Architektonische Fehlbildungen: Die Satellitensiedlungen im Speckgürtel von Prag
Wenn ganze Busse voller Architekten einen Ort besichtigen, muss an diesem etwas Besonderes sein. Nur dient Jesenice / Jessenitz bei Prag nicht als Vorzeigestadt. Vielmehr gilt sie als Beispiel schlechter Praxis für die Ausweitung des Speckgürtels einer Großstadt. „Satelity“ heißen die schnell wachsenden Orte im Tschechischen, ganz ähnlich den deutschen Satellitenstädten. Was bei den neuen Siedlungen im immer größer werdenden Einzugsbereich von Prag alles falsch gemacht werden kann – und wird.
Mit dem Begriff „satelity“ verbinden die Menschen in Tschechen selten etwas Positives. Neue Siedlungen in unmittelbarer Nähe großer Städte entstehen nicht selten mitten auf einem Feld, verfügen weder über Geschäfte noch über Betreuungseinrichtungen und sind schlecht an das Verkehrsnetz angebunden. So sorgen im Speckgürtel von Prag immer mehr Pendler für immer mehr Staus…
„Ich lebe hier seit meiner Kindheit. Damals war das ein Dorf, jetzt ist es schon wie ein Teil von Prag. Denn die Stadt ist verkehrstechnisch auf katastrophale Weise angebunden: morgens Stau, nachmittags Stau. Heute gibt es hier fünfmal so viele Einwohner wie früher, und wir kennen die Leute gar nicht. Das ist eher eine Übernachtungsmöglichkeit für sie hier.“
Dieser Bewohner von Jesenice ist wenig begeistert über das Anwachsen seines Heimatortes. Der liegt keine fünf Kilometer vom südöstlichen Prager Stadtrand entfernt. Früher habe es in Jesenice nicht so viel Verkehr und Lärm gegeben, so das Urteil des Mannes. Und heute gebe es immer wieder Momente, da könne man die Hauptstraße einfach nicht überqueren.
Tatsächlich hat Jesenice in den letzten drei Jahrzehnten einen massiven Zuzug erlebt. 2001 gab es hier laut Volkszählung 2475 Einwohner, aktuell sind es mehr als 10.000. Vizebürgermeisterin und Architektin Iva Řehulková (Nezávislí pro Jesenici) hat einen realistischen Blick auf die neu entstehenden Wohnviertel:
„Bei uns besteht ein Problem, wegen dem immer wieder Autobusse voller Architekten aus dem Ausland oder auch Architekturstudenten hierherkommen. Sie schauen sich nämlich ein Negativbeispiel an, wie es nicht aussehen sollte. Der Hauptgrund dafür liegt darin, dass die Gemeinde nicht darauf geachtet hat, neben dem massiven Ausbau der Wohnfläche auch öffentliche Angebote für die Bürger einzurichten und vor allem die Zugangsstraßen von Prag in ihrer Kapazität anzupassen. Wenn man sich darum nicht von Anfang an kümmert, kann das nur sehr schwer rückwirkend ergänzt werden. Zudem gab es im Ort historisch nie eine Kirche, und anstelle eines Marktplatzes haben wir nur eine große Straßenkreuzung.“
Gestandene und auch angehende Fachleute finden in Jesenice also ein Beispiel für eine unkontrolliert gewachsene Gemeinde. Hervorgehoben wird dabei vor allem eine Siedlung am Stadtrand. Sie liegt mitten auf einem Feld und ist vom Rest des Ortes völlig abgeschnitten. Dazu Řehulková:
„Eingliedern lassen würde sich dieses Gebiet nur dadurch, dass das umliegende Feld bebaut wird. Aber das wollen wir nun wirklich nicht. Viel lieber würden wir den Ausbau des Viertels, das sich weiter in die Landschaft zieht, endlich stoppen.“
Der Ort solle nicht weiter so wahnsinnig auswuchern, so Řehulkovás eigene Formulierung. Und damit solle auch das ungewollte Interesse der Architekturexperten gedämpft werden.
