Tomáš Garrigue Masaryks letzte Worte: Versiegelter Umschlag gibt 2025 sein Geheimnis preis

Tomáš Garrigue Masaryk

Ein weißer Umschlag mit der Inschrift „Versiegelt bis 2025“ liegt im Tresor des Nationalarchivs in Prag. Angeblich enthält er die Worte des ersten tschechoslowakischen Staatspräsidenten, Tomáš Garrigue Masaryk, die er im Sterbebett seinem Sohn Jan anvertraut hat. Welches Geheimnis birgt das Dokument? Handelt sich um die Botschaft des Präsidenten an die Bürger seines Staates, der bald untergehen sollte? Denkt Masaryk über die Erfolge und Misserfolge beim Aufbau der Tschechoslowakei nach? Oder wird man in ein Familiengeheimnis eingeweiht? Die Antwort erhalten wir am 19. September des gerade begonnen Jahres. An diesem Tag darf nämlich der Umschlag geöffnet werden.

„Der erste Präsident der Tschechoslowakischen Republik, der Präsident-Befreier Thomas Garrigue Masaryk, ist heute, Dienstag, den 14. September 1937, um 3 Uhr 29 Minuten morgens im Alter von 87 Jahren, sechs Monaten und sieben Tagen gestorben“

so verkündete der tschechoslowakische Rundfunk in seinen deutschsprachigen Sendungen im September 1937 den Tod von Masaryk.

Masaryk, der dreimal hintereinander zum Staatsoberhaupt der neugegründeten Tschechoslowakei gewählt worden war, starb in Schloss Lány / Lana bei Prag. Diese frühere Adelsresidenz hatte er zum Landsitz der tschechoslowakischen Präsidenten gemacht und wohnte dort gern. Seine Kinder Alice, Jan und Olga, die Enkelinnen Anna und Herberta sowie seine Nichte Ludmila Lípová und ihr Mann versammelten sich in seinen letzten Stunden im Schlafzimmer von Masaryk. Staatspräsident Edvard Beneš und seine Frau Hana, Ministerpräsident Milan Hodža und weitere Personen standen vor der Tür. Um genau 3:29 Uhr morgens kam Masaryks Arzt aus dem Zimmer heraus und verkündete „T. G. Masaryk ist soeben gestorben.“

88 Jahre danach, am 19. September 2025, steht ein außergewöhnliches Ereignis bevor: Ein versiegelter Umschlag wird geöffnet, der angeblich die letzten Worte von Tomáš Garrigue Masaryk enthält. Jiří Křesťan ist Archivar beim Nationalarchiv in Prag:

„Wir sind selbst sehr gespannt. Das Nationalarchiv hat einst den Nachlass Jan Masaryks von Antonín Sum übernommen. Später, im Jahr 2005, hat mir Herr Sum diesen geheimnisvollen Umschlag gebracht mit der Idee, dass er 20 Jahre lang versiegelt bleiben sollte. Diese Frist läuft jetzt ab, und wir haben wirklich keine Ahnung, was darin ist. Das Einzige, was Antonín Sum mir gesagt hat, ist, dass darin Worte stehen, die Jan Masaryk auf Veranlassung seines Vaters Tomáš Garrigue Masaryk niedergeschrieben hatte. Dies soll zu einer Zeit geschehen sein, als Tomáš Garrigue Masaryk bereits befürchtete, dass seine Tage gezählt seien.“

Wann wurde der Text verfasst?

Der Text mit der letzten Botschaft von Tomáš Garrigue Masaryk wurde laut Jiří Křesťan wahrscheinlich zwischen dem 3. und 11. September 1937 verfasst:

„Der erste Schlaganfall kam am 1. September. Masaryks Gesundheitszustand war bis etwa zum 5. September kritisch. Dann gab es eine gewisse Besserung, und danach kam ein weiterer Anfall, kurz vor dem Tod. Ich kann nicht sagen, ob Masaryks Gesundheitszustand ihm zu diesem Zeitpunkt erlaubte, überhaupt einen kontinuierlichen Text zu diktieren. Wir wissen, dass er damals mit den Menschen um sich herum kommunizierte, aber es waren meist nur Ein-Wort-Antworten oder Gesten. Soll die Niederschrift also wirklich 1937 geschehen sein, dann muss dies in dem kurzen Zeitraum gewesen sein, in dem er begann, wieder mit seiner Umgebung zu kommunizieren.“

Umschlag mit den letzten Worten von Tomáš Garrigue Masaryk | Foto: Nationalarchiv

Der Historiker räumt aber auch die Möglichkeit ein, dass der Text schon einige Jahre früher entstanden sein könnte:

„Masaryk hatte bereits 1934 und 1935, kurz vor seiner Abdankung als Staatspräsident, Schlaganfälle erlitten. In den Archiven des Masaryk-Instituts gibt es schon ein anderes Dokument aus jener Zeit. In Anwesenheit von Edvard Beneš bat er seinen Sohn Jan, einige seiner Gedanken aufzuschreiben.“

Der erwähnte Text aus dem Jahr 1934 war größtenteils in Englisch verfasst. Der alte Mann wechselte immer wieder zwischen Tschechisch und der Sprache, in der er sich mit seiner US-amerikanischen Frau und teilweise mit seinen Kindern unterhielt.

