Wildtiere aus nächster Nähe: Nationalpark Riesengebirge bietet öffentliche Hirschfütterung
Hirsche sind ganz zweifelsohne beeindruckende Tiere. Nachdem der erste Schnee gefallen ist, können sie in den Wäldern jedoch erheblichen Schaden anrichten. Denn sie fressen junge Zweige und knabbern die Rinde von Bäumen ab, weshalb diese absterben. Um dem vorzubeugen, werden die Wildtiere unter anderem auch im Riesengebirge in weitläufige Wintergatter gesperrt. Radio Prag International war bei einer öffentlichen Hirschfütterung und hat dabei auch in Erfahrung gebracht, wie der älteste Nationalpark Tschechiens in diesem Jahr sein 60. Jubiläum begeht.
Die Reise zu den Hirschen beginnt in Vrchlabí / Hohenelbe, dem Tor zum Riesengebirge. Eva Müllerová ist bei der Nationalparkverwaltung für die Umweltbildung verantwortlich…
„Ich bin hier Lektorin für die Bildungsprogramme. Wir haben Angebote für Schulen, aber auch für die breite Öffentlichkeit. Momentan bin ich für das Hirsch-Programm verantwortlich, das jede Woche stattfindet.“
Denn in der kalten Jahreszeit werden die Hirsche im Nationalpark Riesengebirge in großen Gehegen eingesperrt. Und bei der Fütterung können einmal in der Woche auch interessierte Besucher dabei sein und den sonst doch sehr scheuen Tieren ungewohnt nahkommen. Ob wir heute Glück haben und die Geweihträger erblicken?
Eva Müllerová setzt sich ans Steuer eines bunt beklebten Lieferwagens, ich nehme auf dem Beifahrersitz Platz. Von Vrchlabí geht die Fahrt nach Horní Maršov / Marschendorf. Dort stoßen die anderen Teilnehmer zu uns, heute haben sich zwei Familien angemeldet. Die letzten Meter bis zum Wintergatter im Ortsteil Horní Lysečiny / Ober Kolbendorf müssen wir zu Fuß zurücklegen.
Bis zu 98 Prozent der Hirsche sind im Winter im Gehege
Schon von Weitem sind die Hirsche zu sehen. Eng stehen sie beieinander. Nachdem wir das Tor des Geheges passiert haben, waten wir durch dicken Schlamm – der Schnee ist bereits getaut und der Boden voller Feuchtigkeit.
Wie alle Wintergatter liegt auch das in Horní Lysečiny an einem Bach – damit die Hirsche etwas zu trinken haben, wie ich später lerne. 4,6 Hektar misst das Gelände, das entspricht fast sieben Fußballfeldern. Gleich am Eingang findet sich ein bescheidenes Holzhaus. Den Innenraum wärmt ein kleiner Ofen etwas auf, eisig ist es dennoch, aber niemand beschwert sich. Im Vorfeld der Veranstaltung wurde eine Info-Mail herumgeschickt, in der unter anderem auf die niedrigen Temperaturen hingewiesen wurde, alle scheinen entsprechend vorbereitet zu sein.
An einem großen Tisch, auf dem mehrere Felle toter Tiere ausgelegt sind, eröffnet Müllerová die Veranstaltung:
„Das hier ist eines von 18 Wintergattern im Nationalpark Riesengebirge – und es ist eines der ältesten. Jedes Jahr haben wir hier ungefähr 60 Hirsche, aktuell sind es 55.“
Im gesamten Nationalpark leben laut Müllerová dabei im Frühling über 330 Hirsche. Eines der Wildtiere im Winter in freier Wildbahn zu sehen, ist quasi unmöglich, denn 95 bis 98 Prozent befinden sich in diesen Monaten in den Wintergattern. Aber warum gibt es eigentlich derartige Überwinterungsgehege? „Damit Schäden des Waldes verhindert werden, die das Wild verursacht“, erläutert Müllerová.
Denn im Sommer ernähren sich die Hirsche von Gräsern und Kräutern – die sind aber im Winter vom Schnee bedeckt.
