„Wir haben gezeigt, welch reiches Musikleben es hier in Mitteleuropa gab“ - Projekt Musica non grata
Mit mehreren Veranstaltungen ist am vergangenen Wochenende in Prag das Projekt Musica non grata zu Ende gegangen. Zu der abschließenden Diskussion zum Zyklus trafen sich am Samstag in der Staatsoper der deutsche Botschafter in Prag, Andreas Künne, der künstlerische Leiter der Opernensembles des Nationaltheaters und der Staatsoper, Per Boye Hansen, und der Leiter des Instituts der Theresienstädter Initiative, Tomáš Kraus. Martina Schneibergová hat bei dieser Gelegenheit mit ihnen gesprochen.
Herr Botschafter Künne, das Projekt Musica non grata, das vom Auswärtigen Amt unterstützt wurde, geht zu Ende. Das Ziel war, Werke von Komponistinnen und Komponisten wieder aufleben zu lassen, die vom NS-Regime verfolgt wurden. Welche der Opern oder Konzerte fanden Sie besonders spannend?
„Ich war nicht von Anfang an dabei, denn ich bin erst seit 2021 in Prag. Was ich besonders spannend fand, war die Oper ,Flammen‘ von Erwin Schulhoff, die 2022 als Wiederentdeckung des Jahres für den International Opera Award nominiert wurde. Es ist kein leicht zugängliches, aber sehr faszinierendes Werk. Was mich persönlich zudem sehr beeindruckt hat, war der ,Kaiser von Atlantis‘ von Viktor Ullmann, den ich erst vor kurzem gesehen habe. Ullmann hat die Oper 1943 und 1944 im KZ Theresienstadt geschrieben. In dem Stück geht es um einen wahnsinnigen Diktator, der einen Krieg anzettelt, ganz weit weg von der Realität. Das Stück ist sowohl musikalisch als auch politisch richtungsweisend. Für mich persönlich, als einen großen Freund der Klassik, hat die klassische Musik mit Mahler aufgehört. Bevor ich mit diesem Projekt in Kontakt kam und mich etwas schlauer machte, wusste ich wenig davon. Dann habe ich Schulhoff und Ullmann gesehen und bin direkt in einen Laden gegangen und habe mir CDs mit Ullmanns Musik gekauft – so begeistert war ich. Als Jazz-Freund hatte ich dann das große Glück, bei einer Generalprobe in Theresienstadt für das Jazz-Oratorium von Schulhoff dabei zu sein. Es war beeindruckend. Das war Musik, wie ich sie vorher nicht kannte. Ich glaube, wir haben das Ziel des Projektes gut erfüllt und gezeigt, welch reiche Kultur und welch reiches Musikleben es hier in Mitteleuropa gegeben hat.“
Bei mehreren Werken ging es um eine Art Rückkehr nach Hause. Denn sie wurden in der Staatsoper gespielt, wo sie vor etwa 100 Jahren im damaligen Neuen Deutschen Theater aufgeführt worden waren…
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„Es ist einmal eine Rückkehr an den Ort, also in die Staatsoper, das frühere Neue Deutsche Theater. Dieses hatte seine Blütezeit nach der Jahrhundertwende zu Beginn des 20. Jahrhunderts und dann am Anfang der Zwischenkriegszeit. Es war eine Zeit der Avantgarde und eine Zeit, in der das Kulturleben Europas in Prag einen echten Mittelpunkt hatte. Ich glaube, es ist nur logisch, dass es jetzt wieder nach Hause kommt. Natürlich können wir diese Kultur nicht wiederbeleben, wir können auch nicht dieses alte Mitteleuropa wiederbeleben. Aber wir haben es geschafft, Künstlerinnen und Künstler, Musikliebhaberinnen und Musikliebhaber sowie Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler aus Europa wieder zusammenzubringen und die Aufmerksamkeit auf diese Musik zu leiten.“
Ich würde sagen, dass man das Neue Deutsche Theater fast vergessen hat. Während der kommunistischen Zeit wurde es absichtlich ignoriert. Gelang es den Veranstaltern Ihrer Meinung nach, an die Rolle dieses Theaters zu erinnern?
