Vergessener Kämpfer für die Rechte von Blinden: Zum 100. Todestag von Karel Emanuel Macan
Der 1858 geborene Karel Emanuel Macan verlor in jungen Jahren sein Augenlicht. Zeitlebens setzte er sich für die Selbstständigkeit von Blinden und Sehbehinderten ein. Ein Magazin in Brailleschrift, das er begründete, erscheint sogar heute noch in Tschechien. Macan war aber auch ein begabter Komponist und leidenschaftlicher Esperanto-Sprecher. Im Folgenden erinnern wir an das Leben des beeindruckenden Mannes, der vor genau 100 Jahren – am 6. Februar 1925 – gestorben ist.
Wer auf dem Ehrenfriedhof auf dem Prager Vyšehrad spazieren geht, trifft auf die Gräber vieler bedeutender Persönlichkeiten. Der Komponist Bedřich Smetana, der Maler Alfons Mucha, die Schriftstellerin Božena Němcová – das Who is Who der tschechischen Kultur, Gesellschaft und Politik hat hier ihre letzte Ruhestätte gefunden.
Unter den Beigesetzten finden sich aber auch Menschen, die der Öffentlichkeit kaum bekannt sind, die allerdings nicht weniger große Verdienste in ihrem Tätigkeitsfeld hatten. Einer von ihnen ist Karel Emanuel Macan. Auf seinem Grabstein steht das Sterbedatum 6. Februar 1925.
Macan war Komponist, er war Propagator der Sprache Esperanto, hatte aber auch darüber hinaus große Verdienste.
„Er hat sich wie kein Zweiter dafür eingesetzt, dass Sehbehinderte selbständig durch den Alltag gehen können“, sagt Briana Čechová. Sie leitet die nach Karel Emanuel Macan benannte Bücherei und Druckerei für Blinde (KTN) in Prag.
Begnadeter Komponist
Geboren wird der Kämpfer für die Gleichstellung Sehbehinderter am ersten Weihnachtsfeiertag 1858 in Pardubice. Der Vater ist Eisenbahnbauherr, und der kleine Karel ist zunächst ein gesundes Kind…
„Er konnte sehen, bis er zwölf Jahre alt war. Dann kam es aber zu einem unglücklichen Zwischenfall. Karel fand in der Schublade seines Vaters eine Sprengkapsel. Er nahm sie mit auf die Pawlatsche, klopfte mit einem Hammer darauf herum, was Kinder eben so tun. Allerdings flog dabei ein Splitter direkt in sein eines Auge, auf dem er später blind wurde. Das zweite Auge war zunächst noch gesund, er belastete es in der Schule aber sehr und verlor dadurch teils die Orientierung. Es kam zu einem weiteren Unfall, durch den er schließlich komplett sein Augenlicht verlor.“
Da ist Macan 19 Jahre alt und bereits Student der Chemie an der Technischen Universität in Prag. Um nicht in eine Depression zu verfallen, hilft ihm vor allem eines: die Musik. Macan nimmt Orgelstunden in Prag, später lernt er Komposition bei niemand geringerem als bei Zdeněk Fibich. Schon bald muss Macan aber feststellen, dass er von der Musik alleine nicht leben kann.
„Sein musikalisches Œuvre ist sehr groß. Wegen seiner Zweifel traf er sich aber mit dem Direktor der von Alois Klar gegründeten Blindenanstalt in Prag. Er bekam eine Stelle angeboten und lernte daraufhin schnell alles für den Job Nötige. Er brachte sich die Brailleschrift bei und besuchte in Wien einen Kurs für Lehrer an Blindenschulen. 1891 trat er die Stelle in der Anstalt an.“
Wie Čechová schildert, geht Macans Anstellung dort mit dem Versprechen einher, sich nicht mehr der Musik zu widmen, sondern sich nur noch um blinde Menschen zu kümmern. Daran hält sich Macan auch in weiten Teilen. Einige Lieder schreibt er aber dennoch. Und auch sein bekanntestes Werk, das Streichquartett in f-Moll, stammt aus der Zeit seiner Anstellung in der Anstalt, genauer aus dem Jahr 1899.
Esperanto-Kurse für Blinde
Doch neben seinen Ausflügen in die Musik konzentriert sich Macan seit dem Anfang der 1890er Jahre vor allem auf die Blindenanstalt. Gleich zu Beginn seiner Anstellung dort sei ihm aufgefallen, dass keine Literatur für die Sehbehinderten vorgelegen habe, sagt Čechová. Gemeinsam mit der Unterstützung von Freunden beginnt Macan deshalb, Bücher in Brailleschrift zu übertragen. Und er bringt später auch eine tschechischsprachige Zeitschrift in dieser Punktschrift heraus: die „Zora“. 1917 erscheint die erste Ausgabe. Auslöser für Macans Engagement ist dabei auch eine besondere Beobachtung:
„Den deutschen Zöglingen standen bereits Zeitschriften und Bücher in Blindenschrift zur Verfügung. Karel Emanuel Macan wollte deshalb den tschechischen Kindern das Gleiche bieten.“
Macan ist aber auch daran gelegen, die in weiten Teilen der Bevölkerung bestehende Spannung zwischen Deutschen und Tschechen zu beruhigen. Seinen Schützlingen bringt er deshalb eine neue, gemeinsame Sprache bei: Esperanto.
