Schlacht um Sokolowo – tschechoslowakischer Weltkriegs-Mythos
Auch tschechoslowakische Soldaten haben am Zweiten Weltkrieg teilgenommen. Die ersten Einheiten des von den Nazis besetzten Landes entstanden in Frankreich. Sie nahmen am Krieg allerdings in gemischten Verbänden mit Soldaten anderer Länder teil. Deswegen kommt es erst im Osten Europas zum Einsatz einer eigenständigen tschechoslowakischen Truppe. Vor ziemlich genau 70 Jahren zog sie in die Schlacht um das ukrainische Dorf Sokolowo.
„Plötzlich fuhren in den Nachmittagsstunden sechs oder sieben deutsche Panzer auf die Kompanie von Otakar Jaroš zu. So etwas hatte ich noch nie im Leben gesehen. Ich war erschrocken und schaute, was die machen. Und auf einmal: ein Schuss. Mein Gott, das flog über uns hinweg und hinter uns: bumm. Der zweite Schuss und wieder: bumm. Jetzt ist alles zu Ende, alles zu Ende…“
So erinnerte sich vor einiger Zeit einer der 900 Soldaten aus der Tschechoslowakei, die an der Schlacht um den ukrainischen Ort teilnahmen.
Aber der Reihe nach: Am 15. März 1939 marschiert die Wehrmacht in Prag ein. Sie besetzt den Rest des tschechoslowakischen Staates, also Böhmen, Mähren und den südöstlichen Zipfel Schlesiens. Otakar Jaroš stammt aus dem nordböhmischen Louny / Laun, ist Offizier von Beruf und ein überzeugter Verfechter der Staatsidee von Tomáš G. Masaryk. Er will sein Land gegen die Deutschen verteidigen – muss aber wie weitere tschechoslowakische Militärs über die Grenze in das noch freie Polen fliehen. In der Nähe von Krakau beginnt der Aufbau einer eigenständigen Einheit. Die Führung hat Ludvík Svoboda inne, der spätere kommunistische Staatspräsident. Einen Monat später überfällt Hitler Polen - der Zweite Weltkrieg beginnt. Der Publizist Jaromír Tlustý hat sich intensiv mit der Biographie von Otakar Jaroš beschäftigt:
„Nach dem 1. September stellen die tschechoslowakischen Militärs fest, dass sie fliehen müssen. Sie entscheiden, weiter nach Osten zu gehen, in Richtung UdSSR. Sie wollen sich wohl eben gerade im Osten ins Geschehen einmischen, in der Sowjetunion.“
Doch die Sowjetunion steht unter der Knute von Diktator Stalin und der hat mit Hitler einen Nichtangriffspakt geschlossen. Die tschechoslowakischen Armeeangehörigen kommen daher zunächst in den Gulag.Die Lage ändert sich erst im Juni 1941, als Hitler auch die Sowjetunion überfällt. Einen Monat später unterzeichnet die tschechoslowakische Exilregierung unter Edvard Beneš einen Vertrag mit Moskau. Man einigt sich, wieder diplomatische Beziehungen aufzunehmen und sich gegenseitig zu helfen gegen Nazi-Deutschland. Otakar Jaroš gehört zu den knapp 100 Offizieren und Unteroffizieren, die nun auch offiziell eine eigene tschechoslowakische Truppe aufbauen. Er befehligt die erste der insgesamt drei tschechoslowakischen Kompanien. Währenddessen versuchen kommunistische Funktionäre, die Soldaten zu indoktrinieren – gegen den Willen von Jaroš, wie der Publizist Jaromír Tlustý erläutert:
„Er war für eine unpolitische Armee, so wie er sie aus der Zwischenkriegszeit in der Tschechoslowakei her kannte. Das heißt, er wollte eine Armee, die nur auf Befehle handelt, aber ohne jegliche politischen Einflüsse. Deswegen kam Otakar Jaroš auf eine Liste von Offizieren, die der damalige tschechoslowakische Gesandte im Frühjahr 1942 aus der Sowjetunion ausweisen lassen wollte, weil sie die politische Einflussnahme ablehnten. Zu der Zeit waren nur Vertreter der Kommunisten zugelassen. Der spätere erste kommunistische Staatspräsident Klement Gottwald besuchte die Truppe. Und Jaroš gehörte zu den Offizieren, die dies ablehnten.“Aus den sowjetischen Lagern werden nicht nur Tschechen und Slowaken rekrutiert, sondern auch Ruthenen. Viele in der Truppe sind jüdischer Herkunft, einige sind auch deutsche und ungarische Antifaschisten. Es sind zudem Frauen darunter. Das wichtigste Ausbildungslager befindet sich in der Stadt Busuluk am Fluss Samara im Südosten Russlands. Dort ist auch die damals 20-jährige Marie Kvapilová zusammen mit Mutter und Schwester:
„Wir sind im Juli 1942 nach Busuluk gekommen. Das war schon etwas fröhlicher, die Kasernen waren sauber, voller Soldaten. Die jungen Männer waren guter Laune, weil sie nun richtig ausgebildet wurden. Es waren tschechische Soldaten, die nach der Besetzung über die Grenze geflohen waren, weil sie kämpfen wollten. Man sang und ging jeden Tag zu den Übungen. Das waren zum einen Übungen am Gewehr, zum anderen sind wir ins Krankenhaus gegangen, wo uns das Ärztepaar Engel unterrichtete, wie man Verbände anlegt und was wir bei Brüchen und Wunden tun sollen. Es war eben eine Sanitätsausbildung.“Im Januar 1943 fällt dann die Entscheidung: Die mittlerweile rund 900 Männer und Frauen der tschechischen Truppe sollen an die Front. Kurz darauf siegt die Rote Armee in der Schlacht um Stalingrad und drängt die Wehrmacht bis vor Charkow zurück. Vor der zweitgrößten ukrainischen Stadt sollen die Soldaten aus der Tschechoslowakei die Linie verteidigen. Doch der Schienenstrang reicht nur noch bis zum Ort Walujka.
