Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz: Länderbericht für Tschechien erschienen
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz wird in der tschechischen Gesellschaft bagatellisiert. So lautet eine der Erkenntnisse – und zugleich eine Mahnung –, die aus dem Länderbericht zum Thema hervorgehen. Dieser wurde gerade vom Prager Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegeben. Er bietet konkrete Fallzahlen und einen internationalen Vergleich.
Fast die Hälfte der Menschen in Tschechien glaubt, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz landesweit ein übliches Phänomen ist. Allerdings schätzen nur 4,3 Prozent der Leute solche Praktiken auch aa der eigenen Arbeitsstätte als üblich ein. Allein an diesen beiden Zahlen zeigt sich, wie stark das Thema in Tschechien von vagen Annahmen geprägt wird.
Um belastbare Daten zu liefern, hat das Prager Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung nun den Länderbericht „Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“ (Sexuální obtěžování na pracovišti) präsentiert. Die Wissenschaftliche Mitarbeiterin Kateřina Smejkalová ordnet die Studie ein:
„Das Projekt hat in mehreren Ländern Mittel- und Südosteuropas stattgefunden, koordiniert von dem Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kroatien. Entsprechend gibt es dann auch mehrere Nationalberichte. Sie wurden nach einer gemeinsamen Methodik angefertigt, sodass die Ergebnisse auch eine Vergleichbarkeit haben. Die Berichte sind nicht durch Zufall in der letzten Novemberwoche erschienen – wir haben uns orientiert am Internationalen Tag des Kampfes gegen Gewalt an Frauen, der am 25. November gewürdigt wird. Im Anschluss an die nun veröffentlichten Länderstudien wird es auch einen Bericht auf Englisch geben, der das Ganze zusammenbringt und die Ergebnisse vergleicht.“
Autorin des Länderberichts für Tschechien ist die Soziologin Renata Kyzlinková vom Forschungsinstitut für Arbeit und Soziales (rilsa). Bei der Präsentation des Heftes machte sie darauf aufmerksam, dass es hierzulande zwar Daten zu sexueller Belästigung oder auch zu sexualisierter Gewalt allgemein gebe, und dies vor allem dank den Erhebungen der NGO ProFem. Aber bezüglich solcher Vorfälle speziell am Arbeitsplatz stammten die letzten Statistiken aus dem Jahr 2004.
Darum ist ein entsprechender Online-Fragebogen, dessen Beantwortung etwa 30 Minuten in Anspruch nahm, weitläufig verbreitet worden. 956 Personen hätten ihn ausgefüllt, so Kyzlinková. Weil die allermeisten der Teilnehmenden angaben, im öffentlichen Sektor tätig zu sein, handle es sich jedoch lediglich um eine quasi-repräsentative Stichprobe. Deren nachträgliche Gewichtung nach Alter und Geschlecht entspreche letztlich aber der soziodemografischen Struktur der öffentlich Beschäftigten in Tschechien, versichert die Wissenschaftlerin:
„Ich kann also nur für den öffentlichen Sektor sprechen. Da hat sich gezeigt, dass 20 Prozent der Angestellten an ihrem derzeitigen Arbeitsplatz persönlich sexuelle Belästigung erfahren haben. Diesen Begriff haben wir dabei recht breit gefasst und zählen auch kontaktlose und weniger ernste Formen dazu. Sexuelle Belästigung erleben zudem deutlich mehr Frauen als Männer.“
Außerdem zeigen die Grafiken des Berichts, dass die meisten Fälle in der Altersgruppe 18 bis 39 Jahre verzeichnet werden. Insgesamt sprechen über 24 Prozent der jüngeren Befragten von entsprechenden Erfahrungen. Und bei Männern als Opfer von Übergriffen ist ein weiterer häufiger Auslöser demnach ihre sexuelle Orientierung.
Mehr Fälle oder höheres Problembewusstsein?
