Die Kunst der Nachbarn: Tschechische Saison in Dresden
Wie sehr die tschechisch-deutsche Geschichte auch in der Kunst reflektiert wird, zeigt etwa der berühmte laufende Trabant von David Černý. Eine Kopie der Skulptur namens „Quo vadis“, die ihren festen Platz im Garten der Deutschen Botschaft in Prag hat, ist derzeit auch in Dresden zu sehen. Aber das ist noch lange nicht alles, was die „Tschechische Saison“ in der sächsischen Landeshauptstadt zu bieten hat. Während der gesamten Zeit von Tschechiens EU-Ratspräsidentschaft gibt es in Dresden Ausstellungen, Theateraufführungen, Konzerte und Diskussionsveranstaltungen, um die künstlerischen Traditionen des Nachbarlandes zu präsentieren.
„Všechnu moc imaginaci!“ / „Alle Macht der Imagination!“ – dies ist Titel und Motto des Festivals, bei dem in Dresden bis zum Jahresende tschechische Kunst aus Geschichte und Gegenwart präsentiert wird. Diese Parole habe der Animationskünstler und Filmemacher Jan Švankmajer in den Tagen der Samtenen Revolution von 1989 genutzt, erläutert Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD):
„Dies hat eine tolle Geschichte. Švankmajer und seine Frau Eva haben ein großes Spruchband am Balkon ihrer Prager Wohnung aufgehängt. Die Menschen, die unten vorbeiliefen, haben als Zeichen des Einverständnisses mit ihren Schlüsseln geklingelt. In einer Zeit starker politischer Anspannung sollte dies heißen, dass aus dem Tiefsten der Imagination – gerade in der tschechischen surrealistischen Tradition – eine Macht und Kraft erwächst, die stärker sein kann als jede Politik.“
Bei der „Tschechischen Saison“ in Dresden ergänzen Politik und Kunst sich nun gegenseitig. Anlässlich der EU-Ratspräsidentschaft, die Tschechien am 1. Juli übernommen hat, sollen den Nachbarn hiesige Traditionslinien, gesellschaftliche Debatten und die aktuelle Gemütslage nähergebracht werden. Dazu wurde ein umfangreiches Programm an bildender, Wort- und Performance-Kunst vorbereitet.
Zur Auftaktveranstaltung am 24. Juni traten auf dem Georg-Treu-Platz neben dem Lipsiusbau der Circus Mlejn, das Ivan Hlas Trio und die Elektroswingband Mydy auf. Erfrischung gab es an der Bar „Prastánek“, die der bildende Künstler František Skála aus einem Baumstamm gefertigt hat. Laut Tomáš Jelínek dürfte die „Tschechische Saison“ die größte Kulturschau Tschechiens in Deutschland seit dem Fall der Mauer sein. Der von ihm in der Funktion des Geschäftsführers geleitete Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds ist Mitveranstalter. Durch die Finanzierung von etwa 4500 grenzüberschreitenden Kulturprojekten in den vergangenen 25 Jahren seien immer engere Kontakte zwischen den Künstlern*innen in beiden Ländern entstanden, so Jelínek:
„Nichtsdestotrotz beobachten wir allgemein ein nachlassendes Interesse in der deutschen Gesellschaft, was konkret Mittel- und Osteuropa angeht. Ich glaube, es gibt aktuell auch eine innerdeutsche Debatte, ob diese Region aus der deutschen Perspektive nicht ein wenig verdrängt wurde. Daher ist es schon etwas Besonderes, wenn in Dresden so eine kulturelle Saison auf den Weg gebracht wird.“
Ostdeutsche haben Affinität für tschechische Kunst
Auch Marion Ackermann findet, dass die gestalterischen Positionen aus Tschechien noch nicht genügend tief im gemeinsamen Kanon der Kunst verankert seien. Dadurch käme es zu überraschenden Reaktionen aus dem Publikum. Mit Bezug auf die Open-Air-Ausstellung, die im Rahmen der „Tschechischen Saison“ nun in Dresden läuft, gibt die Generaldirektorin eine Anekdote zum Besten:
„Skulpturen im Außenraum muss man natürlich mit der Denkmalpflege abstimmen. Dabei haben wir die Rückmeldung bekommen: Endlich mal Qualität! Man muss zwar sagen, dass zu DDR-Zeiten kein wirklicher Austausch mit den Nachbarländern stattgefunden hat. Das ist eigentlich merkwürdig. Tschechien und auch Polen haben sich damals viel stärker nach Frankreich orientiert und das Nachbarland Deutschland quasi übersprungen. Und umgekehrt gab es auch nicht viel. Aber trotzdem gibt es in Ostdeutschland so eine Affinität. Das liegt sicher an der Tradition figurativer gegenständlicher Kunst. Auch das, was manchen fremd erscheint – eine spezifische tschechische künstlerische Tradition, die viel mit Surrealismus und Ähnlichem zu tun hat –, wird hier besser verstanden. Unmittelbar und ohne jede Erklärung.“
Diese Affinität will nun zum Beispiel „Relocated“ wieder hervorkitzeln, die besagte Skulpturenausstellung unter freiem Himmel auf der Brühlschen Terasse, die die „Tschechische Saison“ das ganze halbe Jahr über begleitet. Mit einem Kunstwerk ist dabei auch Milena Dopitová vertreten, im Übrigen die einzige Frau neben sechs männlichen Künstlern. Ihr Exponat ist ein Basketballkorb, dessen rotes Netz nach unten immer enger zusammenläuft, so dass der Korb seine Funktion nicht mehr erfüllen kann. Benannt hat es Dopitová mit „Lepší horší nápad tady nebyl?“ (Gab es nicht schon eine bessere schlechte Idee?)…
„Dieses Objekt bezieht sich auf den Ort und seine Geschichte, auf die Menschen, die über die Generationen hinweg hier gelebt haben. Ich spiele auf irgendeinen ganz gewöhnlichen Tag an und zeige den Kontrast, in dem die sich hier präsentierende Herrlichkeit mit der Alltäglichkeit steht. Menschen treffen aufeinander, spielen miteinander, messen sich im Sport. Es ist eine Art Gedenktafel für all die Generationen, die hier schon ihr Leben verbracht haben.“
Obwohl das Kunstwerk in Tschechien entstanden ist, könne seine Botschaft an vielen Orten der Welt verstanden werden, fährt Dopitová fort:
„Das Werk verweist auch auf die Gegenwart. Denn ich verstehe das Basketballspiel auch stellvertretend für unser aller Leben. Die Betrachter mögen vielleicht gerade keinen Ball in der Hand haben. Aber sie leben in einer Gesellschaft, in der es eine ganze Reihe von Spielplänen gibt. Ich möchte, dass wir uns über dieses Spiel klar werden. Und darüber, dass wir – mal bewusst, mal unbewusst – ein Teil davon sind, egal ob es sich um ein politisches Spiel handelt, ein soziales, eines im Kollektiv oder mit Freunden.“
Experimentieren und Grenzen überwinden
Während die Künstlerin ihr Werk für Radio Prag International erläutert, setzt das Glockengeläut der Dresdner Frauenkirche ein. Dieses so symbolträchtige Gebäude hätte Festivalkurator Jiří Fajt gern direkt in die Ausstellung „Relocated“ einbezogen. So war seine ursprüngliche Idee, die „Babys“ von David Černý die Kirchenkuppel hinaufkrabbeln zu lassen – so wie es die Skulpturen in Prag am Fernsehturm in Žižkov tun. Sein Team habe ihn von dieser kühnen Idee aber abgebracht mit dem Argument, die Kirche sei sakrosankt, berichtet Fajt. Dass es in der Kunst aber darum gehe, Althergebrachtes in ein neues Licht zu rücken und Grenzen zu überschreiten, zeige auch ein weiterer Programmpunkt der „Tschechischen Saison“, findet der Kunsthistoriker:
„Die Hybrid Bridge ist ein offenes Projekt, bei dem wir nicht wissen, was am Ende dabei herauskommt. Wir sind bereit zu experimentieren und interessante Fragen zu stellen, was das Museumswesen angeht und welche Rolle die Kunst in heutigen Zeiten einnehmen kann. Hybrid Bridge ist ein digitales und hybrides Projekt. Wir haben es physisch zugänglich gemacht in der unteren Etage des Foyers des Lipsiusbaus und virtuell über die Onlineadresse bridge.common.garden, in die sich jeder einschalten kann.“
Nachdem sich im Corona-Lockdown das soziale Leben zu einem bedeutenden Teil in den Online-Bereich verlagert hat, verbinden die Veranstalter nun diese Ebene auch mit dem Museumsbesuch. Über mehrere Bildschirme kann man von Dresden oder jedem Computer aus etwa einen Blick ins Mystetskyi-Arsenal-Museum in Kiew werfen oder im Herbst beim Theaterfestival deutscher Sprache in Prag dabei sein.
