Neuer Prag-Krimi: Wenn Egon Erwin Kisch zum rasenden Ermittler wird
Der Journalist Egon Erwin Kisch ist als rasender Reporter bekanntgeworden. In einem neuen Krimi wird aus Kisch jedoch ein rasender Ermittler. Im Prag des Jahres 1910 muss er gemeinsam mit der Berliner Medizinstudentin Lenka Weißbach einen dubiosen Mordfall aufdecken. Erdacht wurde das Ermittlerduo von den Autoren und Radiomachern Martin Becker und Tabea Soergel.
Herr Becker, Frau Soergel, Sie haben einen Prag-Krimi geschrieben, in dem Egon Erwin Kisch als Ermittler im Jahr 1910 im Einsatz ist. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Becker: „Sie wurde mehr oder weniger an uns herangetragen. Der Leiter des Kanon-Verlags, Gunnar Cynybulk, trug sich wohl schon lange mit dieser Idee herum, nicht zuletzt, weil während seiner Zeit im Aufbau-Verlag dort die gesammelten Werke von Egon Erwin Kisch erschienen sind. Als er uns gefragt hat, ob wir uns vorstellen könnten, einen Krimi über Kisch im Jahr 1910 zu schreiben, meinten wir: Kisch und das Jahr 1910 ja, einen Krimi eher nicht, denn wir hatten keine Erfahrung mit diesem Genre. Im Laufe der Recherche hat sich dann aber relativ schnell herausgestellt, dass man dennoch einen Kriminalroman über Kisch schreiben kann – denn das, was er erlebt hat, liefert schon den perfekten Stoff.“
Sie sind beide Prag-Kenner, öfter hier und haben auch Bücher über die Stadt geschrieben. Wie schwierig war es, zur damaligen Zeit zu recherchieren? Im Nachwort schreiben Sie etwa, dass Sie einige Ausgaben der Zeitung Bohemia, für die Kisch schrieb, durchgelesen haben…
Soergel: „Ja, viele Ausgaben! Praktisch drei Viertel des ganzen Jahres 1910. Dabei erschien die Bohemia zweimal pro Tag und in Frakturschrift. Es war also eine gewisse Gewöhnung nötig, dann ging die Lektüre aber relativ schnell. Wir haben natürlich auch die Reportagen von Kisch gelesen und Kafkas Tagebücher sowie Bücher über ihn. Es war wichtig für uns, in die damalige Atmosphäre und die Ereignisse in der Stadt einzutauchen. Das Jahr 1910 ist ja eigentlich nicht so lange her. Manche Dinge konnten wir uns auch heute noch vorstellen. Andere hingegen waren wie aus einer anderen Welt. Wir haben also viel recherchiert und mussten vieles davon auch wieder vergessen, um den Roman zu schreiben. Denn es ist nun einmal kein Sachbuch, sondern Belletristik.“
Egon Erwin Kisch hat es wirklich gegeben, ebenso Franz Kafka, der auch vorkommt. Aber wieviel Wahrheit steckt in Ihrem Buch?
Becker: „Das ist natürlich auch bei Kisch selbst die große Frage. Wir haben einen Text von ihm aus den 1940er Jahren entdeckt, in dem er freimütig einräumt, er habe bei einer seiner ersten Reportagen über einen Müllbrand einfach gelogen und Dinge erfunden, die so nicht stattgefunden hätten. Als der Skandal um den Spiegel-Autor Claas Relotius aufflog, wurde Kischs Text häufig zitiert, um zu zeigen, dass selbst er als junger Journalist gelogen hat. Wir haben aber mit unseren Kenntnissen der Bohemia noch einmal recherchiert und dabei festgestellt, dass Kisch in seinem Text aus den 1940er Jahren gelogen hat. Er hat sich irrtümlich der Lüge bezichtigt. Denn sein früherer Bohemia-Artikel ist einfach nur eine ganz normale, etwas langweilige Reportage über einen Müllbrand in Prag. Man muss bei Kisch also wirklich mit Vorsicht genießen, was Tatsache ist und was mit Phantasie angereichert wurde. Das hat es uns einfach gemacht. Denn Kisch als unzuverlässiger Erzähler – das war natürlich eine wunderbare Vorlage, um selbst in Fabulieren zu kommen.“
In Ihrem Buch erwähnen Sie die Namen von vielen Straßen, Plätzen und Moldaubrücken in Prag. Im Nachwort habe ich gelesen, dass Sie auch das Café Montmartre verarbeitet haben. Das hat mich gefreut, denn es ist eines meiner Lieblingscafés in Prag. Wie hat zum Beispiel dieser konkrete Ort Ihr Buch geprägt?
