Die Bibliothek von nebenan: Tschechische und deutsche Büchereien wachsen zusammen
Der Dachverband Bibliothek & Information Deutschland hat für eine dreijährige Projektphase Tschechien als Partnerland ausgewählt. Aber was erhofft man sich beiderseits der Grenze von der Kooperation? Und wie soll die Zusammenarbeit zwischen den Bibliotheken konkret aussehen?
Ein offizielles Zusammentreffen der Vertreter der Bibliotheksverbände in Deutschland und Tschechien fand im Juni in Leipzig statt. Kurz nach dem dort abgehaltenen Kongress sagte die Präsidentin von Bibliothek & Information Deutschland (BID), Sabine Homilius, in einem Interview für Radio Prag International:
„Das Ortskomitee in Leipzig hat mir Tschechien vorgeschlagen. Das heißt, die dortige Universitätsbibliothek, die Stadtbibliothek und die Deutsche Nationalbibliothek. Die Kolleginnen waren unter anderem von Tschechiens Auftritt als Gastland bei der Leipziger Buchmesse 2019 begeistert. Das tschechische Programm ‚Ahoj‘ war wirklich ganz toll. Als Präsidentin des Dachverbandes aller deutschen Bibliotheksverbände, also von Bibliothek & Information Deutschland, habe ich dem Vorstand daraufhin Tschechien vorgeschlagen – und er hat sofort zugestimmt“, so Homilius zur Frage, warum gerade Tschechien das Partnerland des Verbandes geworden ist.
Es gab es aber noch weitere Gründe: „Tschechien haben wir auch ausgewählt, weil es ein Land mitten in Europa ist“, betont Homilius. „Wir wollten ein Land, das – auch historisch – eine Brücke bildet zwischen Mittel- und Osteuropa und dem Westen.“
Die Partnerlandphase des BID dauert stets drei Jahre. Mit Tschechien wurde zum ersten Mal ein Land aus der Region Mittel- und Osteuropa ausgewählt, zuletzt bestand die Kooperation etwa mit den Niederlanden und davor mit den USA. Beim Kongress in Leipzig stellten sich die tschechischen Bibliotheken nicht nur mit einem Stand vor, sondern waren auch bei zahlreichen Podiumsdiskussionen vertreten.
Unter anderem war Tomáš Řehák in der Messestadt dabei. Er leitet den tschechischen Bibliotheksdachverband (SDRUK). Im Gespräch für Radio Prag International erzählt er, dass die genaue Ausgestaltung der dreijährigen Partnerlandphase noch nicht feststeht – aus gutem Grund. In Leipzig habe man sich dahingehend aber bereits ausgetauscht.
„Wir haben uns überlegt, was wir gemeinsam durchführen könnten. Bislang sind das aber nur lose Ideen. Allerdings konnten wir uns bereits auf eine gemeinsame Informationsinfrastruktur einigen. Nach und nach geht es jetzt richtig los. Schon das Gedankenmachen über die Kooperation gehört nämlich zu unserer gemeinsamen Zusammenarbeit dazu. Es gibt zudem bereits Koordinatoren auf beiden Seiten und außerdem einige weitere Interessierte, die sich an den Projekten beteiligen wollen“, so der Direktor der Prager Stadtbibliothek.
Sabine Homilius erläutert, welche Themen sich beim Brainstorming in Leipzig bereits als zentral erwiesen haben:
„Die Lobbyarbeit für Bibliotheken ist ein großes Thema. Es wurden aber noch weitere wichtige Fragen genannt: Welche Rolle spielen Bibliotheken für die demokratischen Strukturen einer Gesellschaft? Wie steht es mit der Diversität in diesen Einrichtungen – sowohl in den Angeboten als auch in den Kollegien? Was können Bibliotheken für die Integration und den gesellschaftlichen Zusammenhalt tun? Zudem gibt es von den wissenschaftlichen Bibliotheken sehr konkrete Projektvorschläge, etwa im Bereich der Sammlung von Handschriften und alten Drucken. Im Gespräch ist auch, den beruflichen Nachwuchs einzubinden. So könnten wir uns vorstellen, eine Sommerschule zu veranstalten.“
Darüber hinaus wurde noch ein weiterer Wunsch laut… „Es kristallisiert sich heraus, dass sowohl die deutschen als auch die tschechischen Kollegen an konkreten Partnerschaften mit jeweils einer Bibliothek interessiert sind“, sagt Homilius. „Beim Treffen in Leipzig kam etwa die Frage auf, welche Städtepartnerschaften es gibt. Vor kurzem habe ich mit einem Hamburger Kollegen gesprochen. Er hat mir gesagt, dass er mit Bibliotheken in Prag, der Partnerstadt Hamburgs, zusammenarbeiten will.“
Sabine Homilius zufolge könnte eine solche Zusammenarbeit zwischen zwei Städten auch auf der deutsch-tschechisch-polnischen Bibliothekskooperation in der Euroregion Neiße aufbauen.
