Overtourismus und schrumpfende Biodiversität: Nachhaltiger Tourismus in Tschechien wird mit Schweizer Geldern gefördert
Wer sich in den Sommerferien schon einmal als einer von Tausenden Lemmingen auf die Schneekoppe – Tschechiens höchsten Berg – hochgeschoben hat oder Schlange stand, um einen Blick auf das Prebischtor in der Böhmischen Schweiz zu werfen, der hat eine Ahnung davon bekommen, was Overtourismus bedeutet. Und vielleicht hat er sich auch Gedanken gemacht, was diese Menschenmassen für die Tiere und Pflanzen, die Bodenbeschaffenheit oder den Zustand der umliegenden Flüsse bedeuten. Gerade wurde in Tschechien ein Förderprogramm gestartet, das auf einen nachhaltigen Tourismus sowie die Stärkung der hiesigen Biodiversität abzielt. Finanziert wird es mit Geldern aus der Schweiz.
Zwei Binnenländer, deren reiche Natur sowohl einheimische als auch ausländische Besucher in großer Zahl anzieht. So könnte man knapp zusammenfassen, was Tschechien und die Schweiz in puncto Tourismus verbindet. Da liegt eine gegenseitige Unterstützung nahe. Diese besteht seit langem, und am Donnerstag vergangener Woche wurde die zweite Runde des Programms Schweizer-Tschechische Zusammenarbeit eröffnet. Urs Bucher ist Schweizer Botschafter in Prag und sagte gegenüber Radio Prag International:
„Diese Zusammenarbeit hat eine ganz hohe Bedeutung besonders deshalb, weil wir in der glücklichen Lage sind, dass es zwischen der Schweiz und der Tschechischen Republik auf der bilateralen Agenda keine Probleme gibt. Es gibt aber jede Menge gemeinsamer Interessen, und das bei der Bewältigung aller möglicher Zukunfts- und Gegenwartsprobleme, die wir haben. Der heutige Tag ist genau ein Beispiel dieser Zusammenarbeit. Nachhaltiger Tourismus ist ein Thema, das beide Länder beschäftigt. Wir können dabei sehr gut voneinander lernen.“
Dafür finanziert das Partnerland nun mit knapp 77 Millionen Schweizer Franken (82,7 Millionen Euro) neue Projekte in Tschechien, die den Naherholungs- und Fremdenverkehr ökologischer machen und die hiesige Natur schützen sollen. Möglich macht dies der sogenannte Zweite Schweizer Beitrag, mit dem ausgewählte EU-Mitgliedstaaten unterstützt werden. Er sei eingerichtet worden, so die offiziellen Dokumente, um soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten in der EU zu vermindern.
Tschechien ist eines von insgesamt 15 Ländern, die in den Genuss der Schweizer Mittel kommen. Die Prager Regierung hatte bereits aus dem Ersten Schweizer Beitrag der Jahre 2009 bis 2016 schöpfen können. Und an diese Erfahrungen knüpfe man nun an, sagte bei der Auftaktkonferenz vergangene Woche Michal Servus. Der Oberdirektor der Sektion Natur- und Landschaftsschutz beim tschechischen Umweltministerium führte anschließend aus, wie die beiden Schwerpunkte des neuen Programms in Verbindung stehen:
„Tschechien gehört zu dem europäischen System, in dem es durch die fortschreitende Industrialisierung, die Zunahme der Firmensitze und weitere menschliche Aktivitäten zu einer starken Fragmentierung der Landschaft kommt. Damit hängt oft ein Rückgang der Biodiversität zusammen. Als ein zweites Phänomen, das sich dem anschließt, begeben sich die Menschen oft in geschützte Gebiete, um dort zu genießen, was sie in den industrialisierten Gegenden nicht mehr finden. Damit ist der Begriff Overtourismus verbunden.“
Gibt es in Tschechien Overtourismus?
