In Prag fanden sie Schutz vor dem Krieg: Ukrainische Studentinnen an der Prager Kunstakademie

Unter den Geflüchteten aus der Ukraine, die während des letzten Jahres in Tschechien Zuflucht fanden, sind auch viele Studenten. 27 von ihnen begannen in den vergangenen Monaten, an der Prager Akademie der bildenden Künste zu studieren. Radio Prag International hat mit zwei der Kunststudentinnen, die nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs nach Tschechien flüchteten, gesprochen.

Anastasia Lisnycha | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Anastasia Lisnycha stammt aus Odessa. Als der Krieg begann, studierte sie in ihrer Heimatstadt Bildhauerei. Ich treffe die Studentin in den grafischen Werkstätten der Prager Kunstakademie. Tschechisch lerne sie erst seit vier Monaten, sagt sie zuerst, als ob sie sich entschuldigen möchte. Aber mit ihren Tschechisch-Kenntnissen sei sie auf einem guten Weg, betont sie:

„Als ich im März nach Prag kam, begann ich nicht gleich Tschechisch zu lernen, denn ich dachte, ich würde bald wieder in die Ukraine zurückkehren. Aber im September fing ich dann schnell mit den Tschechisch-Kursen an.“

Prager Kunstakademie | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

In Prag sei sie einen Monat nach dem Kriegsbeginn, am 23. oder 24. März, eingetroffen, erzählt sie:

„Ich wollte eigentlich schon vorher wegreisen, aber dachte, es sei zu schwierig. Ich hatte zuerst nicht die Kraft, zu flüchten. Unter den Kunstschulen in Europa versuchte ich eine zu finden, an der ich weiter studieren könnte. Intuitiv entschied ich mich, an die Prager Kunstakademie zu schreiben. Und sie antworteten mir, dass sie auf mich warten. Ich teilte ihnen mit, dass ich bald ankommen würde. Mit einem Evakuierungsbus reiste ich nach Polen. In Warschau übernachtete ich bei Bekannten von Freunden. Dann reiste ich mit der Bahn weiter nach Prag. Es war insgesamt eine lange Reise, die einige Tage dauerte. Die Prager Kunstakademie hatte inzwischen eine Familie gefunden, die mich aufnehmen konnte. Menschen von der Akademie warteten auf mich auf dem Bahnhof und brachten mich zu meiner Gastgeberfamilie.“

Wie fühlte sie sich in den ersten Tagen nach ihrer Anreise in Prag?

Anastasia Lisnycha | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

„Ich war hier ohne meine Eltern, hatte nichts, aber fühlte mich irgendwie geborgen – in Sicherheit. Die Familie, bei der ich wohnte, hat mich sehr unterstützt. Es war schön, zu fühlen, dass sich jemand um mich kümmert. Das half mir, mich an die neuen Bedingungen zu gewöhnen. Nach dem großen Stress war das vermutlich normal. Meine Familie lebt weiterhin in Odessa. Meine Mama hat mich damals zum Evakuierungsbus begleitet und mir auf Wiedersehen gesagt.“

Anastasia betont, ihre Muttersprache sei Ukrainisch. Sie sei jedoch in einer russifizierten Stadt aufgewachsen, merkt sie an. Doch das habe sich nach dem russischen Einmarsch geändert:

„Nach der Invasion begannen viele Menschen in Odessa, die zuvor russisch sprachen, ukrainisch zu sprechen. Das was für sie sehr wichtig.“

„Die Familie, bei der ich wohnte, hat mich sehr unterstützt. Es war schön, zu fühlen, dass sich jemand um mich kümmert. Das half mir, mich an die neuen Bedingungen zu gewöhnen.“

Bevor Anastasia Lisnycha nach Prag kam, studierte sie mehrere Jahre lang Bildhauerei in Odessa und zudem ein Semester an der Kunstakademie in Lwiw. Sie findet, es gebe einen großen Unterschied zwischen dem Studium in der Ukraine und in Tschechien. In ihrer Heimat konzentriert sich das Studium ihrer Ansicht nach auf die klassische Kunst, in Prag ist alles viel progressiver.

