Politologe Schuster: Kabinett kann nicht kommunizieren, Vertrauen der Öffentlichkeit ist verloren
Vor einem Jahr wurde der erste Corona-Fall in Tschechien bekannt. Wie sich die Lage seitdem entwickelt und die Regierung in Prag die Pandemie bewältigt hat, das erläutert der Politologe und frühere Mitarbeiter von Radio Prag International, Robert Schuster.
Robert, vor einem Jahr wurden die ersten Corona-Fälle in Tschechien bestätigt. Können Sie auf das vergangene Jahr zurückblicken? Was hat dazu geführt, dass sich Tschechien zurzeit in einer derart schwierigen Corona-Lage befinde? Denn im März 2020 hatte das Regierungskabinett noch verhältnismäßig schnell reagiert…
„Erstens muss man sagen, dass das zwei völlig unterschiedliche Welten waren und sind. In der ersten Pandemie-Welle ist Tschechien relativ glimpflich davongekommen. Die Infektionszahlen waren nicht so dramatisch wie jetzt, auch die Belegung der Intensivbetten in den Krankenhäusern war nicht am Limit, wie wir das jetzt sehen. Und dann auf einmal in der zweiten Jahreshälfte 2020 begann zuerst ein langsamer, aber dann immer stärkerer Anstieg der Fallzahlen bis eben heute, da die Lage außer Kontrolle geraten ist. In dieser Hinsicht muss man sagen, dass die Regierung es nicht geschafft hat, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Zugleich gilt, dass viele Länder, die im Frühjahr 2020 noch gut dastanden, dann auf einmal während der zweiten Welle gewisse Schwierigkeiten hatten, die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Es ist nicht nur ein tschechisches Phänomen. In vielen der erfolgreichen Länder hat man sich etwas auf den Lorbeeren ausgeruht und im Sommer und Herbst nicht die notwendigen Hausaufgaben gemacht, die den dramatischen Anstieg verhindert hätten.“
Aber schon im Sommer haben einige Abgeordnete hierzulande darauf aufmerksam gemacht, dass das Land auf eine zu erwartende zweite Corona-Welle nicht vorbereitet sei. Warum hat das Regierungskabinett nicht reagiert?
„Ich denke, es beginnt schon mit dem Begriff der zweiten Welle. Man hat ganz einfach inmitten des Sommers nach dem Urlaub, den viele in Kroatien und auch anderswo verbracht haben, Angst gehabt, den Begriff ,zweite Welle‘ zu verwenden. Man hat sich sehr lange davor gedrückt, man hat es nicht wahrhaben wollen, dass dieser Anstieg, der auch durch die Öffnung der Schulen im September verursacht wurde, bereits diese zweite Welle ist. Hätte man damals derart radikal eingegriffen wie im März 2020, dann wären wir in Tschechien nicht dort, wo wir jetzt sind. Da kann man schon von einem Versäumnis der Regierung, der Verantwortlichen sprechen. Man hätte vieles besser machen können. Aber nun ist die Lage so, dass man kaum noch eine andere Möglichkeit hat, als das Land komplett zuzusperren, wenn ich das so sagen darf.“
Welche Rolle spielte bei diesem Versäumnis der Wahlkampf vor den Regionalwahlen, die im Oktober stattfanden?
„Natürlich wollte die Regierung nicht die Rolle desjenigen einnehmen, der alles verbietet. Das war durchaus ein Motiv, warum die Regierung so zögerlich war und sich gescheut hat, von einer beginnenden zweiten Welle zu sprechen. Zugleich hat sich auch ein strukturelles Problem gezeigt, und zwar ist Tschechien im Vergleich zu Deutschland ein sehr zentralistisch organisierter Staat. Was die Regierung in Prag beschließt, das wird bis auf die unterste Ebene, bis in jede Gemeinde durchexerziert. In Deutschland beispielsweise muss die Bundeskanzlerin mit den Bundesländern eine Art Kompromiss finden, in einen Dialog treten. Das fehlt mir in Tschechien zwischen der Regierung und den Kreisregierungen mit ihren Hauptleuten. Hätte man dieses Modell schon im Sommer oder im Frühjahr etabliert, das heißt einen regelmäßigen Austausch, eine gewisse Koordination und Kommunikation, dann wären wir nicht dort, wo wir jetzt sind.“
Die Kommunikation des Kabinetts wurde und wird oft kritisiert. So heißt es, die Corona-Maßnahmen änderten sich von einem auf den anderen Tag, sie wurden nicht erläutert und begründet. Zudem haben die Gesundheitsminister im vergangenen Jahr gleich zweimal gewechselt. Fehlt hierzulande zudem nicht eine solche Institution wie das Robert-Koch-Institut?
