„Musica non grata“ präsentiert fast vergessene Komponistinnen der Zwischenkriegszeit
Das Prager Nationaltheater lässt im Projekt „Musica non grata“ das Vermächtnis von Komponistinnen und Komponisten aus der Zwischenkriegszeit wieder aufleben. Diese Künstler haben das Musikleben in der Tschechoslowakei stark beeinflusst und wurden von den Nationalsozialisten oder aus politischen, religiösen oder geschlechtlichen Gründen verfolgt. Nun wird der Zyklus „Frauen in der Musik“ im Rahmen von „Musica non grata“ veranstaltet. Am Sonntag findet in der Staatsoper das Eröffnungskonzert statt. Der Musikwissenschaftler Kai Hinrich Müller ist Programmleiter von „Frauen in der Musik“, und Martina Schneibergová hat mit ihm gesprochen.
Herr Müller, beim Eröffnungskonzert des Zyklus‘ „Frauen in der Musik“ erklingen Werke von vier Komponistinnen aus verschiedenen Ländern. Hierzulande ist dabei nur Vítězslava Kaprálová bekannter, die anderen drei werden nur in Musikerkreisen ein Begriff sein. Wie haben Sie die Auswahl der Komponistinnen getroffen, und was haben diese Frauen gemeinsam?
„Bei der Auswahl haben wir uns bemüht, Komponistinnen herauszusuchen – das gilt für den ganzen Zyklus in diesem Jahr –, die mit Prag und der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit zusammenhängen. Das ist natürlich Kaprálová, aber es sind auch Persönlichkeiten wie Julie Reisserová, die Frau eines tschechischen Diplomaten, sowie Elizabeth Maconchy, die in Prag ein Stipendium hatte und hier ein Klavierkonzert von Erwin Schulhoff uraufführte. Alle Frauen, deren Musik wir spielen, haben Bezug zur ersten Tschechoslowakischen Republik in der Zwischenkriegszeit.“
Im Fokus des Eröffnungskonzerts steht Julie Reisserová (1888-1938). Sie war nicht nur Komponistin, sondern auch Dichterin und Musikkritikerin. Ihre Werke wurden in den 1920er und 1930er Jahren im Ausland gespielt, heutzutage sind sie aber fast unbekannt. Wie erklären Sie sich das?
„Das Schicksal von Julie Reisserová ist typisch für viele der Komponistinnen. Sie waren zu ihren Lebzeiten zur Zeit der Avantgarde und der Moderne durchaus populär. Es herrschte eine Aufbruchsstimmung in dieser Zeit. Mit den Wirrungen der Musikgeschichte, die lange Zeit von Männern dominiert war, sind sie dann aber untergegangen. Und gerade Reisserová war zu ihren Lebzeiten populär. Musiklexika haben von ihr noch bis in die 1950er und 1960er Jahre berichtet. In den neuen Auflagen wurde jedoch die Person Reisserová aus den Lexika zunehmend rausgestrichen, weil andere Themen in den Fokus rückten. Das waren dann die großen Komponisten wie Bach oder Wagner. Da hatte man für eine Komponistin wenig Interesse. Dies ändert sich seit ein paar Jahren, was sehr gut ist. Denn gerade Reisserová zeigt, dass die Musik von Frauen der von Männern mindestens ebenbürtig ist.“
Reisserová studierte auch in Frankreich. Wie hat sich dies auf ihr Werk ausgewirkt?
„Man hört den französischen Einfluss sehr stark. Er war mit Roussel verbunden, der damals in Frankreich eine tonangebende Person war. Man merkt den französischen Expressionismus in Reisserovás Musik. Die spezifische Form der Instrumentierung ergibt eine sehr feine Musik. Und das klingt deutlich durch.“
In der Staatsoper erklingt auch eine Komposition von Dora Pejačević (1885-1923) – einer kroatischen Adeligen und Komponistin. Sie hatte eine besondere Beziehung zu Böhmen, konkret zu den Persönlichkeiten aus dem Kreis um Sidonie Nádherná. Weiß man, ob Pejačević damals in Böhmen bekannt war und ob ihre Werke gespielt wurden?
„Es ist bei allen diesen Damen so, dass sie Teil eines Netzwerks waren. Das sieht man an Dora Pejačević sehr gut, denn sie war nicht nur auf ihr Heimatland beschränkt. Die Künstlerinnen reisten und dies oft auch nach Böhmen. Pejačević selbst komponierte auch Musik für ihre tschechische Kolleginnen und Kollegen, sodass ihr Werk weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt war. Auch heute ist Pejačević von den vier Komponistinnen, deren Werke beim Eröffnungskonzert erklingen, neben Kaprálová die meist gespielte. Die Musik von Dora Pejačević wird seit einiger Zeit wiederentdeckt.“
Kommen wir auf Vítězslava Kaprálová (1915-1940) zurück, die zudem eine namhafte Dirigentin war. Wie haben Sie die Kompositionen ausgewählt, die beim bevorstehenden Konzert erklingen?
