Filmfestival in Karlsbad: Vadim Jendreyko sucht nach Europa
Was ist Europa? Ist es unausweichlich, dass sich die Geschichte mit all ihren Albträumen immer wieder wiederholen muss? Diese Fragen stellt sich der Schweizer Filmregisseur Vadim Jendreyko in seinem Dokumentarfilm „Das Lied der anderen – eine Suche nach Europa“. Und er begibt sich auf eine Reise, um Antworten zu finden. Der Streifen wurde in der Sektion „Special Screenings“ auf dem 58. Internationalen Filmfestival in Karlovy Vary / Karlsbad aufgeführt, das an diesem Samstag zu Ende geht.
Herr Jendreyko, wir treffen uns beim Internationalen Filmfestival in Karlsbad. Sie sind hierhergekommen, um Ihren Dokumentarfilm „Das Lied der anderen – eine Suche nach Europa“ vorzustellen. Was hat Sie veranlasst, nach Europa zu suchen? Denken Sie, dass Europa verloren ist?
„Für mich ist es so, dass sich Europa, wie ich es als Kind kennengelernt habe, verflüchtigt hat. Alle sprechen von Europa, aber jeder spricht von etwas anderem. Die Einen reden von der EU, die Anderen vom Euro-Währungsraum, für wieder Andere ist Europa ein kultureller Identitätsraum. Ich selbst habe gemerkt, dass ich mein Verhältnis zu Europa klären möchte. Das Europa, das ich als Kind erfahren habe, ist mir nicht mehr so greifbar. Das hat mich zu dieser Suche motiviert: Was ist das überhaupt heute?“
Fangen wir damit an, wie Sie Europa als Kind erlebt haben. Wo ist der Ausgangspunkt? Und was hat sich inzwischen verändert?
„Das Europa, das ich als Kind erfahren habe, ist mir nicht mehr so greifbar.“
„Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der die Grenzen abgebaut wurden. Aufgewachsen bin ich in der Schweiz, ich habe deutsche Eltern und einen ukrainisch-russischen Namen. In meiner Kindheit habe ich viel Zeit in Italien verbracht, ich habe einen Onkel, der Grieche ist. All diese verschiedenen Orte von Europa gehörten für mich zu etwas Vielversprechendem, zu einem Kontinent voller Möglichkeiten. Als Kind war dieses Vielversprechende sehr im Vordergrund: Entdeckungen, andere Sprachen, andere Geschmäcker… Und in den letzten Jahren habe ich gemerkt, dass sich das – schon seit einer Weile – umgekehrt hat, dass dieses öffnende Element einer Zeit der Krisen gewichen ist. Europa wurde ein Synonym für etwas, das nicht funktioniert. Und gleichzeitig merke ich auch, wie wir – und das war vielleicht das dringende Motiv für diesen Film – wieder Gefahr laufen, dass sich die Geschichte aufs Neue wiederholt. Und die entsprechende Frage steht am Anfang meines Films: Ist es nötig, dass sich die Geschichte mit allen ihren Albträumen wiederholen muss?“
Wie ist Ihre Suche konzipiert? Sie besuchen in dem Film mehrere Orte, die mit der Geschichte und mit der Gegenwart verbunden sind. Wie haben Sie diese Orte ausgewählt? War im Voraus klar, wohin Sie gehen möchten?
„Es gab bestimmte Orte, von denen ich wusste, dass ich sie aufsuchen möchte. Zum Beispiel die Agora in Athen. Aber dann habe ich mich auf meiner Suche von den Begegnungen leiten lassen.“
„Es gab bestimmte Orte, von denen ich wusste, dass ich sie aufsuchen möchte, weil sie für mich eine große Relevanz hatten. Zum Beispiel die Agora in Athen, wo die Demokratie erfunden wurde. Aber dann habe ich mich auf der Suche auch von den Begegnungen leiten lassen, die ich an diesen Orten gemacht habe. Ich bin zu einem Ort gegangen, den ich aufgesucht habe, habe dann aber etwas ganz anderes gefunden, und das hat mich für den nächsten Schritt auf der Suche stimuliert. Der Film ist ein Essay, es ist ein Versuch einer Suche.“
Der Film beginnt an einem Grenzzaun in Ungarn. Haben Sie tatsächlich auch dort angefangen?
„Das war 2015, als ich für den Film recherchiert habe. Als ich gehört habe, es wird in Europa zum ersten Mal seit dem Abbau des Eisernen Vorhangs wieder eine Grenze gebaut, habe ich gedacht: Moment, das ist ein Ereignis, das weit hinausgeht über das Konkrete, das dort passiert. Es hat einen symbolischen Charakter. Ich bin dort hingegangen und habe dort einen Bürgermeister getroffen, auf dessen Gemeindeboden dieser neue Grenzzaun zwischen Ungarn und Serbien errichtet wurde. Dieser Zaun steht auch symbolisch für eine Tendenz, die seither um sich greift – überall in Europa. Nationalistische Bewegungen sind sehr im Aufwind. Deshalb ist dieser Anfang mit dem Grenzzaun auch symbolisch.“
Können Sie einige Begegnungen erwähnen, die Sie besonders beeindruckt haben? Ich kann einige der Orte nennen, die Sie besucht haben, es sind zu Anfang die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, weiter geht es nach Griechenland, zur Wiege Europas, es geht aber auch nach Polen und später auf den Balkan…
„Die Menschen, die die Demokratie erfunden haben, haben eine strikte Linie gezogen zwischen Politik und Wirtschaft. Vor über 2000 Jahren.“
„Für mich gab es auch große Überraschungen. Ein Beispiel ist die Agora: Ich bin dort hingegangen und dachte: Gut, hier wurde also die Demokratie erfunden. Ich schloss mich einer Touristengruppe an, und plötzlich kamen wir zu einem Grenzstein in der Agora. Der Guide sagte, das sei ein Stein, der ganz klar die Grenze zwischen Politik und Wirtschaft markierte. Und das durfte nicht vermischt werden. Für mich war es erstaunlich: Die Menschen, die die Demokratie erfunden haben, haben eine strikte Linie gezogen zwischen Politik und Wirtschaft. Vor über 2000 Jahren. Das große Problem ist, dass es heute diese Grenze nicht mehr gibt. Die ökonomischen Interessen bestimmen total die Politik, auch in der Europäischen Union. Für mich gab es sehr viele solche kostbaren Momente.