„Es ging uns nicht darum zu betonen, dass es das Neue Deutsche Theater war. Aber kein Name ist mit dem Neuen Deutschen Theater bis in die 1920er Jahre so verbunden wie Zemlinsky, den wir aufgeführt haben. Und wenn wir an einen solchen Künstler erinnern, ist es ganz logisch, dass wir auch an das Neue Deutsche Theater erinnern. Es gehört zu unserer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, dass wir uns bewusst werden, wie vielschichtig das Leben in Prag war.“
Ich denke, dass viele der Opernfans und Musikliebhaber mehrere der Werke überhaupt zum ersten Mal live erlebt haben. Meinen Sie, dass diese Musik auch die jüngere Generation ansprechen könnte? Es gab im Programm natürlich auch junge Sänger und Musiker, aber für die ist es ja ihr Beruf.
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„Aber es ist ein Beruf, in dem man gern wieder etwas Neues entdeckt. Ich war mit meinem Sohn bei der Summer Academy in Theresienstadt, bei der über mehrere Tage hinweg Künstlerinnen und Künstler aus ganz Europa zusammenkommen und dann die Werke dieser Komponistinnen und Komponisten einstudieren. Das war eine sehr junge Generation. Zweimal war das Abschlusskonzert der Summer Academy bei uns in der Botschaft. Es war faszinierend zu sehen, wie sich diese junge Musikerinnen und Musiker auf diese Musik gestürzt haben, die zuvor den meisten von ihnen unbekannt war, und wie sie ihre zeitlose Modernität erkannt und geschätzt haben. Es wurde schon dafür gesorgt, dass auch die junge Generation auf ihre Kosten kommt. Aber man muss es natürlich wollen und offen sein für diese Art der Musik. Das ist aber generationsunabhängig. Es gilt für Menschen unseres Alters genauso wie für die junge Generation.“
Herr Hansen, wie ist das Projekt Musica non grata entstanden? War es Ihre Idee, die Musik der verfolgten Komponistinnen und Komponisten aufzuführen?
„Als ich zum künstlerischen Leiter der Prager Opernensembles ernannt wurde, stellte ich mir die Frage, was man alles aufführen könnte. Ich kannte die starke hiesige Aufführungstradition mit Smetana, Dvořák und Janáček. Janáček ist ein Komponist, den ich sehr schätze. Ich habe mich mit seinen Werken früher viel beschäftigt. Mit einem Bekannten aus Berlin stellten wir uns die Frage, was es hier in Prag Besonderes gibt. Dann kamen wir auf die Idee, die große Ära der Ersten Republik aufzuleben mit den musikalischen Werken, die damals gespielt wurden. Als ich über Zemlinsky las, was er hier alles im Theater geschafft hat, war das für mich erstaunlich. Nach der Wiedereröffnung der Staatsoper begann leider die Corona-Pandemie. Wir mussten darum viele Projekte verschieben, konnten aber auch viel vorbereiten. Wir haben viele Konzerte gestreamt und die Oper ,Der ferne Klang‘ von Franz Schreker einstudiert. Es wurde zudem ein Zemlinsky-Festival organisiert. Nach den vier Jahren ist nun zu sehen, was da alles auf die Beine gestellt wurde.“
Viele der Werke aus dem Festivalprogramm wurden hierzulande während der kommunistischen Zeit absichtlich ignoriert…
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„Die Komponisten wurden von den Nationalsozialisten verfolgt. Aber auch später gab es Antisemitismus. Zudem würde ich sagen, dass viele der betroffenen Künstler hierzulande als deutsche Komponisten empfunden wurden und darum nicht salonfähig waren. Hinzu kommt noch die Tatsache, dass nach dem Zweiten Weltkrieg andere Strömungen in der Musik dominant wurden – wie etwa die Darmstädter Schule. Komponisten wie Schreker oder Korngold wurden hingegen für altmodisch gehalten. Das war jedoch, denke ich, ein großer Fehler. In den letzten 20 bis 30 Jahren ist dann Zemlinsky wieder entdeckt worden. Er gehört bestimmt zu den wichtigsten Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.“
Wie wirkte sich dieses Repertoire auf das Prager Opernensemble und das Orchester aus?