Becker: „Sehr stark. Ich habe mich schon häufiger mit Menschen im Café Montmartre getroffen, etwa für Interviews. Und auch für Kirsch war dieser Ort natürlich prägend. Beim Schreiben des Romans ergab sich aber ein Problem: Das Café Montmartre gab es 1910 nämlich noch gar nicht, wir wollten aber auf die ganzen Geschichten von dort, die von Kisch überliefert sind, zurückgreifen. Wir haben den Ort deshalb kurzerhand Café Batignolles genannt.“
Und die anderen Orte?
Becker: „Wir haben uns jeden Handlungsort genau angeguckt und uns etwa überlegt, wo Lenka wohnen könnte – die ja vielleicht sogar wichtigere Protagonistin neben Kisch. Als wir dann ein Haus gefunden hatten, haben wir festgestellt, dass es sich direkt neben der ehemaligen Zentrale des Prager Tagblatts befindet, wo noch heute eine Plakette an Kisch erinnert. Wir waren auch auf dem Gelände der ehemaligen Bohemia. Heute probt dort das Nationaltheater. Zunächst stießen wir auf einen unfreundlichen Pförtner, aber dann auf einen sehr netten, der uns hereinließ. Die Atmosphäre dieses Ortes aufzufangen, war ganz wichtig.“
Soergel: „Der Roman spielt ja hauptsächlich in der Prager Altstadt, und dort zu sein, war für mich wirklich eine Art Neuentdeckung. Bisher habe ich diesen Ort bei meinen Besuchen bewusst gemieden, da er so voll und touristisch ist. Ich habe mich eher in Žižkov, Vinohrady und Karlín aufgehalten. Durch die Arbeit an dem Buch habe ich die Altstadt nun für mich entdeckt.“
Ging Ihnen das auch so, Herr Becker?
Becker: „Ja, das muss ich voller Erschrecken hinzufügen. Ich hätte wirklich niemals gedacht, dass ich nach anderthalb Jahrzehnten intensiver Prag-Erfahrung jemals dazu kommen würde, des Nachts voller Entzückung über die Karlsbrücke zu laufen. Aber das ist bei den Recherchen zu diesem Roman passiert – so unglaublich das auch klingen mag.“
Ich mache das öfter und genieße es jedes Mal.
Becker: „Mittlerweile kann ich Sie voll und ganz verstehen.“
Haben Sie versucht, in Ihrem Roman die Sprache von 1910 nachzubilden?
Soergel: „Diese Frage hat uns auch sehr beschäftigt. Wir wollten die Sprache nicht nachahmen, weil das oft parodistisch, unfreiwillig komisch oder einfach falsch wird. Wenn die Dialoge förmlich sind, also etwa wenn Kisch mit dem Inspektor im Sicherheitsdepartement spricht oder sich Figuren neu kennenlernen und den anderen beeindrucken wollen, sprechen sie blumig und ausschweifend. Andernfalls reden sie fast schon wie heute, also modern miteinander. Aus dem Prager Deutschen haben wir nur an zwei, drei Stellen Ausdrücke einfließen lassen. Alles andere wäre uns nicht gelungen, weil diese Sprache ausgestorben ist. Natürlich kann man sich Interviews mit Lenka Reinerová anhören oder Texte aus der Zeit lesen, wie etwa Kischs Briefe. Ich glaube aber, das Ergebnis wäre irgendein Murks geworden. Wir haben also versucht, unsere eigene Sprache für dieses Buch zu finden, und ich glaube, das ist uns auch ganz gut gelungen. Oder, Martin?“
Becker: „Ich finde schon. In diese Frage spielt auch mit hinein, dass wir kein Buch schreiben wollten, in dem die historische Figur Egon Erwin Kisch die Hauptrolle spielt. Das wäre anmaßend gewesen. Wir wollten aus Kisch eine Romanfigur machen. Deshalb spricht er dementsprechend, und deshalb wird er auch kein einziges Mal ‚Egonek‘ genannt, was ja sein geläufiger Spitzname war. Was die Sprache angeht oder zumindest den Rhythmus, hat uns Lenka Reinerová zumindest ein bisschen beeinflusst. Ich hatte das Glück, sie kurz vor ihrem Tod kennenlernen zu dürfen. Das hat mich sehr geprägt. Natürlich spielt unser Buch in einer anderen Zeit. In unserer Protagonistin Lenka steckt aber doch ziemlich viel von ihr: dieses Blitzgescheite, dieses Unabhängige.“
Sie haben bereits öfter zusammengearbeitet, etwa bei Hörspielprojekten. Wie kann man sich das aber vorstellen, zu zweit einen Roman zu schreiben? Wie funktioniert das praktisch?