„Für mich war das eine spannende Erfahrung. Nach den Jahren dieses klassischen Studiums, fühlte ich mich nun nicht mehr wie ein Handwerker, der Kopien anfertigt, sondern wirklich wie jemand, der eigene Kunst kreieren kann. Während der ersten Führung durch die Prager Kunstakademie war ich schockiert: Man hat mir verschiedene Ateliers gezeigt, wo mit Holz, Metall oder Grafik gearbeitet wurde. Ich fühlte mich ein wenig wie ein Neandertaler. Vorher kannte ich nur Hammer und Säge. Wenn man hier in Prag Ideen für eine Skulptur hat, hat man auch entsprechende Möglichkeiten und das notwendige Werkzeug, um daran arbeiten zu können.“

Prager Akademie der Bildenden Künste | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Eine wichtige Ansprechpartnerin war für alle ukrainischen Studenten an der Akademie Anastasias Worten zufolge in den ersten Monaten Alice Nikitinová. Die Künstlerin mit ukrainischen Wurzeln, die schon lange in Tschechien lebt und arbeitet, half den Neuankömmlingen, ihre Kenntnisse im Bereich der Kunst zu erweitern…

„Wir lernten wirklich viel über die tschechische Kunst und auch über die Gegenwartskunst in der Welt. Die sozusagen moderne Kunst in der Ukraine stammt von der Mitte des 20. Jahrhunderts. Wir wussten aber recht wenig über die moderne Kunst in der Welt. Alice half uns allen sehr weiter. Wir haben etwa gemeinsam Museen besucht, auch außerhalb von Prag. Zudem organisierte Alice eine große Ausstellung, die im Hauptgebäude der Akademie stattfand. Die Mehrheit der ukrainischen Studenten nahm daran teil. Für mich war das eine wunderbare Erfahrung, meine Werke in Prag zu zeigen.“

„Aber derzeit ist es hart – kein Strom, Odessa wird ständig von den Drohnen bombardiert. Es ist schon normal, dass meine Mutter während des Telefongesprächs sagt, sie sehe gerade eine Drohne.“

Wenn Anastasia über das Kunststudium in Prag spricht, dann lebt sie ganz offensichtlich auf. Sorgen macht sie sich jedoch um ihre Familie in Odessa. In der Stadt gibt es, wie sie weiß, große Probleme mit der Energieversorgung. Der Strom fällt oft aus. Wenn es möglich ist, rufen ihre Eltern sie an, erzählt sie:

„Sie sagen mir, alles sei in Ordnung. Meine Eltern sind Menschen, die immer glücklich waren und gute Laune hatten. Nachdem der Krieg begann, sagten sie, es sei gut, dass sie am Leben seien und noch arbeiten könnten. Aber derzeit ist es hart – kein Strom, Odessa wird ständig von den Drohnen bombardiert. Es ist schon normal, dass meine Mutter während des Telefongesprächs sagt, sie sehe gerade eine Drohne. Ich bitte sie dann gleich, sich irgendwo zu verstecken. Aber dort, wo sie wohnt, gibt es keinen Luftschutzraum. Der Bunker ist viel zu weit weg, und meine Mutter hat kein Auto.“

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Die Studentin ist nicht nur um ihre Familie in Odessa besorgt, sondern auch um viele ihre Freunde und ehemaligen Kommilitonen…

„Meine Freunde, die vor dem Krieg Bildhauer, Maler oder Programmierer waren oder werden wollten, sind nun zumeist an der Front. Ich denke jeden Tag an sie. Sie sind alle etwa 22 Jahre alt. Ich bin glücklich, wenn ich weiß, dass sie am Leben sind. Ich hoffe, dass sie gesund zurück nach Hause kommen werden. Derzeit hat jede Familie jemanden an der Front. Einige meiner Freunde arbeiten auch als Freiwillige oder im medizinischen Bereich. In Gedanken bin ich immer bei den Jungs – gemeinsam unternahmen wir Wanderungen in den Bergen, und derzeit stecken sie irgendwo im Krieg.“

„In Gedanken bin ich immer bei den Jungs – gemeinsam unternahmen wir Wanderungen in den Bergen, und derzeit stecken sie irgendwo im Krieg.“

Anastasia betont, sie sehne sich danach, in die Ukraine zurückkehren zu können. Genauso wie andere ukrainische Studenten bekommt sie eine finanzielle Unterstützung vom tschechischen Bildungsministerium. Alle Studenten versuchen ihren Worten zufolge jedoch einen Job zu finden, um die Lebenshaltungskosten tragen zu können. Sie selbst hilft derzeit einer Bildhauerin. Dies sei wenigstens eine Arbeit, die mit ihrem Studium zusammenhänge, meint die Studentin. Ihre Kommilitonen arbeiten oft als Babysitter oder Reinigungskräfte. An der Kunstakademie in Prag gefalle es ihr sehr und sie wolle das Studium der Bildhauerei fortsetzen, sagt sie, ergänzt aber auch:

