Schneller als das Gesetz: Die ersten weiblichen Abgeordneten der Tschechoslowakischen Republik

An diesem Wochenende finden in Tschechien wieder Wahlen statt. Abgestimmt wird über die Kreistage und ein Drittel des Senats. Frauen sind von den Kandidatenlisten schon lange nicht mehr wegzudenken, wenn ihr Anteil auch immer noch nicht der Geschlechterstruktur der tschechischen Bevölkerung entspricht. Vor etwa hundert Jahren waren weibliche Abgeordnete hingegen eine absolute Neuheit. Schauen wir also zurück auf einige der ersten Parlamentarierinnen in der Tschechoslowakischen Republik.

Als die Tschechoslowakische Republik am 28. Oktober 1918 gegründet wurde, lebten die hiesigen Menschen plötzlich in einem Land, das in vielerlei Hinsicht anders war als das bisherige Königreich Österreich-Ungarn. So hatten etwa Frauen bisher weder wählen noch gewählt werden dürfen. Das sei aber schlicht als nicht mehr zeitgemäß empfunden worden, schilderte Stanislav Holubec vom Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks:

Stanislav Holubec | Foto: Historisches Institut der tschechischen Akademie der Wissenschaften

„Es kam der Erste Weltkrieg. Weil die Männer an der Front waren, gelangten die Frauen als ihre Vertreterinnen in Positionen, die sie zuvor nie innehatten. Also nahm die Zahl der Lehrerinnen, Beamtinnen oder Fabrikarbeiterinnen zu. Damit war klar, dass eine neue Zeit angebrochen war. Denn wenn dann die Männer von der Front zurückkämen, würden die Frauen ihre neuen Positionen freiwillig nicht mehr aufgeben wollen. Es war offensichtlich, dass dies nach dem Krieg in der Gesetzgebung berücksichtigt werden musste. Damit bedeutete das Jahr 1918 in ganz Europa einen gewaltigen Schritt zu einer rechtlichen Gleichstellung von Frauen gegenüber den Männern.“

Schon einige Jahre zuvor hatte es aber eine Tschechin in ein Parlament geschafft. Die Schriftstellerin Božena Viková-Kunětická war die erste gewählte Abgeordnete in einem Landtag in Mitteleuropa – und das im Jahr 1911. Sie kandidierte bei den Nachwahlen zum böhmischen Landtag für die Jungtschechische Partei. Holubec erläutert:

Božena Viková Kunětická | Foto: e-Sbírky,  Nationalmuseum,  CC BY-NC-ND 4.0 DEED

„1911 hatten Frauen zwar noch nicht das Recht zu wählen, also das aktive Wahlrecht. Aber im Gesetz gab es keine Vorgaben dazu, dass Frauen nicht gewählt werden dürften. Das war den Gesetzgebern gar nicht eingefallen. Die Parteien nutzten also diese Gesetzeslücke und ließen mehrere Frauen kandidieren. So war es etwa bei den Sozialdemokraten und eben bei den staatsrechtlichen Demokraten, die Božena Viková-Kunětická ins Rennen schickten. Sie gewann die Wahl. Nur erlaubte ihr der Vorsitzende des Landtags nicht, das Mandat auch anzunehmen.“

Denn Frauen durften nach damaligem Recht bei den Sitzungen gar nicht anwesend sein.

Diese Verhältnisse zu ändern und Frauen die reguläre Teilnahme an Wahlen zu ermöglichen, war dem ersten tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk ein besonderes Anliegen. Und so hatte das passive und aktive Wahlrecht für Frauen in der neuen, demokratischen Verfassung seinen sicheren Platz. Diese wurde allerdings erst am 29. Februar 1920 verabschiedet. Dennoch saßen die ersten weiblichen Abgeordneten schon 1918 in der Revolutionären Nationalversammlung. Dieses provisorische Organ wurde auch gar nicht gewählt, sondern entstand aus dem vorherigen tschechoslowakischen Nationalausschuss.

Jaroslav Rokoský | Foto: Institut für das Studium totalitärer Regime

Als die Versammlung am 14. November 1918 erstmals zusammentrat, war Anna Chlebounová eines der drei weiblichen Mitglieder, und zwar für die Agrarpartei. Wie eine Frau damals ins Parlament kam, zeigt Chlebounovás Geschichte auf eher kuriose Weise. Sie war kurz zuvor, konkret am 5. November, per Telegramm dazu aufgefordert worden, ins Parteibüro nach Prag zu kommen. Wie der Historiker Jaroslav Rokoský vom Institut für das Studium totalitärer Regime in Prag weiter erläutert, war die Frau aus dem Ort Džbánov / Zuber bei Litomyšl / Leitomischl bereits im September dort gewesen, um ihre beiden Söhne von der Front abziehen zu lassen. Ihr zweiter Besuch sei dann wie folgt abgelaufen:

„Im Prager Büro saß sie mit drei Männern zusammen. Zwei von ihnen sah sie zum ersten Mal – den Vorsitzenden Antonín Švehla und den Sekretär Rudolf Berán. Den dritten, František Hybš, kannte sie schon von ihrem vorigen Besuch. Švehla begann nun einen kurzen Vortrag, dass die Zeiten sich geändert hätten, die Tschechoslowakei ein demokratischer republikanischer Staat sei und dass die Frauen sich im Krieg bewährt und die Männer ersetzt hätten. Chlebounová fragte sich, was das alles wohl mit ihren beiden Söhnen zu tun habe, die sie ja von der Armee abmelden wollte. Švehla beendete das dann mit den Worten, dass deshalb entschieden worden sei, sie für die Revolutionäre Nationalversammlung zu nominieren. Das überraschte Chlebounová, denn mit so etwas hatte sie nicht gerechnet.“

Ihre Einwände, dass sie schließlich sechs Kinder sowie einen Hof habe und ihren arbeitstätigen Mann unterstützen müsse, habe Švehla geflissentlich überhört, fährt Rokoský fort. Und so wurde Anna Chlebounová bekannt als die Abgeordnete mit dem Kopftuch, das sie als Frau vom Land zu tragen gewohnt war und auch in der Nationalversammlung nicht ablegte.

Gesetzeslücke genutzt

In der Revolutionären Nationalversammlung saß für kurze Zeit auch Alice Masaryková, die Tochter des Präsidenten. Als sie ihr Mandat im September 1919 wieder aufgab, um an der Seite ihres Vaters repräsentative Aufgaben zu erfüllen, rückte Irena Káňová nach. Sie sei zu der Zeit die einzige Slowakin in dem provisorischen Parlament gewesen, betont Jaroslav Rokoský:

„Káňová war damals noch nicht einmal 30 Jahre alt. Bis Mai 1921 blieb sie bei der Sozialdemokratie, dann trat sie in die Kommunistische Partei ein. Im Folgenden war sie in der dortigen Frauenbewegung aktiv, aber nicht mehr als Abgeordnete. Die Slowaken hatten dann während der gesamten Dauer der Ersten Republik keine einzige weibliche Abgeordnete mehr.“

Alice Masaryková | Foto: APF Tschechischer Rundfunk

Dabei war die Gründung der Republik eine genuin tschechisch-slowakische Angelegenheit gewesen. Die deutsche und die ungarische Minderheit hatten dagegen gestimmt und waren darum auch nicht in der Revolutionären Nationalversammlung vertreten. Die Slowaken hätten aber, im Gegensatz zu den Tschechen, deutliche Vorbehalte gegen das Frauenwahlrecht gehabt, berichtet Rokoský. Pläne, dieses Gesetz um fünf oder sogar zehn Jahre aufzuschieben, seien allerdings von den progressiveren slowakischen Parteien wie etwa den Sozialdemokraten verhindert worden.

In den anderthalb Jahren, in denen die Revolutionäre Nationalversammlung bestand, gehörten ihr insgesamt zehn Frauen an. Das provisorische Einkammerparlament wurde laut Verfassung 1920 durch Abgeordnetenhaus und Senat ersetzt. Damit wurde auch das offizielle Frauenwahlrecht in der Tschechoslowakei eingeführt. Auf kommunaler Ebene waren die Wählerinnen dem allerdings schon zuvorgekommen. Jaroslav Rokoský:

„Die Wahlordnung in den Gemeinden der Tschechoslowakei, die im Januar 1919 verabschiedet wurde, legte fest, dass alle Bürger ohne Rücksicht auf das Geschlecht das Recht zu wählen hätten. Frauen beteiligten sich also schon an den Gemeindewahlen im Juni 1919. Dies ist ein wichtiger Meilenstein, der aber oft vergessen wird. Damals durften Männer und Frauen ab 21 Jahre wählen. Bei diesem Urnengang wurde auch die erste Tschechin als Bürgermeisterin bestimmt. Anna Matoušková blieb die gesamte Legislaturperiode von fünf Jahren über im Amt, und zwar in der Gemeinde Vědomice nahe Roudnice nad Labem (Raudnitz an der Elbe, Anm. d. Red.).“

Schwierige Anfänge

Als im Frühjahr 1920 dann die ersten demokratischen Parlamentswahlen anstanden, mussten die Frauen – wie auch die Männer – sogar verpflichtend daran teilnehmen. So wollte es das Wahlgesetz. Im ersten Abgeordnetenhaus waren von insgesamt 300 Mitgliedern 15 weiblich, im Senat wurden drei der 150 Sitze von Frauen besetzt. Dass die Anfänge für die Parlamentarierinnen in der Tschechoslowakei nicht leicht waren, wusste auch Marie Tumlířová noch, als sie 1934 für die Agrarpartei in die untere Kammer einzog. Ihre Rundfunkansprache ist eine der ganz wenigen erhaltenen Aufnahmen einer Politikerin aus der Zwischenkriegszeit:

„Unsere Aufgabe im Parlament: Der Eintritt von Frauen in das politische Leben war in allen zivilisierten Staaten der Welt einerseits verbunden mit einer Reihe von Beschwerden, Hindernissen und unverhohlenem Widerstand bestimmter Bevölkerungsgruppen; andererseits mit einem Übermaß an Hoffnung, dass die Vorteile des weiblichen Charakters schnell alle Schattenseiten korrigieren, die sich mit der Zeit im System der politischen Arbeit angesammelt haben.“

Welchen Einfluss konnten die Parlamentarierinnen seinerzeit aber tatsächlich ausüben? Historiker Stanislav Holubec:

Františka Zemínová | Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks

„Das Parlament der Ersten Republik litt an einer zentralisierten Abstimmung. Die Abgeordneten hoben entsprechend der Entscheidung der Parteiführung die Hand. Die Parteidisziplin wurde streng eingehalten. Und die Parteiführungen bestanden natürlich aus Männern. Frauen waren in der Ersten Republik nicht einmal stellvertretende Vorsitzende und auch keine Ministerinnen. Das kam erst nach 1945.“

Die Pionierin Anna Chlebounová etwa, die noch bis 1929 Abgeordnete und dann bis 1935 Senatorin war, habe in diesen Jahren wenig Eigeninitiative auf parlamentarischem Boden entwickelt, ergänzt Jaroslav Rokoský. Sie sei eher mit dem Fraktionsstrom geschwommen, habe immer verlässlich abgestimmt und sei wenig sichtbar gewesen.

Andere Kolleginnen hingegen haben sich selbstbewusst hervorgetan – zum Beispiel Fráňa Zemínová, die 1920 bis 1939 für die linksgerichtete Volkssozialistische Partei im Abgeordnetenhaus saß. Sie habe eine deutliche Spur im Parlament hinterlassen, so Rokoský:

„Fráňa Zemínová ist eine Ikone der Frauenpolitik der Zwischenkriegszeit. Sie war eine energische, redegewandte und abgebrühte Frau – das musste sie sein, um in einem männlichen Parlament zu bestehen. Die einen bewunderten sie, die anderen konnten sie nicht ausstehen. Die politischen Gegner forderten mehrfach, dass ihr wegen ihrer abgeschmackten parteilichen Ausfälle – und sie waren wirklich abgeschmackt – die Abgeordnetenimmunität aberkannt werde. Das passierte aber nicht. ‚Zemínka‘, wie sie genannt wurde, griff sowohl Männer als auch Frauen scharf an und machte da keine Unterschiede. Sie nahm auch keine Rücksicht auf eine mögliche Solidarität unter Frauen. Trotzdem wünschte sie sich aber auch einen höheren Frauenanteil in der Politik.“

Seit den ersten demokratischen Parlamentswahlen in der Tschechoslowakei beteiligten sich auch wieder die Minderheiten im Land an der politischen Agenda. Dabei seien es ebenfalls vor allem die linksgerichteten Parteien gewesen, die Frauen ins Abgeordnetenhaus schickten, sagt Stanislav Holubec und verweist auf die österreichische Sozialdemokratische Partei:

„Oft engagierten sich dabei Politikerinnen mit jüdischen Wurzeln, vor allem aus den intellektuellen Schichten. Beispiele dafür sind Fanny Blatny oder Irene Kirpal. Für die Deutschnationalen saß Emma Maria Herzig im Parlament, eine Ärztin und Tochter eines Fabrikbesitzers in Liberec. Neben Alice Masaryková war sie zu dieser Zeit die einzige weibliche Abgeordnete mit einem Hochschulabschluss. Dies zeigt, dass das deutsche Parlamentariermilieu bereits sehr emanzipiert war – genauso wie das tschechische, aber anders als im Falle der slowakischen oder ungarischen Parteien.“

Die Zahl der weiblichen Abgeordneten blieb zur Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik, also bis 1938, relativ stabil. Die meisten aktiven Parlamentarierinnen wurden in den Jahren von 1929 bis 1935 gezählt: insgesamt 20 Senatorinnen und weibliche Abgeordnete, das waren 4,5 Prozent aller Mandate. Auf wichtige Posten in der Regierung oder als Botschafterinnen mussten Frauen in der Tschechoslowakei allerdings noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg warten.

Autoren: Daniela Honigmann , Veronika Kindlová | Quelle: Český rozhlas Plus
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