Das analoge Programm der „Tschechischen Saison“ sieht ab 4. August zudem den „Sommer der Künste“ vor. Im Japanischen Palais werden dann Lesungen, Gespräche sowie Musik-, Theater- und Filmvorführungen stattfinden. Ab 11. November gibt es überdies eine große Ausstellung für zeitgenössische tschechische Kunst im Lipsiusbau. Und für die „Oase der Imagination“ am 20. und 21. August hat der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds die inhaltliche Gestaltung übernommen. Geschäftsführer Jelínek lädt zum geplanten Kultur-Chillout:
„Dafür haben wir eine weitere Synergie gefunden, nämlich mit dem Dresdner Stadtfest. Das ist eines der größten Stadtfeste Deutschlands. Da wird die Atmosphäre in der Stadt so aufgeheizt sein, dass manche dann auf dem Georg-Treu-Platz solch einen Chillout suchen und unser Angebot sehr gern wahrnehmen werden.“
Ein Programmpunkt stehe schon fest, so Jelínek weiter:
„Ich freue mich ganz besonders darauf, dass wir genau am 21. August, dem Jahrestag der Invasion der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei, die Band Pražský výběr dem Dresdner Publikum präsentieren. Dazu bieten wir eine Debatte an und, wie ich glaube, auch die Vermittlung des Seelenzustands der tschechischen Gesellschaft in Bezug auf die Ukraine.“
Dieser thematische Bogen werde von dem Einmarsch der Truppen in die Tschechoslowakei 1968 dann in einen kulturellen Rahmen gespannt, fügt Jelínek noch an.
Der Krieg in der Ukraine habe den Veranstaltern noch einmal klargemacht, wie wichtig der kulturelle Austausch mit den östlichen Nachbarn sei, so Marion Ackermann:
„Wie beschämend wenig wir wissen von den künstlerischen Traditionen der mittel- und osteuropäischen Nachbarländer, das fiel besonders auf beim Beginn des Krieges in der Ukraine. In Deutschland zum Beispiel ist ganz wenig bekannt über die dortigen Museen und Künstler*innen. Noch extremer ist es in Bezug auf Moldawien, Georgien, Belarus und auch sogar auf die baltischen Ländern. Wir haben zwar Kontakte, aber es gibt keine tiefen Kenntnisse in der Bevölkerung. Deshalb ist dies jetzt ein zusätzlicher Impuls, uns noch intensivierter dem zu widmen und in den nächsten Jahren all diese Projekte zu machen.“
Damit verweist die Generaldirektorin der SKD auf die Fortsetzung des Kulturfestivals, das sich auch in den kommenden Jahren mit weiteren Ländern Mittelosteuropas beschäftigen wird. Vorbereitungen laufen etwa für eine große Ausstellung mit ukrainischen Positionen im Albertinum. Und im Herbst kommenden Jahres sei, nach der jetzigen Tschechischen Saison, die polnische Kunst an der Reihe, so Ackermann:
„Unser Standort in Dresden, also in der Mitte Europas mit einer starken Orientierung in Richtung Osten, ist uns eine innere Verpflichtung. Wir wollen in der Zukunft noch viel mehr als bisher uns den oft noch viel zu unbekannten Positionen Ostmitteleuropas widmen. Wir definieren diesen Bereich bis nach Istanbul.“
Und als großes Motto über all dem, was da in Dresden kommen wird, bleibt das Zitat Jan Švankmajers bestehen: „Alle Macht der Imagination“.
Alle Informationen und Termine zur "Tschechischen Saison in Dresden" finden sich unter: www.skd.museum