Inwieweit es in Tschechien ein Problem mit Besuchermassen gibt, legten bei der Konferenz mehrere Vertreter der staatlichen Agentur CzechTourism dar. Tereza Kadlecová ist als Produktmanagerin für Nachhaltigkeit zuständig und schilderte im Interview:
„Schon jetzt ist erkennbar, dass es an einigen Orten zu bestimmten Zeiten – vor allem in der Hauptsaison – zu Overtourismus kommt. Dort ist die Infrastruktur überlastet. Die Leute finden keinen Parkplatz mehr und stellen das Auto dann vor den Wohnhäusern der örtlichen Bevölkerung ab – und diese ist dann verärgert. Das Problem sind die Tagesbesucher: Sie kommen nur für einen Tag dorthin, nutzen zu 100 Prozent die Infrastruktur und fahren abends wieder ab. Damit beteiligen sie sich nicht an einem möglichen positiven wirtschaftlichen Effekt. Die Anwohner haben nichts davon, und damit erhöht sich deren Unmut.“
Eine Datenanalyse von Kadlecovás Kollegen belegte, dass die höchsten Besucherzahlen im Riesengebirge verzeichnet werden. Dort werden laut CzechTourism zur Hochsaison 919.000 Urlauber und 1,9 Millionen Tagesausflügler registriert. Im flächenmäßig größten Nationalpark hingegen, dem Böhmerwald, sind etwa nur halb so viele Menschen unterwegs.
Weiter hieß es, dass in allen beliebten Touristenzielen Tschechiens die Besucherzahlen von Jahr zu Jahr steigen, und das teilweise im zweistelligen Prozentbereich. Um die nötige Infrastruktur besser anpassen zu können, sollen mit den nun ausgeschriebenen Projektgeldern im Rahmen des Zweiten Schweizer Beitrags genauere Dokumentationen erstellt werden. Vorgesehen sei zum Beispiel eine Datenbank zum Verhalten der Ausflügler und Urlauber, informiert Jan Kříž. Er leitet beim Umweltministerium die Sektion Umweltökonomie:
„An den vielbesuchten Orten stehen bereits einige Dokumentationen zur Verfügung. Aber zur Auslastung einzelner Parkplätze etwa gibt es keine Daten. Daran muss gearbeitet werden, und das Programm soll beitragen, moderne Regulierungsmethoden in den beliebten Lokalitäten einzuführen. Die Schweizer Seite hat damit viel Erfahrung aus ihren Nationalparks und Naturschutzgebieten. Darum bietet es sich an, das Know-how von ihrer Seite zu übernehmen. Damit wollen wir in Tschechien Pilotprojekte starten, die uns helfen, Lösungen für die vielbesuchten Touristenziele zu finden.“
Geplant sind Kříž zufolge genaue Datenerhebungen oder auch die Einrichtung von Besucherzentren, die nicht nur über nachhaltigen Tourismus informieren, sondern selbst möglichst wenig Wasser und Energie verbrauchen sowie Müll vermeiden. Seit vergangener Woche nimmt das Ministerium also entsprechende Projektvorschläge an, auf die die Schweizer Gelder ab kommendem Jahr verteilt werden sollen. Jedes ausgewählte Vorhaben wird mit mindestens 70 Millionen Kronen (2,8 Millionen Euro) gefördert. Diese großzügige Finanzierung gebe etwa Nationalparkverwaltungen, Gemeindevertretern oder auch NGOs Raum für neue Strategien und komplexe Entwürfe, betont Kříž. Die Pilotprojekte sollten eine Laufzeit von drei bis fünf Jahren haben und auch eine anhaltend nachhaltige Entwicklung in der Zeit danach ermöglichen.