„1904 hat er dort seinen Esperanto-Kurs angeboten, der einer der ersten für Blinde überhaupt war“, sagt Briana Čechová.
Macan setzt sich aber nicht nur dafür ein, dass tschechische und deutsche Blinde durch Esperanto miteinander kommunizieren können. Ab 1920 gibt er auch die Zeitung „Auroro“ heraus, die auf Esperanto in Brailleschrift erscheint. Und sein Engagement geht noch weiter:
„1921 organisierte er das erste Treffen blinder Esperantisten. Seitdem findet jedes Jahr beim Esperanto-Weltkongress auch ein Treffen blinder Sprecher der Sprache statt.“
Der Traum von einer öffentlichen Blindenbibliothek
Zeitlebens hegte Karel Emanuel Macan einen großen Wunsch: Er wollte eine öffentliche Bibliothek für Menschen mit Sehbehinderung einrichten. Realisiert wurde dieses Vorhaben aber erst 1926 – ein Jahr nach Macans Tod.
„Schon seit dieser Zeit hat die Bibliothek seinen Namen, da die Idee eben von ihm kam“, so Čechová, die die Bibliothek heute leitet.
5000 Leser sind aktuell eingetragen. Die Bücher werden auch an Partnerbibliotheken versandt, über die man sich Werke ausleihen kann. Finanziert wird die Bücherei vom tschechischen Kulturministerium. Und in der hauseigenen Druckerei werden jährlich etwa 50 bis 60 Titel in Brailleschrift erstellt.
„Wir haben hier aber auch drei Tonstudios, in denen wir Hörbücher aufnehmen. Denn aufgrund einer gesetzlichen Ausnahmeregelung dürfen wir für unsere Leser jedes Buch einlesen, ohne uns mit Autorenrechten befassen zu müssen.“
150 Hörbücher würden so im Jahr entstehen, sagt Čechová. In der Druckerei werden zudem Reliefgrafiken angefertigt, also „Illustrationen“ für Bücher, die mit den Fingern fühlbar sind.
Die in Brailleschrift veröffentlichten Titel können sich die Leser in der Bücherei persönlich ausleihen, sie werden aber auch per Post versandt. Inhaltlich decken die Bücher alles ab, was es auch in einer klassischen Bibliothek zu finden gibt: Krimis, zeitgenössische Romane, Biographien, Kinderliteratur.
Smartphones sorgen für schwindendes Interesse an Brailleschrift
Gedruckt werden am Sitz unweit des Prager Wenzelsplatzes aber auch Zeitschriften – unter anderem die „Zora“. Denn die erscheint 108 Jahre nach der Gründung durch Karel Emanuel Macan immer noch. Herausgeber ist mittlerweile der tschechische Blinden- und Sehbehindertenverband SONS. Briana Čechová hat auf ihrem Schreibtisch eine Ausgabe liegen – allerdings liegt dort nicht nur die große weiße Version mit den für die Brailleschrift charakteristischen Punkten…
„Die Zeitung erscheint heute immer noch in Punktschrift, aber auch als Hörbuch. Zudem gibt es eine Ausgabe für Menschen, die noch eine Restsehfähigkeit besitzen. Die Schrift ist dabei besonders groß.“
Was allerdings die Ausgabe zum Abtasten und das Interesse ganz allgemein an Literatur in der Blindenschrift angeht, muss Čechová ein sinkendes Interesse feststellen. Denn heute, 200 Jahre nachdem Louis Braille seine Punktschrift erfunden hat, gibt es Smartphones und Computer. Digitale Endgeräte können mittels spezieller Apps etwa erkennen, welchen Gegenstand man in die Kamera hält, zum Beispiel, ob es sich um einen Zehn- oder einen Zwanzigeuroschein handelt. Es gibt auch Programme, die blinde Menschen und eine Community freiwilliger sehender Helfer miteinander in Verbindung setzen. So kann etwa aufgeklärt werden, wie warm ein Kleidungsstück gewaschen werden darf oder für was die Knöpfe auf der Fernbedienung gut sind. Und mittels Handy und Software können eben auch Texte vorgelesen werden.
„Zumindest grundlegende Kenntnisse der Brailleschrift sind für blinde Menschen aber nach wie vor sehr wichtig. Wir Sehenden merken das zwar gar nicht, aber Blindenschrift ist überall um uns herum.“
So etwa in Bussen und Zügen, an Handläufen, in Fahrstühlen oder auf Medikamentenverpackungen. Briana Čechová will die Nützlichkeit neuer Technologien für Blinde und Sehbehinderte nicht in Abrede stellen. Sie fordert aber auch dazu auf, dass Erlernen der Brailleschrift weiter zu fördern.
„Ich halte das wirklich für wichtig für die Alphabetisierung. Und genau darum ging es auch Karel Emanuel Macan. Er wollte, dass blinde Menschen selbstständig und unabhängig sind, alphabetisiert. Wenn man aber immer nur zuhört, dann ist man das nicht wirklich.“