Tschechen im Alter: Leben und Wohnen am Rande der Gesellschaft

Die Zahl der alten Menschen in Tschechien nimmt zu. Ein immer größerer Teil der Gesellschaft ist jenseits des Renteneintritts. Und damit auch oft außen vor. Doch kaum ein Tscheche macht sich Gedanken über das Alter, das Leben, das Wohnen am Lebensabend. Das heutige Forum Gesellschaft wirft einen Blick in diesen Randbereich des tschechischen Alltags. Daniel Satra berichtet.

Alte Menschen, die alltäglich anfallende Aufgaben nicht mehr ohne Hilfe bewältigen können, haben in Tschechien mehrere Möglichkeiten ihr Leben und ihre Wohnsituation zu gestalten. Neben Seniorenheimen gibt es Seniorenwohnungen mit angeschlossenem Pflegedienst. Bei schwerer Krankheit, die eine Vollversorgung erfordert oder ans Bett fesselt, werden alte Menschen häufig in so genannte Heilanstalten für Langzeitpatienten überwiesen. Daneben wächst der Markt von Anbietern, die mit mobiler häuslicher Pflege, Essen auf Rädern oder Notfall-Telefonen tschechischen Rentnern ermöglichen, ihren Lebensabend im vertrauten Umfeld ihrer eigenen vier Wänden zu verbringen.

Die unterschiedlichen Pflegeeinrichtungen oder Betreuungsdienste bitten ihre Klientel auch unterschiedlich zur Kasse. Während die Kosten für einige Einrichtungen zum Teil vollständig von den Krankenkassen gezahlt werden, zahlen bei anderen die Kassen nur einen Anteil. Die Nutzer des Angebots sind dann verpflichtet zuzuzahlen, wie zum Beispiel in Seniorenheimen. Die anfallenden Kosten kann im Einzelfall jedoch eine Reihe von Zuschüssen jeweiliger Städte und Gemeinde drücken, die je nach Pflegeintensität und Einrichtung nach einem individuellen Schlüssel berechnet werden.

Bei einer Durchschnittsrente von etwa 8000 Kronen (das sind rund 250 Euro) - das tschechische Durchschnittsgehalt liegt rund doppelt so hoch - geben pflege- oder hilfsbedürftige Rentner heute in Tschechien etwa ein Drittel ihrer monatlichen Einkünfte für Wohnen und ein weiteres Drittel für Lebensmittel aus. Das verbleibende Drittel stünde zur freien Verfügung, wenn da nicht die Medikamente wären. Jan Lorman, Mitgründer der Bürgerinitiative "Zivot 90/Leben 90", die sich um alte Menschen in Prag kümmert, sieht in den Ausgaben für Medikamente ein zentrales Problem:

"Das ist ein Schlüsselproblem aus der wirtschaftlichen Perspektive der Rentner, weil die Gesundheitsfürsorge insgesamt sehr kostspielig ist. Auch der Teil, den sie selbst bezahlen müssen. Oder sie müssen sich damit zufrieden geben, dass sie qualitativ schlechtere Medikamente bekommen, von heimischen Herstellern, und dies aus dem einfachen Grund, weil die Krankenkassen die teureren Produkte nicht zahlen."

Untersuchungen in der sozialen Gruppe der Alten zeigen, dass tschechische Rentner einerseits den Staat in der Pflicht sehen, sich um sie zu kümmern. Sie fordern soziale Solidarität ein, ohne sich noch im Arbeitsleben selbständig abzusichern. Andererseits sehen sie die Verantwortung auch bei der eigenen Familie, meist den jüngeren Familienmitgliedern. Doch die Unterstützung durch Familienmitglieder wird vom tschechischen Staat bisher nicht gefördert, erklärt Lorman:

"Die monatlichen Pflegekosten in einer Ganztagseinrichtung betragen 12 000 oder 13 000 Kronen (das sind etwa 390 Euro). Aber wenn der alte Mensch zu Hause wohnt und sich ein naher Verwandter um ihn kümmert, bekommt dieser eine weitaus kleinere Aufwandsentschädigung. Und das ist einfach nicht adäquat."

Dazu kommt, dass der tschechische Staat weit mehr für dauerhafte Unterkünfte wie Seniorenheime ausgibt und die mobile Betreuung durch Hausbesuche vernachlässigt, so Lorman. Dabei leben in Tschechien ähnlich wie in Westeuropa 95 Prozent aller Über-60-Jährigen zuhause, nur 5 Prozent in Heimen. Für Lorman tut sich an dieser Stelle eine zentrale Frage auf, die vor allem auf den menschlichen Aspekt, auf den gesellschaftlichen Umgang mit alten Menschen in Tschechien abzielt:

"Wenn wir doch das ganze Leben über selbständig gelebt haben, warum sollten wir dann auf einmal mit 70 Jahren danach streben mit anderen in einer Gemeinschaft zu leben, unter Menschen, die wir noch nie im Leben gesehen haben? Warum sollten wir uns dies auf einmal wünschen? Wir streben nach einer solchen Situation nur aus dem einfachen Grund, weil wir uns fürchten, dass wir bestimmte Alltagssituationen nicht mehr alleine meistern. Es ist also die Angst, die uns in eine Lebensweise hineinführt, auf die wir uns gar nicht vorbereitet haben. So gesehen ist auch die menschliche Seite sehr wichtig."

