Sowjetpanzer stoppten 1968 Aufschwung Neuer Musik

„Mit dem Ende des Prager Frühlings zerbrach nicht nur die Utopie eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz, sondern auch eine beeindruckende Entwicklung der tschechischen Gegenwartmusik.“ Mit diesen Worten leitete der Radiosender ARD eine Ankündigung seines Programms am 23. August dieses Jahres ein, betitelt „Der Prager Frühling und die Neue Musik.“ Vorgestellt wurden Komponisten, die vor 40 Jahren den Anschluß an westliche Avantgarde-Bewegungen suchten. Erinnerungen eines Zeitgenossen an die Periode, als neue Entwicklungen im Musikgeschehen hierzulande erst im Entstehen begriffen waren, bietet wiederum Radio Prag im heutigen Kultursalon an.

Václav Dobiáš  (Foto: ČTK)
„Diese Musik war unerwünscht und stand daher am Pranger. Die Kulturpolitik der 50er Jahre war durch Richtlinien der kommunistischen Staatspartei festgelegt und wurde mithilfe ihrer Machtorgane umgesetzt. Zu diesen gehörte zum Beispiel der damalige Komponistenverband, der von regimetreuen Vertretern dominiert wurde. An seiner Spitze stand der Komponist Václav Dobiáš, Parlamentsabgeordneter und Träger des Stalin-Friedenspreises.“

Trotz der rigiden Kulturpolitik ist es allerdings dem damaligen Regime nicht gelungen, alles unter Kontrolle zu haben. Antonín Matzner spricht von einem Phänomen der Zeit:

„Das war ein Phänomen der zweiten Hälfte der 50er und dann in den 60er Jahren, als sich ein Teil des Kulturlebens auf Basis von privaten Begegnungen abspielte. Zu den renommiertesten Prager Treffpunkten gehörte das Atelier des bekannten Malers Mikuláš Medek. Im August 1963 fand eine Ausstellung im Heimatkundemuseum in Teplice statt, in der Medeks Gemälde und Holzplastiken von dem Bildhauer Jan Koblasa zu sehen waren. Koblasa, der eine führende Persönlichkeit der tschechischen nonkonformistischen Kunst der sechziger Jahre war, lebt seit 1969 in Deutschland. Das war damals ein Ereignis, über welches in der Prager Kulturszene sehr viel diskutiert wurde. Viele kamen eben in den Künstlersalon bei den Medeks. Zu Gast war dort auch Luigi Nono, wenn er in Prag weilte. Bei einem Konzert, das im Juni 1963 zum Todestag des tschechichen Komponisten der Neuen Musik, Alois Hába, im Prager Rudolfinum stattfand, habe ich auch Nonos Frau Nuria Schönberg, die Tochter von Arnold Schönberg, kennengelernt.“

Das erwähnte Atelier von Mikuláš Medek war aber keine vereinzelte Insel der inoffiziellen Kultur in Prag. Häufig wurden private Künstlertreffen veranstaltet, bei denen man sich gemeinsam Schallplatten anhörte.Zum Beispiel in der Wohnung des Komponisten Petr Eben:

„Alle brachten Schallplatten mit, die sich jeder in irgendeiner Weise im Rahmen der eigenen Möglichkeiten angeschafft hatte, was in der Regel nicht leicht war. Es war in der Tat ein kunterbuntes Allerlei. Ich kann mich erinnern, dass wir einmal bei Professor Eben, der sehr tief mit der geistlichen Musik verbunden war, auch ein modernes Jazquartett hörten.“

Langsam wuchs hierzulande eine neue Generation herausragender junger Musiker und Komponisten heran, die sich der Neuen Musik verschrieben haben. Paralell dazu gründeten sich in Prag und Brünn Spezialensembles, die sich diesem Genre widmeten. 1962 entstand zum Beispiel die im Ausland hoch geschätzte Musica viva Pragensis. Gleich zu Beginn seiner Existenz spielte das Ensemble unter der Leitung des Komponisten Petr Kotík auch Werke der ersten Generation amerikanischer Minimalisten. Antonín Matzner erinnert sich:

„Die Produktionen der Neuen Musik begannen allmählich an verschiedenen Orten wie kleine lodernde Feuer. Seit Beginn der 60er Jahre wurden die Sonntagsmatinées mit „Komorní Harmonie“ veranstaltet. Das war ein Ensemble junger Musiker, gegründet von dem heute international anerkannten Dirigenten Libor Pešek und seinen Altergenossen. Ich kann mich an die Uraufführung der Komposition ´Erste Invention´ des famosen Jan Klusák erinnern. Das war im März 1962 im Theater Na zábradli / Theater am Geländer, das bereits wie eine bedeutende Kulturzelle funktioneirte. In seinem Ambiente bewegte sich eine ganze Reihe von bildenden Avantgardekünstlern, Jazzmusikern, gespielt wurde Havels Gartenfest, Pantomime usw. Wir waren damals sehr neugierig und wissbegierig, und das hat wiederum zu einer Vernetzung verschiedener Genres zu einer Kunstszene geführt.“

