Selenskyj: „Alle müssen für eine bestimmte Zeit zu Ukrainern werden“

Wolodymyr Selenskyj

Das öffentlich-rechtliche Tschechische Fernsehen hat am Montagabend ein fast einstündiges Interview mit dem ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj gesendet. Das Gespräch wurde gemeinsam mit dem französischen und ukrainischen Fernsehen aufgenommen. Entstanden ist es dank der Zusammenarbeit mit der Europäischen Rundfunkunion (EBU).

Krim | Foto: chief39,  Pixabay,  CC0 1.0 DEED

Russland erhebt im Rahmen der Verhandlungen über einen Waffenstilland Anspruch auf die Krim und den Donbass. Es handelt sich jedoch Präsident Wolodymyr Selenskyj zufolge um ein unakzeptables Ultimatum, das die künftigen Generationen dem Land nicht verzeihen würden. Das sagte der ukrainische Staatspräsident im Gespräch für das Tschechische Fernsehen. Er betonte, Russland wolle keinen Frieden. Über jedwede eventuelle Kompromissvereinbarung mit Russland, die zur Beendigung des Kriegs führen könnte, würden die Ukrainer laut Selenskyj in einer Volksabstimmung entscheiden.

Jeden Tag zeigen die Medien schreckliche Bilder der leidenden Menschen aus der ganzen Ukraine. Das Tschechische Fernsehen fragte den ukrainischen Präsidenten, ob ihn diese Bilder dazu drängen, Kompromisse einzugehen oder eher härter zu werden. Wolodymyr Selenskyj dazu:

Mariupol | Foto:  ČTK/ABACA/AA

„Es ist sehr schwer, darauf zu antworten. Wir – also ich und der Präsident, der den Krieg gegen uns entfesselt hat – haben unterschiedliche Meinungen in allen Fragen. Beispielsweise spreche ich um 7 Uhr morgens mit dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte, und wir beschäftigen uns damit, wo und wen wir verloren haben: wie viele Kinder, wie viele Soldaten, wie viele Menschen in den Trümmern geblieben sind. Bei wie vielen wir das bestimmt wissen und bei wie vielen noch nicht. Um eventuelle Kompromisse zu besprechen, möchte ich mich in die Lage der Menschen versetzen, die heutzutage leiden – in die Lage der Menschen in Mariupol oder derjenigen, die sich anderswo in einem Keller verstecken. Darum will ich über alles bis in die Details Bescheid wissen. Ich werde nie so viel Schmerz wie diese Menschen fühlen, dazu kommt es nicht. Denn solange man nicht unter Beschuss ist, kann man das nicht begreifen.“

Über Russlands Krieg gegen die Ukraine berichten täglich die Medien in der ganzen Welt. Der ukrainische Präsident ist trotz Warnungen in der Hauptstadt Kiew geblieben. In den vergangenen Wochen ist er zu einer weltweit angesehenen Persönlichkeit geworden:

Kiew | Foto: Wadim Ghirda,  ČTK/AP Photo

„Für mich kam gar nicht in Frage, wegzureisen. Auch wenn mir alle gesagt haben, ich müsste schnellstens das Land verlassen.“

Nach dem fast einen Monat andauernden Krieg habe er sich mittlerweile an die Situation gewöhnt, räumte der Präsident ein:

„Ich schlafe normal. Ich habe eigentlich nie viel geschlafen.“

Die mit dem Handy gedrehten Videoaufnahmen des Präsidenten helfen, die Moral der Verteidiger des Landes und die Unterstützung aus dem Ausland aufrechtzuerhalten. Dies sei keine durchdachte Strategie gewesen. Alles sei, so Selenskyj, spontan unmittelbar nach dem Beginn des Kriegs entstanden:

Premierminister Polens,  Sloweniens und Tschechiens mit Jarosław Kaczyński im Zug nach Kiew | Foto: Twitter von Mateusz Morawiecki

„Wir müssen rausgehen und zeigen, wo wir sind. Wenn wir nur im Büro sitzen würden, würde uns niemand glauben. So sind wir hinausgegangen und haben den Menschen gesagt: Wir sind alle da!“

Der Fernsehreporter fragte den ukrainischen Präsidenten, ob vielleicht nicht auch weitere europäische Politiker Kiew besuchen sollten, um ihre Solidarität zu demonstrieren, so wie es die Premierminister Polens, Sloweniens und Tschechiens vorige Woche getan haben. Selenskyj merkte an, dass dieser Besuch wichtig gewesen sei. Er habe vorher nicht mit den Regierungschefs gesprochen, so der Präsident:

„Premier Denis Schmyhal hat mir gesagt, dass sie alle drei kommen wollen. Ich habe gesagt, dass ich das unterstütze, dass es mutig klingt. Es klingt hart, und es ist ein Ausdruck der Freundschaft und Partnerschaft. Heute haben wir darüber gesprochen, was die Menschen in der Welt machen müssen. Ich bin davon überzeugt, dass ein Teil der Antwort auf die Frage lautet: Habt keine Angst vor Russland. Und der Besuch der drei Premierminister hat das symbolisiert. Sie hatten keine Angst, sie sind hierhergekommen und haben uns unterstützt. Sie sind für uns zu bedeutend größeren Regierungschefs ihrer Länder geworden als vorher, als ich sie nur in Anzügen mit Schlips gesehen habe.“

Foto: Serhij Nuschnenko,  ČTK/AP Photo

Und was würde Wolodymyr Selenskyj den Bewohnern der Länder sagen, die die Ukrainer aufnehmen?

„Es ist die einzige Sache, wie sie sich schützen und unsere Gegenwart, nicht nur die Zukunft, verteidigen können. Alle müssen für eine bestimmte Zeit zu Ukrainern werden und erleben, wie es ist, in unserer Haut zu sein, zu fühlen, dass es einen Krieg gibt und das man alles verlieren kann – das eigene Leben und alles, was einem teuer ist. Sie können diesen Schmerz fühlen. Sie müssen nicht für uns leiden, das können wir nicht gebrauchen. Die Menschen müssen das fühlen und unternehmen, was in Ihren Kräften liegt.“

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