Über den Projektrahmen hinaus, der außer Tschechien auch die Slowakei, Kroatien, Griechenland, Bulgarien und Ungarn umfasst, bietet der Bericht einen gesamteuropäischen Vergleich an. Auf die Frage, ob eine Person im vergangenen Monat auf ihrer Arbeit ungewollte sexuelle Aufmerksamkeit erlebt habe, antworten in Tschechien 1,8 Prozent mit Ja. In der Slowakei sind es etwa gleich viele, in Deutschland schon 2,3 Prozent, und Schweden zum Beispiel liegt kurz vor der Dreiprozentmarke. Dem gehen noch Finnland und Dänemark voran, und am häufigsten bestätigten die Menschen in Norwegen diese Frage. Dort liegt der Wert bei über fünf Prozent.
Ein Spitzenplatz in dieser Liste müsse nicht unbedingt bedeuten, dass es in den jeweiligen Ländern tatsächlich mehr sexuelle Übergriffe gebe, kommentiert Kyzlinková. Vielmehr herrsche gerade in den skandinavischen Staaten wahrscheinlich ein größeres Problembewusstsein. Dahingehend gebe es in der tschechischen Gesellschaft jedoch noch große Lücken, sagt die Soziologin. Und auch Smejkalová hebt diese Erkenntnis hervor:
„Interessant ist auch, wie vielen Leuten tatsächlich erst im Nachhinein bewusst wird, dass das Verhalten, das stattgefunden hat, nicht in Ordnung ist. Das mag mit den Debatten zusammenhängen, die wir in den letzten Jahren in Tschechien doch auch zum Thema MeToo und ähnliches erlebt haben. Aber wahrscheinlich ist es ein allgemeines Phänomen, dass man bestimmte Interpretationen einer Situation zunächst gar nicht zulässt, wenn man sich in der Lage befindet. Erst später erlaubt man sich, auf diese Art und Weise nachzudenken.“
Dies hätten die persönlichen Gespräche bestätigt, die im Rahmen der Untersuchung zusätzlich mit acht Teilnehmenden stattgefunden haben, berichtet Autorin Kyzlinková:
„Die Unsicherheit bei den Menschen, denen etwas wirklich Unangebrachtes passiert ist, das wiederum große Auswirkungen auf ihr Leben und die Karriere haben kann, ist relativ hoch. Immer noch ist die tschechische Bevölkerung nicht in der Lage zu definieren, was sexuelle Belästigung eigentlich bedeutet.“
Somit ist die häufigste Reaktion eines Opfers hierzulande auch Schweigen. Laut Bericht hat ein Drittel der betroffenen Befragten in keiner Weise auf den Vorfall reagiert oder sich an irgendjemanden gewandt. Aber es gibt auch noch eine andere Zahl: 18,1 Prozent der Opfer haben den Täter direkt auf sein Verhalten angesprochen. Davon sei sie positiv überrascht, sagt Kateřina Smejkalová:
„Da hätte ich weniger erwartet, weil die direkte Konfrontation aus meiner Sicht das Schwierigste überhaupt ist. Den Weg gehen aber offenbar viele, und er lohnt sich auch. Denn viele Angesprochene haben dann mit dem Verhalten aufgehört. Das kann davon zeugen, dass auch auf ihrer Seite kein Bewusstsein dafür da ist, wie verletzend so etwas sein kann. Offenbar meinen viele noch, das wäre einfach ein Witz oder eine Aufmerksamkeit, die auf der anderen Seite begrüßt wird. Wenn man dann aber damit konfrontiert wird, kommt es in vielen Fällen eben dazu, dass das Verhalten eingestellt wird.“
Für zahlreiche andere Betroffene, die sich mit ihrem Erlebten ihrem näheren Umfeld oder auch ihrem Arbeitgeber anvertrauen, gehe der Fall hingegen unbefriedigend aus, schildert Soziologin Kyzlinková:
„Sofern sich die Opfer von sexueller Belästigung bemüht haben, diese auf irgendeine Weise aufzuarbeiten, kam es bei einem Viertel dieser Menschen zu keinerlei Veränderung. Sie stießen auf verschlossene Türen und andere Barrieren, die keine erfolgreiche Lösung ermöglichten. Das heißt, dass in Tschechien auf allen institutionellen und gesellschaftlichen Ebenen jetzt eine Kultur der Offenheit und der Rückmeldung gefördert werden muss. Die Opfer dürfen keine Angst davor haben, über dieses Problem zu sprechen. Wenn jemand darüber zu berichten beginnt, muss er auch das Vertrauen in die Institutionen haben können, dass sie ihm zuhören werden.“