„Die Hirsche haben dann nichts mehr zu fressen und nagen an Fichten oder anderen jungen Bäumen. Sie beißen Zweige und Knospen ab und schälen die Rinde. Wenn der Verbiss an vielen Ästen stattfindet, stirbt der Baum ab – er trocknet einfach aus.“
Dadurch altert der Wald zusehends. Und um das zu verhindern, werden die Hirsche in das Wintergatter gesperrt. Die Vor- und Nachteile dieser Lösung erklärt Müllerová ausführlich bei der öffentlichen Fütterung. Ebenso vermittelt sie einige Fakten zu den Tieren. Sie zeigt etwa die Läufe und das Fell, erklärt, dass das Geweih eines Hirsches in jedem Jahr abgeworfen wird oder in einem Rudel das Matriarchat herrscht – das Sagen haben also die Hirschkühe.
Zu Fressen gibt es Kastanien und Rüben
Nach ein paar Minuten klopft der Wildhüter an das Fenster der Hütte. Das Zeichen, dass es nun Zeit ist für die Fütterung. Die Gruppe begibt sich über eine enge Treppe ins zweite Geschoss des Hauses. Es herrscht absolute Stille, niemand spricht, allemal wird geflüstert. Das Handy stummschalten muss man hier jedoch nicht – schlichtweg, weil es gar kein Netz gibt. Wir nehmen Platz auf zwei Reihen Holzbänken und spähen durch die Fenster nach draußen.
Der Heger beginnt, die vollen Eimer an dem steilen Hang zu entleeren. Er wirft Kastanien aus, verteilt Rüben auf dem Boden, kippt Silage in die Tröge. Und tatsächlich: Die Hirsche verstehen sofort, kommen näher und wenden sich dem Mahl zu. Die Tiere sind scheu, sie merken, dass sie beobachtet werden.
Mitunter führt die kleinste Bewegung dazu, dass sich die Hirsche erschrecken und ein paar Meter durch den Schlamm zurückweichen. Doch überwiegend lassen sich diese Tiere mit ihren teils imposanten Geweihen nicht von dem Mahl abhalten. Erst nach etwa 20 Minuten zieht sich das Wild langsam zurück.
Der Mann, der den Hirschen ihr Futter gibt, heißt Petr Vávra: „Meine Hauptaufgabe ist die Wildpflege. Im Winter bedeutet das das Zufüttern. Wir sind hier jeden Tag von acht Uhr bis um zehn – auch am Wochenende“, sagt er.
Seit 1981, als das Überwinterungsgehege in Horní Lysečiny errichtet wurde, arbeitet Vávra hier im Wald und kümmert sich gemeinsam mit seinen Kollegen um die Hirsche.
„Es gibt hier einen verrückten Hirsch, der immerzu röhrt“, meint Vávra. Doch das sei noch nicht alles: „Wir haben hier einen Kandidaten, der einem manchmal fast schon das Pausenbrot aus der Tasche stiehlt. Man muss sich also immer umschauen. Weil es ein männliches Tier ist, ist das schon ein komisches Gefühl, wenn es direkt hinter einem steht. Mitunter kommt es bis auf zwei, drei Meter heran.“
Die Tiere würden sich in dem Wintergatter in Sicherheit fühlen, sagt der Heger. Große Bemühungen müsse man deshalb nicht anstellen, um die Hirsche im Winter dorthin zu bekommen.
„Wenn im Herbst der erste Schnee fällt und es Frost gibt, sperren wir die Hirsche hier ein. Meist geschieht das Ende November oder Anfang Dezember. Bereits im September bringen wir ab und an einen Sack Äpfel hierher, damit sich die Tiere wieder daran erinnern, dass sie hier im Winter gefüttert werden. Es ist aber keinesfalls so, dass wir großräumig Nahrung verstreuen müssen, damit die Hirsche ins Gatter kommen.“
Wenn die Tiere dann einmal in dem Gehege seien, würden die Tore zugemacht. Eine Hirschkuh mit einer grünen Marke im Lauscher sei mittlerweile 15 Jahre alt, so Vávra, markiert worden sei sie mit drei Jahren.
