscheche bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet, zuletzt vorige Woche. Martina Schneibergová hat mit dem Dirigenten über diese Ehrung gesprochen.
„Es war eine verrückte, spontan geäußerte Idee, aber mit einem Resultat, das allen viel Freude bringt.“
Herr Hrůša, Sie haben für Ihre Aufnahme der 4. Sinfonie von Anton Bruckner mit den Bamberger Sinfonikern den International Classical Music Award erhalten. Die Aufnahme ist dadurch einzigartig, dass sie sogar drei Fassungen der Symphonie enthält. Wie ist das Projekt entstanden?
„Es ist vor ein paar Jahren spontan in meinem Kopf entstanden, als ich zum ersten Mal bei den Bamberger Symphonikern eine Bruckner-Sinfonie dirigiert habe. Es war eben die Vierte Sinfonie. Nach einigen Erfahrungen mit Bruckner bei anderen Orchestern hatte ich ein Dilemma, welche der offiziellen drei Fassungen wir aufführen sollten. In der Geschichte der Aufführungen durch die Bamberger Symphoniker hat die zweite Fassung eine wichtige Rolle gespielt. Aber ich habe recherchiert und empfand ebenso Sympathie für die dritte Fassung. Diese wurde aber später im 20. Jahrhundert als die schlechtere Fassung beschrieben. Bei meinen Recherchen habe ich auch die erste Fassung entdeckt. Damals sprach ich mit meinem Management darüber und sagte, dass es toll wäre, die Überlegungen über die einzelnen Fassungen mit dem Publikum zu teilen. Das heißt alle drei Fassungen der Sinfonie einzuspielen und sie in einer CD-Box herauszugeben. Meine Partner vom Management mochten dieses Risiko. Dabei waren wir derselben Meinung: Wenn man schon ein solch berühmtes Werke aufnimmt, sollte ein zusätzlicher Wert entstehen. Zunächst dachten wir, dass dies ein Plan für mehrere Jahre sein dürfte. Dann begann jedoch die Corona-Pandemie, und wir hatten auf einmal einen Monat frei. Innerhalb von drei Wochen haben wir alle drei Fassungen aufgenommen. Ich bin froh, obwohl es sehr schwer und anstrengend war. Drei Wochen lang Bruckner zu spielen, machte müde, auch mental. Andererseits hatten wir die Möglichkeit, alle drei Fassungen miteinander zu vergleichen. Das hört man schon, glaube ich. Damit hat die Aufnahme eine andere Qualität gewonnen. Es war eine verrückte, spontan geäußerte Idee, aber mit einem Resultat, das allen viel Freude bringt.“
„In unserer Aufnahme ist die erste Fassung am wertvollsten, weil sie nur selten aufgenommen worden ist.“
Kann auch ein Laie die Unterschiede hören in den einzelnen Fassungen der Vierten Sinfonie von Bruckner, die ebenso die „Romantische“ genannt wird? Und kann man die erste Fassung als die schwierigste bezeichnen?
„Ja schon. Für Nichtexperten kann man sagen, dass die zweite und dritte Fassung, wenn man keine Partitur vor sich hat, relativ ähnlich sind. Ich umschreibe dies mit einer Metapher: Es ist dieselbe Person, aber anders gekleidet. Die dritte ist die Fassung letzter Hand, die sozusagen heilig sein sollte. Alle, die sich mit Bruckner beschäftigen, wissen, dass der Komponist damals einen Schritt in Richtung des damaligen Publikumsgeschmacks machte. Er hatte seine Welt verlassen und sich den Erwartungen des Publikums angenähert. Dann gibt es jedoch die erste Fassung: Das Scherzo im dritten Satz klingt völlig anders, das erkennt auch der Hörer. Zudem ist sie viel experimenteller, sehr originell, frisch und in einiger Hinsicht fast revolutionär. Ich habe auch den Musikern gesagt, dass sie mich fast an Leoš Janáček erinnere. Zudem ist die Fassung sehr lang und schwer zu spielen. Als ich vergangenes Jahr zum dritten Mal zu den Berliner Philharmonikern eingeladen wurde, wollten wir Bruckners Vierte spielen. Ich wollte die weniger bekannte erste Fassung zusammen mit einem zeitgenössischen Stück aufführen. Die Philharmoniker lehnten es jedoch ab, diese Fassung zu spielen. Mit anderen Worten: In unserer Aufnahme ist die erste Fassung am wertvollsten, weil sie nur selten aufgenommen worden ist. Ich glaube, dass wir darauf stolz sein können.“
Was bedeutet der Preis für Sie? Wie waren die Reaktionen auf diese Anerkennung – auch von den Musikern?
„Es wird vielleicht ein wenig komisch klingen, aber die Bamberger Symphoniker sind ein Orchester mit einer natürlichen Mischung aus Stolz und Bescheidenheit. Einerseits waren die Musiker sehr begeistert und froh, dass wir den Preis bekommen haben. Auf der anderen Seite habe ich auch Bemerkungen gehört wie: ‚Na ja, natürlich haben wir das toll gemacht.‘ Es ist aber nicht wahnsinnig überraschend, dass dieses Orchester mit einem Preis geehrt wurde. Denn dies ist schon auch in der Vergangenheit mehrmals passiert. Aber für uns, für unser Team jetzt in der Corona-Zeit, ist dies für unsere weitere Arbeit besonders schön. Die Musiker wissen, dass die Dinge, über die ich immer spreche, und die Mühe, mit der wir uns dem Stück gewidmet haben, begründet sind und am Ende anerkannt werden. Für mich persönlich als Tschechen ist es ein besonders schönes Gefühl, dass ich nicht nur auf dem Gebiet der tschechischen Musik zu Hause bin und dafür gelobt werde, sondern auch im deutschen Repertoire und dass ich mit meiner Vision in diesem Bereich etwas Starkes erreichen kann. Dass ich also nicht nur mit Smetana, Dvořák, Janáček, Martinů oder Suk Erfolg feiere, sondern auch beispielsweise mit Mahler und Bruckner. Dies ich wichtig, wenn ich jetzt beispielsweise in Covent Garden in London Wagners Lohengrin dirigieren soll (im April d. J., Anm. d. Red.).“
Inzwischen sind Sie auch für den BBC Music Magazine Award nominiert worden – für die Aufnahme von Martinůs Violinkonzerten mit Frank Peter Zimmermann und den Bamberger Symphonikern. Über die Gewinner wird jedoch noch bis Ende Februar abgestimmt…
„Mal sehen. Die CD wurde zuvor schon gelobt genauso wie die CD von Ivo Kahánek mit den Klavierkonzerten von Dvořák und Martinů (die CD erhielt 2020 den BBC Music Magazin Award, Anm. d. Red.). Wir freuen uns natürlich über den Erfolg.“
An diesem Dienstag tritt Jakub Hrůša mit den Bamberger Symphonikern in der Konzerthalle in Bamberg auf. Auf dem Programm steht die Zweite Sinfonie von Gustav Mahler. Dieselbe Sinfonie erklingt auch bei den Konzerten des Orchesters am 27. Januar im Wiener Konzerthaus und am 29. Januar im Festspielhaus in Baden-Baden. Anschließend reist Hrůša in die USA, wo er das Boston Symphony Orchester und die New Yorker Philharmoniker leiten wird.