Wenngleich die genaue Ausrichtung der Partnerlandphase noch offen ist: Bereits jetzt ist klar, dass es zu Besuchen im jeweiligen Nachbarland kommen soll. Sabine Homilius:
„Wir werden Librarian-in-Residence-Programme auflegen. Das heißt, tschechische Kolleginnen und Kollegen werden nach Deutschland kommen und hier Bibliotheken unter bestimmten Themenschwerpunkten besuchen. Und umgedreht werden auch deutsche Bibliothekare nach Tschechien reisen. Zudem wird es Gruppenreisen geben, das ist immer ein ganz tolles Format.“
Die Residenzprogramme sind auch Bestandteil der bisherigen dreijährigen Partnerlandphasen des BID gewesen. Die tschechische Seite hat sich zudem ein besonderes Projekt ausgedacht. Veronika Chruščová arbeitet als Projektmanagerin bei der Prager Stadtbibliothek und erzählt von einer interaktiven Landkarte, die Bibliothekare beiderseits der Grenze näher zusammenbringen soll:
„Die Karte funktioniert eigentlich ganz einfach, etwa so wie Google Maps. Man kann Präferenzen eingeben, und dann werden einem verschiedene passende Bibliotheken angezeigt: Stadtbüchereien, Bibliotheken in Universitäten oder Museen, sowohl in Kleinstädten als auch in Großstädten. Was alle Suchergebnisse verbindet, ist das gemeinsame Thema. So kann man etwa ‚Integration von Ausländern‘ eingeben. Eine tschechische Bibliothek findet dann auch eine Bücherei in Deutschland, die sich genau mit diesem Bereich befasst – und umgekehrt. Es ist sehr leicht, und wir hoffen, dass das Angebot auch über den Zeitraum der Partnerlandphase hinweg aktiv bleibt. Die Karte ist zudem nicht auf Deutschland und Tschechien beschränkt, sondern kann von allen genutzt werden.“
Die interaktive Landkarte soll auf der Webseite www.librarynextdoor.net veröffentlich werden. Unter dieses Motto – zu Deutsch „Die Bibliothek von nebenan“ – hat die tschechische Seite ihre Partnerlandphase mit Deutschland gestellt. Tomáš Řehák erklärt, warum:
„Das ist ein Wortspiel mit zwei Bedeutungen. Zum einen sind wir aus deutscher Sicht die Nachbarn von nebenan. Wir wollten also betonen, dass die Zusammenarbeit der Bibliotheken in unseren beiden Ländern sehr interessant und auch leicht zu realisieren sein kann. Unser Ziel war ebenso, auf eine einmalige Besonderheit Tschechiens hinzuweisen, denn das Land hat eine unglaublich hohe Anzahl kleiner Bibliotheken. In jedem zweiten Dorf gibt es hierzulande eine Bücherei. Das ist weltweit einmalig. Tschechien hat im internationalen Vergleich die meisten Bibliotheken je Einwohner.“
Sabine Homilius geht davon aus, dass die tschechische Erfahrung mit einer hohen Dichten an Bibliotheken nun auch den deutschen Büchereien Impulse gibt.
„Man findet in Tschechien immer einen Weg in die nächste Bibliothek. Das zeichnet das Land aus“, so Homilius. „Und davon können wir in Deutschland wahrscheinlich sehr profitieren. Denn wir können erfahren, was es bedeutet, wenn eine Bibliothek sehr genau ihr Umfeld kennt und für genau diese Menschen arbeitet. Zudem glaube ich, dass das auch die Bibliotheken im ländlichen Raum in Deutschland inspirieren kann.“
So habe man in Deutschland gerade in den letzten Jahren die Relevanz kleinerer Bibliotheken erkannt, betont die Expertin. Ihren Aussagen nach zeigt sich das etwa daran, dass die Auszeichnung „Bibliothek des Jahres“ mittlerweile auch einen Sonderpreis an kleinere Bibliotheken auf dem Land vergibt.
Die kleinen Büchereien in Tschechien sieht Homilius darüber hinaus als Inspiration für deutsche großstädtische – wie etwa die Stadtbibliothek in Frankfurt, die Homilius leitet.
„In die Überlegungen für die nächsten drei Jahre wollen wir unbedingt auch kleinere öffentliche Bibliotheken im ländlichen Raum einbeziehen. Denn diese können ja ebenso für ein großstädtisches System wie etwa Frankfurt interessant sein“, sagt Homilius. „Wir haben 17 Stadtteilbibliotheken, und jede von ihnen ist für das jeweilige Viertel und die dortige Community da. Nun ist es spannend, zu schauen, welche Erfahrungen Tschechien in diesem engen Kontakt zur Community macht. Wie kann eine Bibliothek in ihr Umfeld hineingehen und gemeinsam mit den Menschen vor Ort Angebote entwickeln? Ich könnte mir vorstellen, dass wir dahingehend sehr gute Kontakte in Tschechien knüpfen können.“
Und umgedreht wird mit Sicherheit auch die eine oder andere tschechische Bibliothek in den kommenden Jahren in Deutschland ihre Partner finden. Und diese werden – so hofft die tschechische Seite – dann über den Projektzeitraum hinaus bestehen.
„Wir sehen die Partnerlandphase langfristiger. Die bevorstehenden drei Jahre sind für uns der Beginn einer anhaltenden Zusammenarbeit“, sagt Tomáš Řehák.