„Wir haben zu Beginn Schönbergs ,Erwartung‘ einstudiert. Das ist ein sehr schweres Stück. Ich glaube, es war für die Musiker ein wenig ungewöhnlich. Aber wenn man schwierige Aufgaben bekommt, hat man die Möglichkeit, sich zu entwickeln. Ich kann jetzt sagen, dass unsere Orchester – in der Staatsoper sowie im Nationaltheater – eine tolle Entwicklung gemacht haben. Dies gilt auch für die beiden Chöre.“
Wie sind die Reaktionen aus dem Ausland auf den Zyklus Musica non grata? Denn es kommen auch viele ausländische Besucher in die Oper.
„Es sind inzwischen etwa 150 Journalisten, die Rezensionen in verschiedenen Medien in vielen Ländern veröffentlicht haben. Die Resonanz war groß. Natürlich habe ich die guten Kritiken in den großen deutschen Tageszeitungen gelesen. Die FAZ und die Süddeutsche Zeitung haben unser Projekt regelmäßig verfolgt. Es ist wichtig, dass wir gesehen werden und unsere Aufführungen die Aufmerksamkeit auch in anderen Ländern geweckt haben. Wie sind als Theater für die Menschen interessanter geworden. Das ist für unsere Entwicklung wichtig. Ich habe Pläne für die Zukunft, die an Musica non grata direkt anknüpfen werden.“
Herr Kraus, worin sehen Sie das Aktuelle am Zyklus Musica non grata?
„Ich glaube, dass es eine Art Memento ist. Denn mit Musica non grata haben wir eine Lücke gefüllt. Der Antisemitismus ist nämlich etwas, das in seiner brutalen Form eine ganze hier existierende Kultur vernichtet hatte. Das Zusammenleben von Juden, Tschechen und Deutschen oder tschechischsprachigen und deutschsprachigen Pragern war innerhalb einer sehr kurzen Zeit verschwunden. Denn mit dem Krieg und der Shoah waren alle Protagonisten weg – einige sind glücklicherweise emigriert, aber die meisten wurden in den KZ ermordet. Die einzigartige Kultur wurde nie mehr aufgelebt. Nach dem Krieg war dies auch aus dem Grund nicht möglich, weil es sich um Werke deutschsprachiger Künstler handelte. Sie wurden vom kommunistischen Regime tabuisiert. Mit dem Projekt Musica non grata machen wir also auf wir die Folgen des Antisemitismus aufmerksam.“
Der Antisemitismus nimmt in letzter Zeit wieder an der Stärke zu…
„Leider sind wir wieder in einer Situation, in der man sagen kann: Die Welt hat aus der Geschichte nichts gelernt. Der Antisemitismus ist wieder da, wenn auch in einer anderen Form. Ich sage immer, der Antisemitismus mutiert wie jede andere Krankheit. Der ,alte‘ Antisemitismus der Nationalsozialisten, der die Juden als eine minderwertige Rasse bezeichnete, ist überholt. Also musste man etwas Neues finden. Heute hat der Antisemitismus die Form des Hasses gegen Israel. Israel spielt die Rolle des kollektiven Juden im 21. Jahrhundert. Die politischen Entwicklungen im Nahen Osten sind natürlich aus verschiedenen Aspekten kompliziert. Aber der Antisemitismus ist wieder zurück. Die Reaktionen auf die Lage im Nahen Osten werden in Europa in einer Form von Antisemitismus manifestiert.“
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Biografie über den Theresienstädter Komponisten Viktor Ullmann auf Tschechisch erschienen
Viktor Ullmann (1898-1944) stammte aus dem schlesischen Český Těšín / Teschen.