Speak-up-Kultur födern
Diese Forderung nach einer Speak-up-Kultur, in der die Gesellschaft sich den Vorfällen sexueller Belästigung nicht verschließt, sondern sie thematisiert, ist in dem Länderbericht für Tschechien als Empfehlung für die Öffentlichkeit enthalten. Das Prager Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung wolle auch selbst in diese Richtung aktiv werden, versichert Kateřina Smejkalová:
„Für uns wird nun im Fokus stehen, welche konkreten Maßnahmen man in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften ergreifen kann. Dabei wollen wir Lösungen suchen, wenn das Phänomen auftritt, aber auch wie man ihm vorbeugen kann. Bei der Präsentation des Berichts wurde deutlich, dass insbesondere bei den Arbeitnehmerverbänden wirklich sehr viel Luft nach oben ist. Man muss bedenken, dass die Gewerkschaften am Arbeitsplatz theoretisch die Ansprechpartner sein sollten, wenn Unrecht passiert. Wir haben aber gesehen, dass die allerwenigsten Menschen daran denken, sich an die Gewerkschaften zu wenden, wenn sie Opfer von sexueller Belästigung werden.“
Um dies zu ändern, sollen Leitfäden und Trainings entwickelt werden, damit die Verbände für die Bekämpfung von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz besser aufgestellt würden, ergänzt Smejkalová. Und nicht nur mit Blick auf die Gewerkschaften, sondern auf alle öffentlichen Akteure würde allein schon eine offenere Kommunikation über das Thema helfen, meint Renata Kyzlinková:
„Wenn die Opfer nicht über die Taten sprechen, beginnt sich damit eine Spirale der Normalisierung und der Bagatellisierung dieser Erscheinungen zu drehen. Gibt es keine Strafverfolgung, nimmt jeder dieses Verhalten als normal hin. Und dann ist klar, dass sich dies auf die Wertevorstellungen auswirkt und Einzug in die Normen der Gesellschaft hält.“
Es gebe allerdings bereits Initiativen in Tschechien, die die Aufarbeitung und Prävention von sexueller Belästigung ermöglichten, fügt die Soziologin hinzu:
ZUM THEMA
„In den vergangenen Jahren ist auch schon viel Positives geschehen. Wir wollen ja nicht nur das Negative aufführen. Ganz toll arbeiten etwa NGOs, die Opfern von sexueller Gewalt oder Belästigung helfen. Ich denke, die Sensibilität der Gesellschaft nimmt in dieser Richtung auf jeden Fall zu. Aber sie reicht eben noch nicht aus.“
Und das gelte ebenso für die Arbeitgeber, mahnt Kyzlinková. Einige große Unternehmen hätten zwar interne Leitlinien und auch die personellen Kapazitäten, sich mit dem Problem von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz auseinanderzusetzen. Aber bei den meisten kleineren Firmen und eben staatlichen Einrichtungen sei das Feld noch unbestellt, kritisiert die Autorin des Länderberichts. Und dies sei umso problematischer, weil sexuelle Übergriffe das Opfer auf lange Zeit traumatisieren könnten, betont auch Kateřina Smejkalová:
„Unser Bericht zeigt sehr gut, wie belastend so eine Situation in vielerlei Hinsicht für die Opfer ist. Sie geht oft damit einher, dass der Job aufgegeben werden muss, was natürlich finanzielle Konsequenzen hat. Und finanzielle Konsequenzen hat es auch, wenn man zum Beispiel einen Anwalt anheuern muss, um sich damit auseinanderzusetzen. Oder wenn man anschließend jahrelang zur Therapie gehen muss. Das hat für mich noch einmal deutlich gemacht, wie komplex das alles und wie umfassend belastend eine solche Situation ist. Und das teilweise noch Jahre, nachdem es passiert ist.“
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