„Auf die Soldaten wartete nun ein langer Fußmarsch von 350 Kilometern nach Charkow. Jeden Tag wurden 16 Stunden gegangen, das dauerte zwölf Tage lang und war sehr anstrengend, weil man nicht am Tag marschieren konnte. Tagsüber drohten Fliegerangriffe der Deutschen“, so Tlustý.In Charkow ist eigentlich eine Erholungspause vorgesehen, doch die deutschen Einheiten haben bereits den Gegenangriff gestartet. Die tschechoslowakische Einheit soll nun südwestlich von Charkow den Feind davon abhalten, über den zugefrorenen Fluss Mius zu kommen. Rund 350 Soldaten nehmen ihre Stellung auch direkt im Ort Sokolowo jenseits des Flusses ein. František Němec ist damals Feldwebel:
„Die Hauptschlacht um Sokolowo begann am 8. März gegen 13 Uhr, als die Deutschen gerade den Bereich des dritten Zugs der ersten Kompanie attackierten, den ich befehligt habe. Rund 20 Panzer kamen auf uns zu und einige Selbstfahrlafetten. Mithilfe von sowjetischen Panzerabwehrkanonen und vor allem Katjuschas konnten wir die ersten beiden deutschen Angriffe stoppen. Leider haben die Deutschen dann wieder angegriffen und konnten einen Keil schlagen zwischen den zweiten und dritten Zug der ersten Kompanie. Und unsere Einheit hatte bereits hohe Verluste.“ Die deutschen Panzer können bis in den Ort vordringen. Auf dem Kirchturm hat Kompanieleiter Otakar Jaroš seinen Beobachtungsplatz eingerichtet. Jaroslav Perný erinnert sich:„Ich hatte einen Schützengraben neben den Treppen zur Kirche. Als es dunkel wurde, kamen etwa 20 Panzer über den Dorfplatz gefahren. Einer blieb zehn Meter vor der Kirchentür stehen. Otakar Jaroš, der bereits zweimal verletzt war - an der Seite und am Hals - kam aus der Kirche auf die Treppe gelaufen. Panzergranaten, wie wir sie heute kennen, haben wir nicht gehabt, sondern nur so genannte Flaschengranaten. Er hatte sieben am Gürtel und löste zwei bis drei, die er in Richtung des Panzers werfen wollte. Der deutsche Panzer feuerte eine MG-Salve los, Jaroš brach zusammen. Der Panzer drückte aufs Gas, fuhr auf ihn drauf - und die Granaten explodierten.“
Letztlich gelingt es aber, die Deutschen aufzuhalten, wie Publizist Tlustý ergänzt.„Die Tschechoslowaken erfüllten den Befehl, auch wenn ihnen dabei die Natur half. Denn das Eis auf dem Mius taute, damit wurde der Fluss unpassierbar für schwere Militärtechnik. Zwei sowjetische Panzer, die der Kompanie von Jaroš zur Hilfe eilten, waren bereits auf dem Eis eingebrochen. Die Deutschen konnten dort nicht weiter.“
Der Preis für diesen Erfolg ist indes hoch. Über 120 tschechoslowakische Soldaten kommen in der Schlacht um Sokolowo ums Leben, fast 400 werden verletzt. Heutzutage werfen einige Überlebende dem damaligen Oberkommando vor, sie als Versuchskaninchen missbraucht zu haben. Sie seien mit viel zu leichten Geschützen ausgerüstet gewesen, um gegen eine Panzereinheit der Wehrmacht zu kämpfen.Am 13. März wird die tschechoslowakische Einheit aus Sokolowo abgezogen. Militärisch zeigt sich die Schlacht nicht von Bedeutung, denn kurz darauf erobert die Wehrmacht Charkow zurück. Doch es besteht auch eine wichtige politische Dimension. Der Militärhistoriker Tomáš Jakl:
„Die Schlacht ist wichtig für unsere Militärgeschichte, weil es Präsident Edvard Beneš nun gelungen war, auch an der sowjetischen Front eine tschechoslowakische Exilarmee aufzubauen. Das Ziel war dabei, den sowjetischen Ansprüchen zuvorzukommen. Beneš ging davon aus, dass die Rote Armee bis Mitteleuropa kommen werde, und befürchtete, dass die Tschechoslowakei dann in eine Sowjetrepublik umgewandelt würde. Mit einer eigenständigen Armee aber würde sie als eigenständiger, verbündeter Staat anerkannt.“
Tatsache ist, dass Otakar Jaroš schon im April 1943 als erster ausländischer Militärangehöriger zum „Held der Sowjetunion“ ernannt wird – und das, obwohl er nicht einmal ein Kommunist war. Weitere gefallene sowie verwundete Soldaten erhalten militärische Ehren. 40 Jahre später dreht dann Regisseur Otakar Vávra einen Propagandafilm über die Schlacht und verfestigt so den Mythus um den allerersten Einsatz einer eigenständigen tschechoslowakischen Einheit im Zweiten Weltkrieg.