Was nun aber die genauen Anforderungen überhaupt sind, erläutert Tereza Kadlecová:
„Nachhaltiger Tourismus hat viele Aspekte. Dabei muss ein Dreieck in der Balance gehalten werden, das aus der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Nachhaltigkeit besteht. Es muss zum Beispiel auch die Stimme der Unternehmer in Erwägung gezogen und nicht nur auf den Naturschutz Rücksicht genommen werden. Mit einem rein ökologischen Standpunkt könnte es nämlich passieren, dass aus der Landschaft eine Art Museum wird. Dann gibt es dort keine Arbeitsplätze mehr, und die Menschen wandern aus der Region ab. Die soziale Säule beinhaltet etwa auch einen zugänglichen Tourismus, der also auch für Menschen mit einer Behinderung möglich ist.“
Wildtierpassagen und natürliche Wasserläufe
Im Förderprogramm des Zweiten Schweizer Beitrags ist eine verträglichere Verteilung – geografisch und zeitlich – der Touristen nur eine von zwei Säulen. Ebenso soll die Naturlandschaft Tschechiens belebt und zusammengehalten werden. Jan Kříž beschreibt mögliche Projektvorhaben:
„Wir erwarten interessante Lösungsvorschläge für den Rückbau der Fragmentierung der Landschaft, der mit dem Stichwort Stärkung der Biodiversität gemeint ist. Vor allem ist eine Verringerung oder Beseitigung von künstlichen Barrieren nötig, die die Bewegung von Lebewesen behindern. Das sind etwa querlaufende Hindernisse in Wasserläufen. Es geht aber auch um die Errichtung von Wildtierpassagen oder Grünbrücken. Angedacht sind außerdem komplexere Projekte zur Revitalisierung von Wasserläufen, denn zum Beispiel Flussbetten aus Beton sind an sich schon ein Hindernis für Tiere. Wenn es nun also Projekte zur Wiedererrichtung von ursprünglichen Flussbetten geben wird, dann bedeutet dies eine Verringerung der Fragmentierung und eine Stärkung der Korridore für Tiere.“
Um all dies in den nächsten Jahren umzusetzen, gibt die Schweiz nicht nur Geld, sondern stellt auch ihr Wissen aus einer langjährigen Erfahrung zur Verfügung. Wie bei der Konferenz informiert wurde, sei das Netzwerk Schweizer Pärke in das Förderprogramm einbezogen und werde eng mit den ausgewählten Projektanten zusammenarbeiten. Und weiter sagt Botschafter Bucher:
„Ich war nach der heutigen Präsentation der tschechischen Studien sehr beeindruckt vom Datenmaterial, das den hiesigen Behörden zur Verfügung steht, um das Phänomen des nachhaltigen Tourismus überhaupt zu erfassen. Es ist von Overtourismus die Rede, und dies wird ganz genau mit wissenschaftlichen Daten belegt, wo welche Phänomene stattfinden. Ich denke, allein schon die Frage der Datenerhebung ist ein Thema, bei dem die Schweiz ganz bestimmt von Tschechien lernen kann.“
Neben dem inhaltlichen Austausch stellt sich aber dennoch die Frage, ob die tschechische Regierung selbst den Naturschutz im Land nicht ausreichend finanziert, sodass ausländische Zuschüsse nötig sind. Dazu Jan Kříž:
„Aus dem Staatshaushalt wird der Betrieb der zentralen Einrichtungen finanziert, wie etwa die Nationalparks oder die Agentur zum Natur- und Landschaftsschutz, die die Landschaftsschutzgebiete verwaltet. Dies sind jedes Jahr keine geringen Beträge, die aus dem Etat kommen müssen. Und es ist gut, dass sie dort enthalten sind. Investitionsmittel wiederum, die für die Errichtung der Besucherinfrastruktur oder den Erhalt der Biodiversität eingesetzt werden, kommen für kleinere Projekte auch aus dem Staatshaushalt. Aber zum großen Teil stammen sie in den vergangenen Jahren aus europäischen Quellen.“
Dazu gehörten auch Nationalfonds wie etwa der Schweizer Beitrag, sagt Kříž. Und er fügt hinzu, dass an solchen Strukturmitteln trotzdem langfristig ein Mangel bestehe und beim Umweltministerium stets mehr Projektanträge eingingen, als realisiert werden könnten.
Im Rahmen des Zweiten Schweizer Beitrages gibt es im kommenden Jahr im Übrigen noch eine weitere Ausschreibung. Diese fördert kleinere Projekte dann in einem Rahmen von 500.000 bis fünf Millionen Kronen (19.800 bis 200.000 Euro). Nach Ansicht von Botschafter Bucher könnten die Gelder am Ende als gut investiert bezeichnet werden, wenn Tschechien von möglichst vielen Leuten entdeckt werden könne – aber eben in einer Art und Weise, die den Umweltaspekten Rechnung trage. Und wie hält der Diplomat es selbst bei seinen Ausflügen und Urlauben in Tschechien? Besichtigt er die beliebten Touristenziele oder eher Geheimtipps?
„Ich bin erst seit zwei Monaten in diesem Land. Ich muss gestehen, ich hatte eigentlich die Absicht, an den ersten beiden Wochenenden Prag zu entdecken, und mich dann auf das Land zu wagen und die weniger bekannten Schönheiten zu erkunden. Nun ist Prag aber eine so unerschöpfliche Fundgrube von Schönheiten aller Art – inklusive derjenigen, die als Orte des Massentourismus gelten –, dass ich mich noch nicht davon gelöst habe. Im Moment können Sie mich also durchaus an einem Touri-Hotspot sehen, und das mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Es lohnt sich, die kleinen damit verbundenen Nachteile in Kauf zu nehmen.“