1964 erlebte Prag ein großes musikalisches Ereignis, das von vielen eher als Skandal eingestuft und empfunden wurde. In die tschechische Hauptadt kam John Cage höchstpersönlich. Wie es dazu kam, weiß der Musikpublizist Matzner:

„Das Hauptverdienst muss man der Ehefrau des Malers Jan Kotík und Mutter von Petr Kotík zuschreiben. Sie besuchte damals mit ihrem Mann die Biennale in Venedig, auf der der US-amerikanische Maler Robert Rauschenberg einen Grand Prix errang. Mit Rauschenbergs Werk begann die Popart-Ära. Die Kotíks besprachen mit ihm die Möglichkeit, eine Ausstellung seiner Kunstwerke in Prag zu veranstalten. Rauschenberg informierte sie, dass in derselben Zeit das famose Avandgardeballett-Ensemble „Merce-Cunningham-Dance Company“ eine Europa-Tournee gemeinsam mit John Cage plante.“

Zu dem Konzert kamen etwa 3000 Besucher einschließlich des damaligen kommunistischen Oberbütrgermeisters von Prag, die meisten jedoch ohne zu ahnen, was auf sie zukommt. Da das Tanzensemble mit keinem ständigen Orchester auf der Europa-Tournee war, wurde die Musikbegleitung mit einem Orchester direkt vor Ort im jeweiligen Land vereinbart. In Prag fiel die Wahl auf Kotíks Musica viva Pragensis. Antonín Matzner war bei der Vorstellung:

„Das Konzert fand im rechten Flügel des Industriepalastes auf dem Prager Messegelände statt. Als Zeitzeuge und Konzertbesucher musste ich noch nach vielen Jahren lachen. Es war in den 90ern bei meinem Besuch im Studio von Merce Cunningham in New York. Dort hing im Foyer ein großes Plakat - eine typische tschechoslowakische Grafik der 60er Jahre – und darauf gab es zu lesen: Merce-Cunningham-Company, John Cage und Robert Rauschenberg – ein Ballett a la West Side Story. Man suchte offenbar nach einem Vergleich. Das Musical West Side Story hat hier damals zwar auch niemand gesehen, aber es hat sich herumgesprochen, es sei gerade ein Highlight in Amerika. Die Prager Produktion hatte mit der West Side Story natürlich nichts gemeinsam. Merce Cunningham fand aber den Vergleich lustig und nahm das Plakat in die USA mit.“

Zwei Tage später wurde diese Produktion in der nordmährischen Industriestadt Ostrava präsentiert und anschließend in der polnischen Hauptstadt auf dem rennomierten europäischen Festival “Warschauer Herbst“.

„Der Besuch hatte dauerhafte Konsequenzen für alle Beteiligten. Vor allem für Petr Kotík selbst, für den damit eigentlich seine internationale Karriere begonnen hatte. Sein Ensemble Musica viva Pragensis hat nicht nur die Prager, sondern auch die Warschauer Performance von Cage und Cunningham begleitet. Als Petr Kotík nach der Niederschlagung des Prager Frühlings in die USA emigrierte, blieb er mit Cage bis zu dessen Tod im Jahr 1992 in engem Kontakt.“

Es gab aber auch andere Ensembles, die sich mit ihren Produktionen der tschechischen Neuen Musik über die Landesgrenze hinaus einen Namen machten:

„Diese Musik wurde auch vom Novák-Streichquartett produziert. Die Mitglieder dieses phantastischen Ensembles haben selbst einige auf moderne Musik orientierte junge Komponisten wie zum Beispiel Jan Klusák oder Marek Kopelent aufgefordert, für sie Musik zu komponieren. Diese haben sie dann in Konzerten gespielt und auch in ausländischen Studios eingespielt. Das war sehr wichtig, dass die neue tschechische Musik auf diesem Weg exportiert wurde.“

Gute Kontakte wurden im Laufe der 60er Jahre mit westdeutschen Zentren der Neuen Musik angeknüpft. 1966 reiste Petr Kotík auf Einladung von Karlheinz Stockhausen zum ersten Mal nach Köln, um im WDR-Studio für Elektronische Musik eine seiner Kompositionen zu produzieren. Immerhin, die tschechische Neue Musik habe es nie, wie der Musikpublizist Matzner sagt, auf Rosen gebettet. Im Moment ihres Aufschwungs kamen aber die Sowjetpanzer, die wie viel anderes auch diese Art Musik für lange Zeit begraben haben.