„Er äußert sich darin vor allem zur Form seiner Beerdigung, das lag ihm sehr am Herzen. Zweitens findet sich darin, was uns nicht überrascht, seine Wertschätzung für Edvard Beneš. Es beruhige ihn, wenn Edvard Beneš sein Nachfolger werde, heißt es. Diese starke Zuversicht – ich glaube, es steht sogar darin, dass er Beneš mochte – war ziemlich ungewöhnlich für Masaryk, denn er brachte sehr selten Emotionen zum Ausdruck. Und drittens zeigt er sich als ein politischer Mensch. Er äußert sich – allerdings in verstreuten Gedanken – zur politischen Lage in der Tschechoslowakei, zu nationalen Fragen, und er macht kritische Anmerkungen zu den Tschechen und den Slowaken. Es ist also ein ziemlich umfangreiches Dokument, aber es besteht mehr oder weniger aus nicht zusammenhängenden Notizen, aus denen wir nur eigene Schlüsse ziehen können.“

Jan Masaryks Sekretäre im Spiel: Über London, Schottland und Provence zurück nach Prag

Das geheimnisumwobene Couvert befindet sich nicht im Nachlass von Tomáš Garrigue Masaryk, sondern im Nachlass seines Sohnes Jan Masaryk. Dieser war Außenminister in der tschechoslowakischen Exil-Regierung in London und nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der Tschechoslowakei. Das Archiv von Jan Masaryk enthält einige Dokumente aus dem ursprünglichen Familienarchiv Masaryk, die meisten Schriftstücke entstanden aber während der Exilzeit in London. Einen großen Verdienst daran, dass diese Dokumente bis heute erhalten sind, haben die beiden Sekretäre Masaryks, Lumír Soukup und Antonín Sum:

Tomáš Garrique Masaryk | Foto: APF Tschechischer Rundfunk

„Als London bombardiert wurde, bat Jan Masaryk Lumír Soukup, der in Schottland lebte und später sein persönlicher Sekretär wurde, die Archivmaterialien aufzubewahren. Soukup deponierte sie in einem Banksafe in Schottland, und Jan Masaryk ließ noch weitere Dokumente dorthin bringen. Diese Praxis wurde auch nach dem Krieg beibehalten. Lumír Soukup blieb in Großbritannien, und Jan Masaryk schickte ihm aus der Tschechoslowakei gelegentlich Dokumente zur Aufbewahrung, und zwar bis Ende 1947.“

In der Nacht auf den 10. März 1948, kurz nach der Machtübernahme durch die Kommunisten in der Tschechoslowakei, starb der Außenminister nach einem Sturz aus dem Fenster seiner Dienstwohnung im Prager Palais Czernin.

„Viele Dinge blieben nach Jan Masaryks tragischem Tod in seiner Wohnung. Antonín Sum traf Absprachen mit französischen und englischen Diplomaten, und es gelang ihnen, einen Teil dieses Archivs, das sich in Masaryks Wohnung im Czernin-Palais befand, in den Westen zu Lumír Soukup zu schmuggeln. Das Archiv wurde lange Zeit in jenem Banktresor aufbewahrt. Nachdem Soukup in den 1980er Jahren in den Ruhestand gegangen war, lebte er mit seiner Frau in Frankreich und nahm die Archivalien dorthin mit. Sie waren dort bis 1989 deponiert.“

Jan Masaryk | Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks

Antonín Sum wurde 1949 verhaftet, in einem Schauprozess verurteilt und verbrachte die Jahre bis 1962 im Gefängnis. Später nahm er Kontakt zu den Enkelinnen des ersten tschechoslowakischen Staatspräsidenten auf, Anna und Herberta Masaryková. Nach der politischen Wende in der Tschechoslowakei von 1989 erklärten sie sich sofort bereit, das Archiv Jan Masaryks aus Frankreich nach Prag zu holen. Mitte der 1990 Jahre wurden die Dokumente an das Zentrale Staatsarchiv, heute Nationalarchiv, übergeben. Allerdings gehörte jener Umschlag mit den letzten Worten von Tomáš Garrigue Masaryk nicht dazu und kam erst fast zehn Jahre später ins Archiv. Jiří Křesťan:

„Das ist eines der Rätsel, die den Brief umgeben. Wir standen danach mit Herrn Sum in Kontakt. Er lieh sich gelegentlich Dokumente aus dem Archiv für Ausstellungen, Veröffentlichungen und dergleichen aus. Einmal habe ich ihm unseren neuen Tresor gezeigt. Etwa eine Woche später kam er zu mir und sagte, er habe da etwas und wünsche, dass es im Tresor des Archivs bleibe.“

