In Tschechien fehlen "aktive Bürger"

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Was ist die politische Kultur? Welche Unterschiede gibt es diesbezüglich zwischen Tschechien und Deutschland? Welche Lösungsansätze gibt es für die jetzigen Probleme in der politischen Gesellschaft? Mit diesen und anderen Fragen haben sich die Teilnehmer der Konferenz "Politische Kultur in Tschechien und in Deutschland" in Prag im vergangenen Jahr beschäftigt. Junge Wissenschaftler von beiden Seiten der Grenze sind diesen Fragen nachgegangen und haben nun ihre Ergebnisse in einem Sammelband veröffentlicht. Bára Procházková hat für die heutige Ausgabe der Rubrik Begegnungen in dem Buch "Politische Kultur. Tschechien-Deutschland" geblättert und mit den Autoren gesprochen.

Jede Nation und jede Gesellschaft - auch die primitivste - hat eine politische Kultur, sagt Vladimira Dvorakova, Professorin für Politikwissenschaft an der Hochschule für Wirtschaft in Prag. Denn die politische Kultur sei eine Zusammenfassung aus dem Wertesystem, Kenntnissystem und dem emotionalem System der jeweiligen Gemeinschaft:

"Ich denke, dass jede Gemeinschaft eine politische Kultur hat. Ich nenne zum Beispiel die Stämme in Afrika, sie haben auch eine politische Kultur. Es gibt keine niedrige und keine höhere politische Kultur, sie entspricht ihren Bedürfnissen und beinhaltet gewisse politische Werte. Des Weiteren setzt sie sich aus Kenntnissen und Fähigkeiten zusammen, die bestimmen, wie man sich in dem System bewegen soll. Schließlich versichert sie ein Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft."

Dvorakova sieht eine klare Wechselwirkung zwischen der Gesellschaft und deren politischer Kultur. Jede Gesellschaft beeinflusst mit ihrer eigenen politischen Kultur die Politik, die Art der Entscheidungen sowie die Art der Kommunikation. Die politische Kommunikation und das politische Handeln haben wiederum eine Rückwirkung auf die politische Kultur. Es entsteht also ein Kreis. Dvorakova bringt ein konkretes Beispiel: Wenn die Bevölkerung eine schlechte Erfahrung mit der Politik macht, zieht das einen negativen Einfluss auf die Gesellschaft nach sich.

Nimmt man zehn Wissenschaftler, bekommt man mindestens elf Definitionen des Begriffes politische Kultur. Dies beweist auch die Publikation "Politische Kultur", die mit der Unterstützung von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Prag herausgegeben wurde. Der Leiter des Prager Büros der Stiftung, Stefan Gehrold, definiert die politische Kultur aus seiner praktischen Arbeit mit tschechischen Politikern wie folgt:

Wissenschaftlich gesehen oder aus dem politischen Leben aufgegriffen, die Autoren sind sich einig, dass es noch gewisse Unterschiede in der politischen Kultur zwischen Tschechien und Deutschland gibt. Petra Rakusanova von dem Soziologischen Institut in Prag hat eine empirische Studie durchgeführt, in dem sie das Verständnis der Demokratie bei Tschechen und bei Deutschen untersucht hat. Das Ergebnis: Tschechen verstehen Demokratie anders als Deutsche.

"Während die Leute in der Tschechischen Republik die Demokratie am meisten mit Freiheit verbinden, gibt es in Deutschland, und vor allem in den alten Bundesländern, einen bedeutenden Einfluss des Sozialstaates. Demokratie in Deutschland wird also vor allem als Partizipation und als wirtschaftliche Sicherheit wahrgenommen."

Rakusanova erklärt dies mit einer anderen politischen Erfahrung der beiden Nationen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert. Eine demokratische Erfahrung ist ein langfristiger Prozess, so Rakusanova. Bei der Bildung der politischen Kultur spielen die politischen Eliten eine bedeutende Rolle. Tschechische Politiker müssen jedoch noch viel lernen, so Rakusanova weiter:

"Die politische Diskussion in Tschechien würde ich zum Teil als nicht kultiviert beschreiben. Es ist eher eine Diskussion, die aus der Vergangenheit schöpft. Und zwar darin, dass die Menschen nicht fähig sind, miteinander zu sprechen. Politische Debatten in Tschechien sind manchmal eine Serie von Monologen, bei denen die Leute nicht fähig sind, ihren Gesprächspartnern zu zuhören. Die Diskussionskultur in Tschechien ist also nicht besonders hoch."