Mitten auf dem Feld, fehlende Kinderbetreuung
Was Satellitenorten in Tschechien häufig fehlt, sind öffentliche Angebote zur Kinderbetreuung. Dies sei auch der Fall in Jesenice, bestätigt die stellvertretende Bürgermeisterin:
„Wir versuchen gerade, schrittweise die Infrastruktur zu ergänzen. Das heißt, wir bauen Schulen und Kindergärten, von denen es dauerhaft zu wenige gibt. Sobald eine Einrichtung fertiggestellt ist, stellen wir schon wieder fest, dass eine weitere benötigt wird. Unsere Bevölkerung ist sehr jung. Es ziehen vor allem Familien mit Kindern hierher, und diese brauchen natürlich ein entsprechendes Angebot.“
Das kann Jakub aus eigener Erfahrung bestätigen. Der Mann ist mit seiner Frau und den drei Kindern vor einigen Jahren aus der Prager Innenstadt in nördliche Richtung weggezogen, nämlich nach Vinoř.
„Noch vor fünf Jahren galt der Ort als jener Teil Mittelböhmens, in dem die Lage am schlechtesten ist. Eine Schule gab es damals nicht einmal in der weiteren Umgebung. Jetzt wurde aber eine ganz neue gebaut, die drei Gemeinden dient. Und im Nebendorf ist ebenfalls eine Schule entstanden. Als wir hierhergezogen sind, hatte der Kindergarten gerade einen neuen Anbau bekommen – da hatten wir Glück. Aber inzwischen reicht er auch schon wieder nicht aus. Denn der Zuzug von jungen Leuten, die Kinder haben, ist sehr groß. Die Frage ist allerdings auch, wie sich das in fünf oder zehn Jahren gestaltet, wenn die Kinder größer werden. Dann könnte der Kindergarten auch wieder geschlossen werden.“
Obwohl Jakub den Ortsteil, in dem seine Familie ein Haus gebaut hat, als einen der älteren von Vinoř bezeichnet, sei auch dieser einst als Satellit an den Ortskern „angeklebt“ worden, wie der Mann es ausdrückt. Inzwischen seien in der nördlich angrenzenden Gemeinde Přezletice aber auch schon wieder drei große Viertel entstanden.
Jakub beobachtet dies auch mit beruflichem Interesse. Denn er ist Bauunternehmer und errichtet selbst Einfamilienhäuser in Satellitenstädten…
„Gerade bei dem Haus, das wir aktuell bauen, habe ich bemerkt, dass es sich bei diesem Ort um einen echten Satelliten handelt. Es ist tatsächlich eine Beule mitten im Feld, wie man von oben sehen kann. Das Viertel liegt etwa einen Kilometer entfernt von dem Dorf, zu dem es gehört. Das Ganze ist wirklich sehr eigenartig. Es handelt sich um Einfamilienhäuser, mitten auf der grünen Wiese. Die Menschen ziehen dorthin, weil sie Ruhe suchen. Und das erste, was die meisten tun, ist ihr Grundstück mit einer Betonmauer einzuzäunen. Wir sind dort einmal auf das Dach gestiegen und haben uns die Gegend angeschaut. Da hat man das Gefühl, in einem Irrgarten aus Beton zu stehen: ein Zaun neben dem anderen, und alle sind wie ein Tetrisfeld angelegt. Das ist sehr, sehr sonderbar.“
Nicht nur sonderbar, sondern durchaus problematisch kann die Landnahme sein, mit der auf diese Art und Weise Baugrundstücke geschaffen werden. Darauf weist etwa das Prager Institut Rethink Architecture hin, das Weiterbildungen für Architekten und Investoren anbietet. Kateřina Eklová ist Mit-Begründerin:
„Für Satelliten wird eine Menge Ackerboden bebaut. Es ist an sich schon ein Problem, wenn Ackerland immer weniger wird. Wird es aber noch mit städtischen Konzepten bebaut, entstehen dabei viele Asphaltstraßen. Und diese bilden Wärmeinseln, weil sich der Asphalt im Sommer erhitzt. Dies ist also ein Umweltproblem. Außerdem ist die Pflege der Infrastruktur – und das meint sowohl die Straßen, als auch die Wasser- und Wärmeleitungen darunter – in Satellitenorten um ein Vielfaches teurer als in dicht bebauten Städten mit Mietshäusern oder Plattenbausiedlungen. Denn dort leben viel mehr Menschen, die die Infrastruktur nutzen. Darum ist es effektiver, in Städten oder Gemeinden mit einer traditionellen, dichteren Gebäudestruktur zu wohnen.“