Was enthält der Umschlag? Spekulationen über Masaryks Herkunft

Dieses Treffen fand am 19. September 2005 statt. Der Umschlag wurde nicht 1937, sondern erst kurz vor der Übergabe von Antonín Sum versiegelt und mit dessen Stempel versehen. Und welchen Eindruck machte das Treffen damals auf den Archivar? Er schließt aus, dass es sich um einen Scherz handeln könnte. Antonín Sum sei ein ernsthafter Mensch, und das Erbe der Masaryk sei für ihn unantastbar gewesen, so Křesťan:

„Ich hatte den Eindruck, dass er sich des Ernstes des Augenblicks bewusst war. Dennoch übergab er mir den Umschlag auf diesem inoffiziellen Weg, er wollte ihn nicht etwa dem Direktor überreichen. Ich wusste also, dass er sich in irgendeiner Weise verpflichtet fühlte und dass es ihm einfach wichtig war, dass die Botschaft erhalten bleibt. Aber er und Masaryks Enkelinnen waren sich damals einig, dass die Zeit noch nicht gekommen sei, den Inhalt zu veröffentlichen.“

Alice und Jan Masaryk mit ihrer Mutter Charlotte | Foto: APF Tschechischer Rundfunk

Drei Menschen kannten den Inhalt des Umschlags: die beiden Schwestern Anna und Herberta Masaryková, die bereits 1996 starben, sowie Antonín Sum, der 2006 starb. Heute sind wir nur auf Vermutungen und Hypothesen angewiesen. Ein beliebtes Thema, über das bei Tomáš Garrigue Masaryk spekuliert wird, betrifft die Frage nach seiner Herkunft. Zweifel bestehen, dass Hodonín / Göding in Südmähren sein Geburtsort ist. Zudem wird immer wieder gemunkelt, Masaryk könnte ein Sohn des Habsburger Kaisers Franz Joseph gewesen sein. Über solche Vermutungen kann der Historiker nur lächeln:

„Ich drücke unseren Freunden in Kopčany in der Slowakei die Daumen, dass endlich herauskommt, dass Tomáš Garrigue Masaryk nicht in Hodonín geboren wurde, sondern in einem Haus in Kopčany, in dem die Familie Masaryk tatsächlich eine Zeit lang gelebt hat. Viele freuen sich auch darauf, dass sich Masaryk in dem Brief bei seinem angeblichen Vater Franz Joseph I. für die Zerschlagung der Monarchie entschuldigt. Aber das sind reine Spekulationen. Wenn in dem Dokument irgendwelche heiklen Dinge stehen würden, ist es ohnehin fraglich, ob die Enkelinnen und Antonín Sum es aufbewahrt hätten. Ich denke eher nicht.“

T. G. Masaryk war ein politischer Mensch, und so ist es laut dem Historiker wahrscheinlich, dass er sich vor seinem Tod Gedanken über das künftige Schicksal seines Landes und dessen politische Ausrichtung gemacht hat. Er muss wahrgenommen haben, wie sich die internationale Lage verschlechterte, meint Křesťan. Und er räumt ein, etwas Angst zu haben vor der Öffnung des Umschlags:

„Ein Mensch in einer solchen Situation wie Masaryk, der eine Bestandsaufnahme seines Lebens macht, dürfte vielleicht seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck bringen, wie die Dinge um ihn herum laufen. Ich fürchte, dass seine Botschaft nicht ermutigend gewesen ist. Masaryk hatte eine kritische Natur und war sein ganzes Leben lang gewohnt, zu kämpfen und die Wahrheit laut auszusprechen. Daher dürfte seine Bilanz jenen Politikern, die die Republik damals regierten, wahrscheinlich nicht gerade geschmeichelt haben. Einige von ihnen, und das waren nicht nur Deutsche oder Ungarn, begannen damals mit dem Gedanken zu liebäugeln, faschistische Werte zu übernehmen. Das war etwas, was Masaryk noch bis zu seinem Ende verfolgte. Er war besorgt um das Schicksal der Tschechoslowakei, und seine Befürchtungen wurden ja bald nach seinem Ableben wahr.“

19. September 2025: Das Geheimnis wird enthüllt

Das Geheimnis des Umschlags wird am 19. September dieses Jahres enthüllt. Dieser Tag ist mit keinem Masaryk-Jahrestag verbunden, wie man oft denkt, sondern…

„Es werden wirklich genau 20 Jahre her sein, seit Antonín Sum mir diesen Umschlag in die Hand drückte. Wir wollen es etwas festlich veranstalten. Ich kann schon verraten, dass der Umschlag in Lány aufgemacht wird, dem Ort, an dem Tomáš Garrigue Masaryk gestorben ist.“