Es fehlt der natürliche Fressfeind
Mitunter kennt Vávra seine Hirsche also gut. Es gibt allerdings noch einen weiteren spannenden Aspekt seiner Arbeit…
„Als Angestellter des Nationalparks gehört auch die Jagd zu meinem Beruf. Den Hirschen fehlt hier der natürliche Fressfeind. Deshalb übernimmt der Mensch diese Rolle, und wir schießen die Tiere.“
Die Hirsche, die er durch den Winter bringt, erlegt er also mitunter später im Jahr. Wie Petr Vávra aber betont, dürfen nur Angestellte des Nationalparks jagen, an Privatpersonen vergebe man keine Jagderlaubnisscheine.
Dass das Jagen der Hirsche von Nöten ist, das weiß ebenso Michal Skalka, den ich in seinem Büro in Vrchlabí treffe.
„Im Riesengebirge gibt es vielleicht ein oder zwei Luchse. Manchmal taucht auch ein Wolf auf. Es gibt aber keine stabile Population, die die Anzahl des Wildes regulieren würde. Das ist ein Problem, denn den Hirschen geht es in unseren Wäldern sehr gut und daher vermehren sie sich rasant. Um das Ganze unter Kontrolle zu haben, jagen wir den Hirsch – so wie es auch ein natürlicher Feind tun würde.“
Skalka leitet das Bildungsprogramm des Nationalparks Riesengebirge, zu dem auch die öffentliche Hirschfütterung gehört. Vor zwölf Jahren wurde die Aktion ins Leben gerufen.
„Das Programm ist unser Flaggschiff. Es gibt stets eine sehr große Nachfrage. Ursprünglich haben wir die Veranstaltung für Schulklassen konzipiert. Da die Anreise aber schwierig und vor Ort nicht sonderlich viel Platz ist, sind mittlerweile Familien mit Kindern und weitere Interessenten unsere Zielgruppe.“
Wichtig ist für Skalka bei allen Angeboten des Bildungsprogramms, dass ein Bezug zum Riesengebirge besteht:
„Wir beschäftigen uns weniger mit globalen Problemen wie Müllverwertung oder Energiesparmaßnahmen.“
Die größte Gefahr für das Riesengebirge ist der Mensch
Skalka legt stattdessen großen Wert darauf, dass die Besucher verstehen, warum das Riesengebirge so einzigartig und schützenswert ist:
„An einigen Stellen befindet man sich hier in der Tundra. Das heißt, es ist mitunter so ungemütlich, dass noch nicht einmal Wald wächst. Das Riesengebirge ist dahingehend ein Unikum in Mitteleuropa. Wir haben hier zudem wunderschöne Wälder, die sich nach 700 Jahren endlich wieder erholen und in ihren ursprünglichen Zustand zurückkehren. Es gibt auch Glazialrelikte, die ihre Ursprünge in der der Eiszeit haben – und endemische Tier- und Pflanzenarten, die man auf der ganzen Welt nur hier findet. Es kommt auch zu Lawinenabgängen, und ob die für die Natur gut oder schlecht sind – auch das wollen wir den Besucher vermitteln.“
Die größte Bedrohung für die Schönheiten des Nationalparks ist laut Skalka der Mensch – oder besser gesagt nicht ein Mensch, sondern 13 Millionen, die das Areal jedes Jahr besuchen. Dabei sei die große Anzahl an Personen gar nicht das zentrale Problem, sondern der Prozentteil derjenigen, die die Regeln und Vorgaben nicht einhielten, meint Skalka.
Der älteste Nationalpark Tschechiens
Diesen Aufgaben, der Vermittlung von Wissen und dem Naturschutz, geht der Nationalpark schon seit 1963 nach – es handelt sich um die älteste Institution ihrer Art in Tschechien. Der 60. Geburtstag im Mai werde mit einem umfangreichen Programm begangen, schildert Skalka:
„Wir werden zahlreiche neue Publikationen herausbringen. Außerdem wird es in Vrchlabí ein großes Fest mit einem Konzert geben. Geplant ist zudem ein Videomapping an der Fassade des Klosters, das dürfte bei den Besuchern für einen echten Wow-Effekt sorgen.“
Veranstaltungen sind aber nicht nur in Vrchlabí geplant. In mehreren Gemeinden im Riesengebirge soll im Festjahr gefeiert werden, etwa mit Konzerten – natürlich in ausreichender Entfernung zu den Wäldern, sodass weder die Hirsche noch andere Tiere gestört werden.