Die Perspektive der Anderen
Die Minenräumer in Flandern: Dort arbeiten jeden Tag Teams des belgischen Militärs, die Granaten aus dem Ersten Weltkrieg einsammeln, welche von Bauern oder bei Bauarbeiten gefunden werden. Allein in Westflandern sind es 20.000 Granaten jedes Jahr. Diese belastende Erbschaft, die im Boden ist, war mir nicht klar. Das erzählt auch etwas über die Konflikte, die es heute gibt. In Sarajevo war ich bei einem Chor. Dieser wurde nach der Belagerung der Stadt im Jugoslawienkrieg gegründet. In diesem Chor haben sich orthodoxe Christen, Atheisten, Katholiken und Moslems zusammengefunden, die gesagt haben, dass sie ihre Liebe zur Musik, zur geistlichen Musik teilen wollen. Dann haben sie angefangen, zusammen zu singen. Das ist jetzt 30 Jahre her, und diesen Chor gibt es immer noch. Das ist ein unglaublicher Akt von Zivilcourage und auch von kultureller Schönheit, die auf Wege jenseits der sich wiederholenden Albträume deuten.“
Glauben Sie, dass das auch ein allgemeiner Weg ist, also nicht nur in einem solch kleinen Maßstab möglich ist, sondern dass dies eine Hoffnung für Europa sein kann?
„Ich glaube, und das sagt auch einer der Gründer dieses Chors, dass das Entscheidende die Perspektive der Anderen ist. Wenn ich immer nur in meiner Perspektive drinstecke, gibt es immer nur ein Richtig und ein Falsch. Dann ist die Gefahr sehr groß, dass ich die Fehler bis in den Abgrund verfolge. Aber die Perspektive der Anderen kann eine Korrektur sein. Wenn man den Hinweis von jemand anderem, der die Dinge anders sieht, nicht nur als Einschränkung sieht, sondern als Bereicherung, kann verhindert werden, dass man wirklich in die Wand läuft. Wir sollten von dem enormen Potential profitieren, das wir als Gesellschaft haben. Ich glaube, das ist tatsächlich eine Perspektive für Europa: dass man versucht, die Perspektive der Anderen in das eigene Bewusstsein mithineinzunehmen und weniger das Eigene und das Nationale verteidigt.“
Kann man in diesem Sinn auch den Titel „Das Lied der anderen“ verstehen?
„Natürlich. ‚Das Lied der anderen‘ bezieht sich auch auf diesen Chor, in dem die Menschen die Lieder der Anderen singen und das als Einladung verstehen. Und in dem Chor klingt das am Schluss auch wunderbar. Dieses gemeinsame Singen der Lieder der Anderen ist eine Einladung, seinen eigenen Horizont zu erweitern.“
Sie erläutern jetzt, wozu Sie durch Ihre Suche gekommen sind, was wichtig ist, um Europa zu retten oder zusammenzuhalten. Hat Ihre Suche Sie mit Optimismus gefüllt, mit Hoffnung? Sie wissen nun, was nötig ist, glauben Sie aber auch, dass die Europäer dessen fähig sind?
„Wenn wir die Fehler, die Andere gemacht haben, wirklich verstehen, dann ist das eine enorme Chance, unendliches Leid künftig zu verhindern.“
„Es spricht sehr viel dagegen. Wenn ich mir die Parlamentswahlen in Frankreich anschaue, wenn ich schaue, was in Ungarn ist oder in Italien, dann sind das alles Gründe dafür, dass ich eigentlich nicht ganz optimistisch bin. Auf der anderen Seite, wenn ich mir die Geschichte anschaue, dann gab es immer wieder Zeiten von Rückschritt und Krise. Und das birgt immer auch die Chance, dass ein Bewusstsein für das entsteht, was wirklich wichtig ist. Ich sehe das also ambivalent. Wenn Sie mich fragen, zu welcher Schlussfolgerung ich durch die Arbeit an dem Film gekommen bin, dann sage ich: Die Bedeutung der Erinnerungen, also unseres Umgangs mit der Vergangenheit, hat für mich an Substanz gewonnen. Wenn ich die Gegenwart und die Zukunft gestalten will, ist die einzige Ressource, die mich davor schützt, gleiche Fehler zu wiederholen, dass ich ein Bewusstsein durch das erlange, was gestern und vorgestern passiert ist. Wenn wir die Fehler, die Andere gemacht haben, wirklich verstehen, dann ist das eine enorme Chance, unendliches Leid künftig zu verhindern. Aber wenn ich das verdränge, wenn ich nicht die Zeit habe, mich mit dem Schatz der Vergangenheit zu befassen, dann ist die Gefahr sehr groß, dass jede Generation die Fehler wiederholt. Und diese Fehler können fatale Reichweite haben, wie man eigentlich jeden Tag sieht, wenn man in die Weltpolitik schaut. Es liegt also an uns. Das ist das Positive.“