Auch Stefan Gehrold von der Konrad-Adenauer-Stiftung, der selbst seit anderthalb Jahren in Prag arbeitet, sieht Unterschiede zwischen Tschechien und Deutschland im allgemeinen Verständnis von Politik:

"Politik selbst wird möglicherweise in der Gesamtheit noch skeptischer betrachtet, als es in den westlichen Demokratien der Fall ist. Man traut der Politik nicht, man hat Scheu vor ihr und es gibt zu geringe Mitgliederzahlen in den politischen Parteien. Ich glaube da gibt es einen wesentlichen Unterschied. Man betrachtet Politik, zumindest in großen Teilen der Gesellschaft, in der groben Tendenz als ein 'schmutziges Geschäft'. Und wahrscheinlich ist es prozentual mehr, als es in den westlichen Demokratien der Fall ist."

Gehrold sieht eine Lösung ist die Stärkung der politischen Parteien, und gerade mit diesem Engagement versucht die Stiftung die politische Kultur in Tschechien zu stabilisieren.

"Das Ziel ist es, die politischen Parteien als Teil der repräsentativen Demokratie stärker zu machen. Und dazu gehört eben auch, dass die Mitgliederzahlen steigen. An dieser Stelle können wir nur Hinweise geben, wie es gelungen ist, in anderen Ländern die Mitgliederzahlen zu erhöhen."

Die Frage bleibt, ob die tschechische Gesellschaft von der deutschen tatsächlich etwas lernen kann, oder ob sie ihren Weg alleine finden muss. Die Soziologin Rakusanova ist davon überzeugt, dass Deutschland ein Vorbild für den tschechischen Weg sein könnte:

"Und zwar ganz konkret in der Erziehung zum politischen Leben. Zum Beispiel wäre der Stellenwert der Schule in der demokratischen Erziehung etwas, was die Tschechen von Deutschland lernen könnten. Gerade das wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland wiederhergestellt. Die demokratische politische Kultur, die es heutzutage in Deutschland gibt, ist nicht einfach so aufgetaucht, sondern wurde dort gezielt nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut."

Der Initiator des Projektes und Universitätsprofessor, Emil Voracek, bedauert an dieser Stelle, dass das tschechische Hochschulwesen den Nachwuchsakademikern wenig zum Thema politische Kultur bietet. An den Fakultäten der Karluniversität ist das Fach politische Kultur kein akkreditiertes Fach, so Voracek. Er hat das Buch in Zusammenarbeit mit seiner deutschen Kollegin, Eugenie Trützschler von Falkenstein, herausgegeben. Trützschler rät diesbezüglich zur Geduld:

"Ich denke schon, dass die politische Kultur in Tschechien natürlich ihre Probleme hat. Es gibt dort auch viele Probleme angesichts der Tatsache, dass in den letzten zwei beziehungsweise drei Generationen die Menschen nicht über eine längere Zeit in einer Demokratie gelebt haben. Das ist dann klar, dass die politische Kultur hier nicht so entwickelt ist, wie zum Beispiel in Großbritannien. Demokratie kann man nicht von einem Tag zum anderen lernen, dass ist ein Lernprozess, den man nicht aufoktroyieren kann."

Die Wissenschaftler aus beiden Ländern nennen mehrere Faktoren, die die politische Kultur bestimmen und ihre Entwicklung beeinflussen. Sie lehnen sich diesbezüglich an die Theoretiker Gabriel Almond und Sidney Verba an, die als Schwerpunkt die bürgerliche politische Kultur untersuchten und feststellten, dass die Partizipation der Bürger das Wichtigste für die Gesellschaft ist. Eine demokratische politische Kultur braucht also engagierte Bürger, die bereit sind, an der Politik aktiv teilzunehmen. Damit ist vor allem ein gewisses Interesse der Menschen gemeint. Diese "aktiven Bürger" fehlen nach wie vor in der Tschechischen Republik, meint Voracek:

"Die demokratische Gesellschaft ist nicht nur eine Summe der einzelnen Personen - wir Tschechen etwa sind 10 Millionen - sondern vor allem ist sie eine Summe aller Aktivitäten. Das ist die Teilnahme an den Wahlen ebenso wie ein Engagement in den Nichtregierungsorganisationen auf der lokalen Ebene. Dabei geht es aber nicht nur um die Vereine, die einen persönlichen Nutzen für die Personen bringen, also zum Beispiel der Jägerverein, sondern vor allem um die gemeinnützigen Organisationen, die Hilfe für andere bieten, wie zum Beispiel Hilfe für Behinderte. Im Vergleich mit der demokratischen Welt haben wir hier viel nachzuholen."