Ein wichtiges Problem stellt zudem der tschechische Wohnungsmarkt dar. Menschen, die zum Teil Jahrzehnte in einer geräumigen Drei-Zimmer-Wohnung gelebt haben, sehen heute kaum eine Chance eine kleinere, billigere Wohnung für sich zu finden. Der Mangel an Wohnraum wird im Alter zur unüberwindbaren Hürde. Doch die Probleme, die mit dem Altwerden und Altsein zusammenhängen, sind Probleme, die Tschechen gemeinhin nicht interessieren. Für viele kommt das Alter unvorbereitet, nach dem Ausstieg aus dem Beruf die Leere.

"In der tschechischen Gesellschaft ist das Wissen über das Alter und das Bewusstsein darüber, was im Alter auf die Menschen zukommt, sehr gering. Statistiken zufolge bereitet sich nur ein verschwindend kleiner Anteil der Menschen hier auf das Alter vor. Das sehe ich als den grundsätzlichen Fehler. Dieses grundlegende Problem zeigt sich dann auch in politischen Entscheidungen, bis in Gesetzestexte hinein, auf allen Ebenen. Ob es sich nun um drastische Dinge, wie den Missbrauch alter Menschen, oder ihre Diskriminierung handelt, oder ob es sich um allgemeine Dinge handelt, wie den Mangel an Solidarität im Gesundheitssystem. Es gibt also überall Anzeichen dafür, und dies allein aus der Unwissenheit über das Thema Alter. Das ist meiner Meinung nach der allgemeine Trend, gegen den man etwas unternehmen muss."

Und Lorman hat etwas unternommen mit seiner 1990 gegründeten Bürgerinitiative "Leben 90". Seit 1995 ist er Leiter des Seniorenhauses Portus in der Prager Innenstadt. Das Konzept der Einrichtung, die von der Stadt Prag und dem tschechischen Gesundheitsministerium sowie durch eigene Einkünfte finanziert wird, zielt auf alte Menschen, die noch zu Hause wohnen, und dort auch weiterwohnen wollen. Neben medizinischer und rehabilitiver Versorgung bietet das Haus Portus vor allem Gruppenkurse an, die die Gemeinschaft fördern sollen - sei es beim Theaterspiel, beim Töpfern oder bei Wassergymnastik. Neben Beratungen und Fahrdiensten, die Senioren tageweise abholen und allabendlich wieder nach Hause bringen, können Klienten auch in Notfall-Situationen auf Hilfe in der eigenen Wohnung zurückgreifen. Im Krankheitsfall können sie bis zu drei Monaten im Haus unterkommen. Bisher müssen die Angebote von Portus aus eigener Tasche bezahlt werden. Das soll sich im Frühjahr ändern, wenn die Verhandlungen mit den Krankenkassen abgeschlossen sind.

Lormans Bürgerinitiative hat Zuspruch nicht nur bei den Senioren, die hier zusammentreffen. Allein 500 von ihnen nutzen regelmäßig Pragweit die Notfallhilfe zu Hause. Auch offizielle Stellen loben das Modell, wie zum Beispiel Hana Halová von der Stadt Prag:

"Ich bin der Ansicht, dass wir durch unseren EU-Beitritt auch versuchen müssen uns den europäischen Standards anzunähern. Und diese Standards versuchen es allen Senioren zu ermöglichen ihr Alter zu Hause zu verbringen. Daher helfen uns solche Einrichtungen auch die Zahlen der Antragsteller zu senken, die die einzige Möglichkeit ihren Lebensabend zu verbringen in einem Seniorenheim sehen."

Auch Martin Zárský vom tschechischen Ministerium für Arbeit und Soziales sieht mit der Initiative vom "Leben 90" den richtigen Weg eingeschlagen.

"Wir sind der Ansicht, dass die Nichtregierungs-Organisationen auf dem Markt der sozialen Dienstleistungen zu Recht immer mehr Platz einnehmen. Und zwar, weil sie effektiv sind, weil sie ihre Dienstleistungen sehr gut organisieren können und weil sie der Klientel einen auf den Leib geschneiderten Service anbieten."

Maßgeschneiderte Dienstleistungen sind gut, das Engagement von unabhängigen Initiativen auch. Eine große Lücke jedoch bleibt: Der öffentliche Diskurs, das politische Gespräch. Die tschechische Gesellschaft will sich auf ihre alten Tage noch nicht so recht vorbereiten. Sie Stimmung im Land ist jung, der Arbeitnehmer ein moderner. Flexibel, jederzeit erreichbar, mit beiden Beinen voll im Leben. Wozu auch ans Altern denken, mag man böse fragen, denn: Die Wartelisten für einen Seniorenheimplatz sind lang. Manche warten bis an ihr Lebensende.