„Ich weiß nicht, was uns die Zukunft bringt. Nach alle dem, was passiert ist, kann ich keine großen Pläne haben, höchstens für den nächsten Monat. Der Krieg geht weiter – das dürfen die anderen Länder und Völker nicht vergessen. Die Ukraine braucht ihre Hilfe. Und wir Flüchtlinge brauchen auch eine mentale Unterstützung.“

Liza Goncharenko | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Genauso wie Anastasia ist auch Liza Goncharenko vor knapp einem Jahr nach Tschechien gekommen. Die Kunststudentin stammt aus der Stadt Kupjansk, die östlich von Charkiw liegt. Sie studiert ebenfalls an der Prager Kunstakademie. Tschechisch begann sie gleich nach ihrer Ankunft zu lernen, erzählt sie stolz,  als sie sich an die Flucht aus der Ukraine erinnert:

„Einen Monat nach Kriegsbeginn bestellte meine Mutter Plätze in einem  Evakuierungsbus. Gemeinsam mit ihr und mit meinen jüngeren Geschwistern reiste ich zuerst nach Warschau und von dort aus mit dem Zug nach Prag. Wir wurden in der Stadt Sedlčany untergebracht. Aber mittlerweile wohne ich in Prag und studiere an der Kunstakademie.“

Liza Goncharenko mit ihrem Linolschnitt | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

In Charkiw studierte Liza Videokunst. In Tschechien könnte sie das Studium in diesem Fach fortsetzen, Grafik und Zeichnung gefallen ihr jedoch mehr, räumt sie ein. Lizas Familie lebt weiterhin in Sedlčany:

„Sie haben dort eine Wohnung. Mein Bruder und meine Schwester gehen in der Stadt zur Schule. Sie beherrschen die tschechische Sprache schon ganz gut, weil sie sich mit ihren Schulkameraden auf Tschechisch unterhalten. Meine Mutter ist von Beruf eigentlich Pharmazeutin. Derzeit arbeitet sie in Tschechien jedoch als Pflegerin in einem Seniorenheim. Sie lernt fleißig tschechisch, um hierzulande ihr Diplom nostrifizieren zu können.“

„Kupjansk ist eine kleine Stadt, sie wird aber ständig bombardiert. Es ist aktuell sehr gefährlich, dort zu wohnen.“

Ihre Familie kann Liza oft besuchen, denn Sedlčany ist nicht weit von Prag entfernt. In der Ukraine leben jedoch weitere ihrer Verwandten. Den Medien zufolge wurde ein Drittel von Lizas Heimatstadt Kupjansk inzwischen von russischen Bomben zerstört. Liza ist vor allem mit ihren Cousinen telefonisch in Kontakt:

„Ich frage sie immer, wie es dort aussieht. Kupjansk ist eine kleine Stadt, sie wird aber ständig bombardiert. Es ist aktuell sehr gefährlich, dort zu wohnen. Ein Teil der Bewohner verließ die Stadt inzwischen und zog zu Bekannten, die anderswo in der Ukraine leben. Mit meinen Verwandten kann ich leider nicht immer telefonieren, denn der Strom fällt ständig aus und sie haben keine Möglichkeit, das Handy zu laden. Es ist zudem kaum mehr möglich, in der Stadt etwas einzukaufen. Die Freiwilligen bringen den Bewohnern von Kupjansk manchmal Lebensmittel. Sie reisen aber nicht regelmäßig dorthin, denn das ist sehr gefährlich. Diejenigen, die in der Stadt geblieben sind, leben oft von dem, was sie in ihrem Garten anbauen.“

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Liza spricht schon gut Tschechisch, und das hilft offensichtlich dabei, Kontakte anzuknüpfen:

„Ich habe hier tschechische Freunde, die mich unterstützen. Einige leben in Sedlčany. In die Ukraine möchte ich auf jeden Fall zurückkehren.“

Hoffentlich wird sie dort schon bald weiter an ihrem heimlichen Traum arbeiten können, nämlich Illustratorin zu werden.

Liza Goncharenko und Anastasia Lisnycha | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International
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