An den Ortskern anschließen
Eine traditionellere Gebäudestruktur ist es auch, die es in Jesenice in Zukunft geben soll. Vizebürgermeisterin Řehulková kommt noch einmal auf den fehlenden zentralen Platz zu sprechen:
„Im Zusammenhang mit dem neu entstehenden Zentrum wollen wir das Ortsinnere verdichten – so wie es derzeit überall der Trend ist. Wenn man einen Marktplatz haben will, ist es wohl vernünftig, drum herum eine Blockbebauung zu errichten. Und eben keine Einfamilienhäuser oder kleine Gutshöfe.“
Als positives Gegenbeispiel zu Jesenice kann Řevnice / Rewnitz angesehen werden, das etwa 25 Kilometer Luftlinie südwestlich entfernt liegt. Dort leben zwar nur 3800 Menschen. Aber einen umfangreichen Zuzug aus Prag gab es hier schon vor etwa 100 Jahren. Und auch heute ziehen die schöne Umgebung des Berounka-Tals und die Nähe zur Hauptstadt viele Pendler an. Daria Balejová ist die Stadtarchitektin:
„Von dem großen Boom, in dem die Satelliten nach der Samtenen Revolution entstanden, ist Řevnice verschont geblieben. Damals gab es hier vielmehr eine der seltenen Phasen, in der die Menschen abwanderten. Dadurch sind wir der allgemeinen Entwicklung Gottseidank entgangen. Und später wurde damit etwas vernünftiger umgegangen – der Zuzug sollte nun also koordiniert ablaufen.“
Zu diesem vernünftigen Umgang, von dem Balejová spricht, gehört vor allem eine Einsicht:
„Nicht jeder Ausbau muss gleich eine Satellitensiedlung bedeuten. Auch eine umfangreichere Ausweitung kann völlig in Ordnung sein. Oft liegt das Problem gar nicht an dem Satelliten und an seiner Entstehung an sich, sondern an dem Ortszentrum, an das er angegliedert wird – oder eben nicht gut angegliedert wird.“
Eben dafür, wie ein neues Viertel an den bestehenden Ortskern angepasst wird, hat man in Řevnice sichtbar gute Lösungen gefunden. Das Dorf wirkt kompakt und natürlich gewachsen. Dies wird eine Rolle gespielt haben für die Juryentscheidung, mit der Balejová 2022 als Gemeindearchitektin des Jahres ausgezeichnet wurde. Sie erläutert das stadtplanerische Konzept:
„Das Instrument, das sich heutzutage am meisten anbietet, ist der Flächennutzungsplan. In den neueren Ausführungen wird viel mehr darauf geachtet, dass die Satelliten nicht mehr abgeschnitten sind. Unter anderem passiert dies durch einen Etappenbau neuer Häuser. Solange die dafür vorgesehenen Baugrundstücke im weiteren Zentrum der Stadt noch nicht alle ausgenutzt sind, darf nicht am äußeren Rand oder sogar in der freien Landschaft gebaut werden.“
Dadurch kann es kaum passieren, dass neue Wohnhäuser isoliert stehen und die Dienstleistungen im Ort für die Zugezogenen nicht erreichbar sind. Und da auch in Řevnice zu beobachten ist, was Bauunternehmer Jakub aus seinen Arbeitserfahrungen berichtet, wurde in dem Ort am Berounka-Fluss noch eine weitere architektonische Maßnahme beschlossen: Wie Balejová informiert, gibt es eine Sonderverordnung, mit der die maximale Höhe von Zäunen oder Ummauerungen festgelegt wird. So werde einem Betonlabyrinth, wie es Jakub beschreibt, entgegengewirkt.
Die einzelnen Schritte zur Gestaltung der Satellitenstädte werden bis zu einem gewissen Maße wohl immer individuell bleiben. Ziemlich sicher ist nur, dass der Speckgürtel von Prag weiter wachsen wird. Mit Blick in die nähere Zukunft formuliert Daria Balejová so etwas wie einen allgemein gültigen Grundsatz:
„Es wird oft vom Prinzip des Nicht-Wachstums gesprochen, unter dem sich einige vorstellen, ihr Dorf in jenem Zustand zu erhalten, als sie noch Kinder waren. Solange Prag jedoch Prag ist, wird das aber einfach nicht möglich sein. Es geht vielmehr darum, das Wachstum zum Wohle der Gemeinde zu kultivieren.“