Soergel: „Das war für uns auch ein Experiment, und wir wussten nicht, ob das klappen würde. Aber es hat geklappt. Wir haben den Anfang und das Ende gemeinsam geschrieben und uns den Rest kapitelweise aufgeteilt. Es gab einen Ablaufplan, in dem stand, was wann vorkommen soll. Die fertigen Kapitel haben wir dann gegenseitig überarbeitet. Das hat erstaunlich gut funktioniert. Das Schönste war, wenn wir den anderen mit irgendwelchen Entwicklungen oder Figuren überrascht haben, die eigentlich gar nicht im Ablaufplan vorkamen. Ich hätte vorher gedacht, dass man vielleicht Features gemeinsam schreiben kann, aber keinen Roman. Nun wurde ich vom Gegenteil überzeugt. Man muss sich nur gut kennen, einen gemeinsamen Stil finden und sich gegenseitig vertrauen. Und man sollte nicht eitel sein und sich nicht beleidigt fühlen, wenn der oder die andere Änderungen vorschlägt oder Dinge einfach umschreibt.“
Becker: „Es hat auch sehr geholfen, dass wir unterschiedliche Stärken haben – ein bisschen wie Kisch und Lenka im Buch. Ich war der Haudrauf, der gut Actionszenen kann und ordentlich auf den Putz haut – der Mann fürs Grobe. Tabea hingegen kann gut schreiben und hat einen Blick für Details. Sie hat dem Buch den literarischen Zauber gegeben.“
Scheinbar hat Ihre Zusammenarbeit so gut funktioniert, dass es demnächst einen zweiten Fall geben wird. Nicht ohne Grund hat der jetzt erschienene Roman den Untertitel ‚Kischs erster Fall‘. Wollen Sie schon etwas zum zweiten Band verraten?
ZUM THEMA
Becker: „Das nächste Buch kommt im nächsten Herbst. Wir sind gerade dabei, zu recherchieren und das Ganze zu entwerfen. Unter anderem wird es in die Katakomben unter Prag gehen. Das Buch wird ‚Die Feuer von Prag‘ heißen, und das ist wörtlich zu verstehen, weil es um rätselhafte Brände gehen wird. Außerdem greifen wir auf eine historische Begebenheit zurück, nämlich auf Kischs großen Scoop, den Oberst-Redl-Fall. Wir werden all die Figuren wieder treffen, die wir jetzt in die Welt entlassen mussten.“
Hat Sie das Krimischreiben denn nun so sehr gefesselt, dass Sie sich auch vorstellen könnten, zeitgenössische Prag-Krimis zu schreiben? ‚Mord im Eurocity‘ oder ‚Der Ertrunkene unter der Karlsbrücke‘… Es gäbe da sicher viel Potential…
Soergel: „Also vor diesem Buch hätte ich es nie für möglich gehalten, dass ich jemals einen Kriminalroman schreiben würde. Aber es macht einen Riesenspaß. Ich würde also sofort auch einen zeitgenössischen Krimi schreiben, entweder in Prag oder in einer anderen europäischen Stadt – vor allem wenn Martin mitschreibt.“
Und, Herr Becker, wären Sie auch dabei?
Becker: „Wir dürfen nicht zu viel verraten. Aber es gibt schon gewisse Pläne. Mal schauen, wo sie hinführen. Die Verbrechen sind vielfältig – in Prag und anderswo auf der Welt…“
„Die Schatten von Prag“ von Martin Becker und Tabea Soergel ist im Oktober im Verlag Kanon erschienen. Das Buch hat 260 Seiten und kostet 24 Euro.