„Im Rahmen von ‚Musica non grata‘ wurden Kaprálovás Kompositionen schon gespielt. Nun wollen wir Werke aufführen, die wir zuvor nicht im Programm hatten. Zudem wollten wir auch Kompositionen präsentieren, die zu den anderen Werken des Konzerts passen. Wir konfrontieren zum Beispiel die Suite von Kaprálová mit der Suite von Reisserová, sodass die Zuschauer beide Komponistinnen in direktem Vergleich hören können.“
Die vierte Komponistin, die beim Eröffnungskonzert vorgestellt wird, ist Elizabeth Maconchy (1907-1994). Wie war ihre Beziehung zu Prag und zu Tschechien?
„Elizabeth Maconchy ist eine faszinierende Komponistin. In Großbritannien ist sie sehr populär. In jungen Jahren hatte sie einen durchaus starken Bezug zu Prag. Sie war mit einem Komponistenstipendium hier und lernte die Salons der Stadt kennen. Ihr Klavierkonzert wurde in Prag von Erwin Schulhoff gespielt. Und das ist natürlich für ‚Musica non grata‘ eine ganz wunderbare Gelegenheit, diese Persönlichkeit wieder in den Fokus zu rücken. Das Konzert von Maconchy war damals in Prag ein Riesenerfolg. Viele Tageszeitungen berichteten darüber. Die Euphorie von der damaligen Aufführung hoffen wir bei dem heutigen Programm wieder hervorrufen zu können.“
Für das Konzert wurde die brasilianische Pianistin Clélia Iruzun engagiert. Wie haben Sie sie entdeckt?
„Wir sind auf diese Pianistin gekommen, weil sie das Konzert von Elizabeth Maconchy eingespielt hat. Es gibt nur wenige Interpretinnen und Interpreten in der Welt, die diese Musik im Repertoire haben. So sind wir auf Iruzun gestoßen und sind sehr froh, dass sie zugesagt hat.“
Im nächsten Konzert des Zyklus „Frauen in der Musik“, das im Goethe-Institut stattfinden soll, werden auch Werke von weiteren Komponistinnen erklingen, darunter von Sláva Vorlová (1894-1973). Sie ist vermutlich Kindern, die Musikschulen besuchen, ein Begriff, weil dort oft einige ihrer kleinen Klavierkompositionen gespielt werden. Was hat Vorlová mit den anderen Komponistinnen gemeinsam?
„Auch Sláva Vorlová war eine Komponistin, die in der Zwischenkriegszeit Musik schrieb. Es gibt frühe Kompositionen aus dieser Periode. Zudem wurde sie von den Nationalsozialisten verfolgt und musste die Hinrichtung ihres Mannes durch SS-Leute miterleben. Vorlová war eine sehr progressive Komponistin, eine Avantgardistin. Sie schuf eines der ersten Werke überhaupt, die für die Bassklarinette und Orchester bestimmt waren.“
Für den Herbst wird im Rahmen des Zyklus‘ ein Programm für Schulen geplant. Einstudiert wird das musikalische Märchen „Das Goldhärchen“ von Lena Stein-Schneider (1874-1958). Die Musikerin wurde mit 68 Jahren nach Theresienstadt deportiert. Wann entstand das Märchen?
„Lena Stein-Schneider ist schon lange im Programm von ‚Musica non grata‘. Wir haben eines ihrer Werke im vergangenen Jahr während der Gedenkstunde im deutschen Bundestag aufgeführt. Lena Stein-Schneider war eine faszinierende Persönlichkeit. Sie war Anfang des 20. Jahrhunderts eine unglaublich erfolgreiche Operettenkomponistin. Sie setzte sich für die Urheberechte und für eine angemessene Vergütung von künstlerischer Leistung ein. Sie wurde im Ghetto Theresienstadt interniert, wo sie große Qualen erlitt. Die Musikerin überlebte völlig abgemagert. Kurz nach ihrer Befreiung schrieb sie ein Märchen für Kinder – ,Das Goldhärchen‘. Sie verfasste auch den Text, und die Musik ist wunderbar. Es sind Worte voller Hoffnung. Und das ist der Grund, warum wir das Stück aufführen wollen. Der Text wird ins Tschechische übersetzt, sodass es eine Weltpremiere in tschechischer Sprache sein wird.“
Das Konzert mit dem Titel „Frauen in der Musik“ findet am Sonntag um 19 Uhr in der Prager Staatsoper statt. Es gibt noch Restkarten.