„Ja sicherlich. Eine Kontinuität an der Position des Gesundheitsministers in den Krisenzeiten ist die Grundvoraussetzung dafür, dass die Öffentlichkeit Vertrauen gewinnt. Wenn es in einem solch zentralen Amt immer wieder zum Personalwechsel kommt, wenn die Minister, die wichtigsten Berater gehen und kommen, dann führt das bei den Menschen zu großer Unsicherheit. Man betreibt da eine Art Vergeudung von Persönlichkeiten, denn in diesen Beratergremien sind viele Experten für Pandemie-Bekämpfung, die dann mit einem neuen Gesundheitsminister vertrieben werden. Dies ist natürlich schlecht, und das ist ein Grundproblem. Sicherlich etwas wie das deutsche Robert-Koch-Institut, das von allen Seiten anerkannt wird, eine Lösung. Das ist jetzt auf die Schnelle nicht zu schaffen. Für die Zukunft wäre eine überdachende Institution sehr wichtig und hilfreich.“
Das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung ist im Verlauf dieses einen Jahres aus unterschiedlichen Gründen, von denen einige auch schon genannt wurden, stark gesunken. Spielt auch dies eine Rolle in der jetzigen Lage?
„Ja, das Vertrauen ist verlorengegangen. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass diese Regierung nicht sonderlich stark ist. Es ist ein Minderheitskabinett und muss sich die Mehrheiten suchen. Da kann es dann passieren, dass das Kabinett verschiedenen Forderungen der Opposition ausgeliefert ist, auf die es dann im einen Fall eingeht, im anderen wieder nicht. Auch deswegen ist das Management der Pandemie hierzulande nicht geglückt. Zudem wird zu wenig mit den Kreishauptleuten kooperiert.“
In diesen Tagen wird immer wieder gefordert, wenigstens einen Teil der Industrieunternehmen beispielsweise für zwei Wochen zu schließen, damit sich nicht wie bisher Corona an den Arbeitsplätzen verbreitet. Warum traut sich das Kabinett nicht, diesen Schritt zu machen?
„Das ist eine zweischneidige Sache. Einerseits will man die Bevölkerung maximal schützen, man schränkt die Bewegungsfreiheit ein und kontrolliert dies an den Außengrenzen der Bezirke. Andererseits ahnt man, dass ein kompletter Lockdown katastrophale Folgen für die Wirtschaft haben könnte. Vor diesem Dilemma standen auch andere Länder. Es ist nicht eindeutig, ob man besser alles für zwei oder drei Wochen schließt oder die Grundpfeiler der Wirtschaft am Laufen zu lassen. Das einzige Ziel muss sein, so viel und so schnell wie möglich zu impfen, damit man die ganzen Debatten über Lockdowns und deren Sinnhaftigkeit abhaken kann.“
Wie sehen die Deutschen Tschechien, nachdem sich die Lage so stark verschlechtert hatte?
„Man versteht das einfach nicht. Erstens weiß man nicht, wo der Fehler gemacht wurde, dass die Situation in Tschechien so stark eskaliert ist. Zu Ende des Jahres 2020, an Weihnachten, waren die Zuwachsraten in Deutschland und Tschechien und nicht so weit voneinander entfernt. Natürlich muss man auch die unterschiedlichen Bevölkerungszahlen berücksichtigen. Wenn man dies miteinberechnet, war die Lage relativ vergleichbar. Mit Jahresbeginn ist die Schere auf einmal in dem Sinne sehr stark auseinandergegangen, dass es in Tschechien noch dramatischer wurde. Und man versteht vom deutschen Standpunkt aus nicht, warum das passieren konnte. Und noch weniger leuchtet ein, dass über Wochen bestehend Hilfsangebote der Krankenhäuser beispielsweise in Oberfranken und in Sachsen nicht angenommen werden. Unklar ist, ob dahinter nicht vielleicht irgendwelche nationalistischen Stereotype stecken oder man auch das eigene Scheitern nicht eingestehen will. Auf der anderen Seite ist wichtig, dass diese Angebote bestehen und ebenso die angekündigte Lieferung von mehreren Tausend Impfdosen aus Deutschland nach Tschechien. Eine solche Geste ist sicher sehr hilfreich, auch wenn es vielleicht nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Aber jede Impfdose, die zusätzlich ins Land kommt, ist eine gute Sache.“